Der Versuch eines Ausbruchs
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Der Versuch eines Ausbruchs Wie ein Schweizer illegal den Everest bezwingen wollte

1962 schliesst sich der 24-jährige Hans-Peter Duttle in Zermatt drei verwegenen Amerikanern an. Ihr Ziel: der Mount Everest – mit minimalen Mitteln und ohne Bewilligung durch chinesisches Territorium. Aufbruch: «Morgen». Die vier überleben nur mit Glück – und bezahlen ihre Waghalsigkeit mit gesellschaftlicher Ächtung. Die Expedition wird totgeschwiegen. 52 Jahre danach hat Hans-Peter Duttle für «Die Alpen» sein Archiv noch einmal geöffnet.

Es war Zufall, und ich hatte das bürgerliche Leben satt. Verunsichert, orientierungslos, ja verzweifelt war ich 1962 auf der Suche nach einem übergeordneten Sinn in meinem Leben. Als gescheiterter Student reiste ich 1962 nach Zermatt. Einmal mehr in den Bergen auf der Suche nach Klarheit und innerer Ruhe. Ich war kein schlechter Alpinist – schwierige Klettereien und Viertausender hatte ich gut bewältigt. Aber ich hatte eine gewaltige Sehnsucht in mir.

Es war der Anfang einer Unternehmung, die mein Leben verändern sollte. Es war Zufall: In der Jugendherberge traf ich die drei amerikanischen Bergsteiger Woodrow Wilson Sayre, Norman Hansen und Roger Hart. Sie waren auf der Suche nach einem vierten Mann, um ein waghalsiges Projekt in die Tat umzusetzen. Ihre Vision: illegal von der tibetischen Seite her auf den Mount Everest. Ja oder nein: Ich musste mich sofort entscheiden. Expeditionsstart: am nächsten Tag.

Ein Gang ins Leere

Ich hatte nichts zu verlieren. Die Chance, endlich fort zu kommen und eine Veränderung in meinem Leben zu erzwingen, machte mir den Entscheid leicht. Ich war bereit, mit den drei verrückten Amerikanern eine letzte Chance zu nutzen und meinen Weg zu finden – auf Teufel komm raus. Ein letzter Ausbruchsversuch. Waghalsig zwar – aber faszinierend wie sonst nichts in meinem damaligen Leben. Nichts in der Schweiz hielt mich zurück. Ich hatte keine andere Wahl. Wir waren uns alle auf Anhieb einig, dass ich mitmache. Tags darauf fuhren die anderen bereits ab.

Ein Gang ins Leere, ohne Vorkenntnisse und Bewilligungen. Meine Vorbereitungen waren rudimentär: Vom Schuldienst abgemeldet, mit Bergschuhen und Pulli im Rucksack flog ich via Indien nach Kathmandu. Die Amerikaner waren bereits gestartet. Zusammen mit zwei Trägern machte ich mich – unbedarft, schlecht ausgerüstet und nur mit einem Touristenvisum – auf den langen und einsamen Weg von Kathmandu ins Khumbu. Mit einem Gewaltmarsch konnte ich die anderen einholen. Wir waren wild entschlossen. Um die Behörden irrezuleiten, besassen meine Partner eine Bewilligung für den Gyachung Kang an der Grenze zu Tibet. Die unmögliche Expedition nahm ihren Lauf. Endlich war ich weg! Offiziell zwar nur für kurz in Nepal, aber entschlossen, die Behörden für einmal zu narren. Ich war ja irgendwie auch noch immer nicht im Leben angekommen.

Manchmal bedrückt und wie in Trance

Unsere Ausrüstung war mehr als spartanisch: zwei Zweierzelte, im Rucksack Windjacken und Berghosen, wasserdichte Militärstiefel, Handschuhe, Trockenproviant und gefriergetrocknetes Fleisch. Seile, Pickel, schwere Luftmatratzen, ungeeignete Schlafsäcke und Gaskocher. Wenn ich heute daran denke, kriege ich eine Gänsehaut. Bis zum Fuss des Nup La hatten wir noch einige Träger. Von dort an waren wir allein. Die Rucksäcke waren viel zu schwer, der Aufstieg äus­serst mühsam. Wir mussten den 1000 Meter hohen Eisfall zum Nup La erkämpfen. Er war unser Einfallstor nach Tibet – der Schlüssel zum «verbotenen Land». Aber die Möglichkeit, am höchsten Berg der Welt vielleicht noch Spuren meiner beiden verschollenen Vorbilder George Mallory und Andrew Irvine zu finden, gab mir ungeahnte Kräfte.

Im klassischen Expeditionsstil kämpften wir uns weiter. Manchmal beglückt durch die euphorisierende Wirkung des Vorwärtskommens am Berg, manchmal bedrückt und wie in Trance, besessen von einem übergeordneten und wohl unmöglichen Ziel. Aber wir wollten unser Projekt zu Ende führen, koste es, was es wolle. Erst nach einer weiteren Woche erreichten wir den Nup La. Dann richteten wir die Hochlager ein, schufteten unser Material von Lager zu Lager und stapften mutterseelenallein über die tibetischen Gletscher und Moränen.

Wir waren uns des Risikos bewusst, und sind es – ohne je darüber zu diskutieren – eingegangen. Immer die Angst im Nacken, von den Chinesen entdeckt zu werden. Die möglichen Folgen waren nicht auszudenken. Wir haben sie erfolgreich verdrängt.

Mit dem Mut der Verzweiflung

Nach etwas mehr als drei Wochen und einem anstrengenden Aufstieg erreichten wir den Nordsattel. Wir waren nun voll akklimatisiert. Aber dann folgte ein erster Rückschlag: Knapp unter dem Nordsattel auf 7000 m stürzten Sayre und Hart beim nächtlichen Materialtransport in die Tiefe. Wir gaben sie auf. Aber wie durch ein Wunder stiessen beide tags darauf wieder zu uns. Sie hatten den Absturz überlebt und die Nacht in einem Biwak in einer Spalte überstanden.

Sayre hatte innere Verletzungen, gebrochene Rippen und eine Gehirnerschütterung. Aber er wollte weitermachen, aufs Ganze gehen. Mit dem Mut der Verzweiflung verdrängten wir die Gedanken ans Aufgeben. Einwände meinerseits und die Idee, notfalls bei den Chinesen Hilfe für den Verletzten zu holen, wurden abgelehnt. Denn nach der Besetzung Tibets durch die Chinesen hätte uns vielleicht ein böses Ende erwartet. Der Entschluss wurde von Neuem bestätigt: «Wir gehen hinauf – Punkt.» Und damit haben wir das Schicksal erneut herausgefordert.

Nur ein paar Tage später der zweite Unfall: Sayre stürzte noch einmal. Er rutschte auf rund 7700 m die vereiste Felswand hinunter – direkt am Zelt vorbei. Irgendwie gelang es ihm auf wundersame Weise, den Sturz zu stoppen. Mit unserer kleinen Taschenapotheke versorgten wir Sayre so gut es eben ging. Doch seine Schürfwunden begannen schnell zu eitern. Uns wurde klar, dass das Projekt damit gescheitert war. Wir hatten keine Wahl mehr. Wir mussten zurück. Zurück auf den Nup La und über die Grenze hinunter nach Nepal. Zusammen mit unserem verletzten Bergkameraden, der trotz Halluzinationen und Infektionen zwar noch langsam gehen, aber nichts tragen konnte.

Rückkehrer aus dem Land der Geister

Ich liess meine Ausrüstung zurück und trug seinen Rucksack. Ein Entscheid, der mich noch einmal nah an den Abgrund führte. Kalte Nächte ohne Schlafsack und Matte – auf dem blanken Eis. Ich erinnere mich nicht gerne daran. Der Rückmarsch wurde zu einer endlosen Quälerei. Am Schluss hatten wir kein Seil mehr – nur noch einen einzigen Pickel. Und das Essen wurde knapp. Wir waren kurz vor dem Ende.Sayre wurde immer schwächer, und einsetzender Schneefall forderte von uns das Letzte. In grosser Not erreichten wir schliesslich auf nepalesischem Boden besiedeltes Gebiet. Dort wurden wir von Sherpas und Mönchen wie Rückkehrer aus dem Land der Geister empfangen und aufgepäppelt. Einige Tage später wurden die drei Amerikaner per Helikopter ausgeflogen und nach Amerika evakuiert. Die Rettung machte weltweit Schlagzeilen, auch in Nepal. Ich blieb allein zurück.

Der Preis war hoch

Nach einem langen Rückmarsch wurde ich in Kathmandu aufgefordert, mich bei den Behörden zu melden – und sofort des Landes verwiesen. Mit einem Frachtschiff bin ich schliesslich nach Europa zurückgeschippert. Ohne wirklich Lust auf meine Heimat zu haben. Noch immer hatte ich keinen Boden unter den Füssen. Ich wusste nicht, wer ich war und was ich wollte - verwirrt und verirrt.

Der Preis war hoch. Zu Hause wurde ich alles andere als freundlich empfangen. Es wurde noch kühler um mich. In Bergsteigerkreisen wurde ich kritisiert, ausgegrenzt und gemieden. Freundschaften zerbrachen. Ich konnte auf kein Verständnis mehr hoffen. Meine Mutter war damals mein einziger Halt. Über unsere Expedition sprach man bald nicht mehr. Ich galt als Nestbeschmutzer. Wir durften auf keinerlei Interesse hoffen. Auch der SAC, bei dem ich Mitglied bin, sparte in einem Bericht nicht mit vernichtender Ablehnung. Eine harte Erfahrung mehr.

Vorbei, bevor es richtig begonnen hatte

Noch heute spüre ich ab und zu Kritik an meinem damaligen Tun. Das ist mit ein Grund, weshalb ich dieses Erlebnis später nie mehr angesprochen habe. Wegen unserer Grenzverletzung wurde der Everest nach unserer Rückkehr für einige Jahre für Ausländer gesperrt: Für die Chinesen waren wir Spione. Von den Alpinisten wurden wir als Schuldige gebrandmarkt. Und ich blieb ohne Halt und Perspektiven. Meine Zeit als Bergsteiger war vorbei, bevor sie richtig begonnen hatte.

Ich habe Verständnis. Verständnis für die Kritik an unserer Jugendsünde. Ich habe auch Verständnis für das moderne Bergsteigen. Für die Materialschlacht am Berg und die Sehnsüchte, die immer mehr Menschen immer höher steigen lässt. Es freut mich aber auch, dass das Interesse an unserer schrägen Expedition – auch dank dem in den USA erschienen Buch Vier gegen den Everest – nach 50 Jahren wieder gestiegen ist. Dass die einfache und spontane, damit vielleicht auch ehrliche Art des Bergsteigens, die bewusst auf das Maximum an Ausrüstung verzichtet, zumindest als Möglichkeit wieder etwas wert ist. Etwas wert sein darf. Ich muss nichts beschönigen: Unser Projekt war verrückt. Aber es gehört zu meinem Leben – und ich bin dankbar dafür.

Geächtet und bewundert

Mit ihrer illegalen Expedition zum Mount Everest lösten der amerikanische Philosophieprofessor Woodrow Wilson Sayre und seine Begleiter Norman Hansen, Roger Hart und Hans-Peter Duttle weltweit Entrüstung aus. Dies lag zum einen daran, dass sich die vier Bergsteiger ohne Bewilligung in von China kontrolliertes Territorium gewagt hatten – drei Jahre nach dem Tibetaufstand und mitten im Kalten Krieg eine politisch heikle Aktion: Man befürchtete, dass Nepal den Zugang zum Everest sperren könnte, um die Nachbarn im Norden nicht zu reizen. Das hätte die offizielle amerikanische Everest-Expedition von 1963 gefährdet.

Kritisiert wurde aber auch das alpinistische Vorgehen von Sayre und seinen Kollegen. In einem Artikel in «Die Alpen» (01/1963) urteilte Himalaya-Experte Günther Oskar Dyhrenfurth, alle vier seien für eine solche Expedition zu wenig vorbereitet gewesen. Sie seien schlecht ausgerüstet und in der Seilbedienung zu wenig erfahren gewesen. Dies, obwohl Sayre und Hansen vorher den Mount McKinley bestiegen hatten. Hart hatte bereits an einer Antarktis-Expedition teilgenommen, und Duttle hatte vorgängig schwierige 4000er in den Alpen überschritten. Für Dyhrenfurth – der sich um die amerikanische Expedition seines Sohnes Norman Dyhrenfurth Sorgen machte – war das Ziel, zu viert und ohne Sauerstoff den Everest zu besteigen, «vollkommen irreal und ein Wunschtraum kritikloser Abenteurer».

Sayre selbst bezeichnete sich und sein Team 1963 in einem Artikel als «ungestüme Amateure». Die Expedition hielt er trotzdem für einen Erfolg: Sie habe bewiesen, dass kleine Gruppen auch an den höchsten Bergen Erfolg haben könnten und dass der Einsatz von Sauerstoff und der ganze Expeditionsapparat mit fixen Camps und Heerscharen von Trägern unnötig seien. Sayres 1964 erschienenes Buch Four Against Everest wurde für eine junge Generation von Kletterern zu einem antiautoritären Manifest. Kleine Gruppen, die ohne Sauerstoff und militärisch organisierte Logistik unterwegs waren, prägten fortan die Entwicklung im Himalaya.

Duttle fand nach seiner Rückkehr in die Schweiz keine Ruhe und wanderte in die kanadische Arktis aus, wo er mit der einheimischen Urbevölkerung zusammenlebte. Heute lebt der nun 76-Jährige im Bernbiet und im Wallis.

Literatur

Woodrow Wilson Sayre, Vier gegen den Everest. Die Geschichte der neuesten Kleinexpedition über die Nordflanke, Müller Verlag, Rüschlikon 1965 (antiquarisch).

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