Der Steinadler ist über den Berg Symbolträger mit bewegter Geschichte
Wer regelmässig in die Berge fährt, hat bestimmt schon gesehen, wie der Steinadler seine Kreise am Himmel zieht oder in unmittelbarer Nähe am Kletterer oder Bergwanderer vorbeisegelt. Ein imposanter Auftritt. In der Schweiz leben heute 320 Paare, im Alpenraum sind es ca. 1300, man spricht von einem beinahe gesättigten Bestand.
Das war früher anders. Bis vor 55 Jahren wurden die prächtigen Vögel bejagt. Im Gegensatz zum Bartgeier oder andern grossen Beutegreifern wie Wolf, Braunbär oder Luchs wurden sie aber nie ganz ausgerottet. Der Schaffhauser Adlerforscher Carl Stemmler schätzte den Schweizer Bestand während des Tiefpunkts um die Wende zum 2O. Jahrhundert auf etwa 50 Paare. Auch wenn die tatsächliche Zahl vermutlich etwas höher lag, so war doch eine kritische untere Grenze erreicht, die das Fortbestehen der Population infrage stellte.
Das Auf und Ab des Steinadlerbestands ist grösstenteils menschenbedingt. Im Kanton Graubünden wurden zwischen 1880 und 1900 insgesamt 257 Steinadler geschossen. Ein Jäger erhielt 10 Franken Prämie pro Abschuss, was heute etwa 200 Franken entspricht. Dieses Vorgehen wurde damals auch von Naturfreunden unterstützt. Als sich 1889 ein Leserbriefschreiber in den «Schweizerischen Blättern für Ornithologie» besorgt zeigte über das « Schussgeld für schädliche Vögel», beschied ihm der Redaktor, die Räuber schadeten «durch ihre Nesträubereien dem Bestand der nützlichen und angenehmen Vögel». Bund und Kantone teilten diese Meinung: Weil die Wild-tierbestände durch Jäger stark übernutzt wurden, solltenquasi als Korrektivdie jagenden Tiere (Raubvögel, Fleischfresser) ausgerottet oder dezimiert werden. Dazu kamen fi nanzielle Überlegungen. Verlor ein Schafhalter ein Lamm an den Steinadler, so hatte er Anrecht auf staatliche Vergütung des Schadens. Das kam den Kanton um einiges teurer zu stehen als die Abschussprämien.
Dass der Adler im Gegensatz etwa zum Bartgeier den Ausrottungsfeldzug überlebte, ist erstaunlich. Mehrere Gründe könnten dafür verantwortlich sein: Steinadler zeigen eine natürliche Scheu vor Menschen und fliegen nur selten in Schussnähe von Jägern. Als aktiver Beutegreifer ist der Steinadler weniger von (möglicherweise vergiftetem) Aas abhängig als reine Aasfresser wie Bartgeier. Die Brutplätze der Adler liegen oft in kaum zugänglichen Felswänden und bleiben nicht selten unentdeckt. Waren die Steinadlerhorste jedoch in Reichweite der Menschen, kam es immer wieder zu «Aushorstungen»: Jäger oder Wildhüter seilten sich zum Horst ab und nahmen die Nestlinge mit. In der Regel wurden die Jungadler anschliessend in kleinen Volieren aufgezogen, bis sie die stolze Grösse eines ausgewachsenen Adlers erreichten. Dann erst wurden sie getötet, um die Stuben der Jägersleute zu zieren. Andere wurden als zahme Adler auf dem Markt angeboten.
Um 1890 erhoben sich die ersten zaghaften Stimmen, die für den Schutz des Steinadlers eintraten. Anfang des 2O. Jahrhunderts wurden sie deutlicher und schärfer. Ein erzürnter Naturfreund schrieb 1904 im «Intelligenzblatt für die Stadt Bern»: «Wann wird dieser Vandalismus endlich aufhören? Wahrscheinlich wenn es zu spät sein wird, wenn das letzte Exemplar des Steinadlers von irgend Einem erbärmlich vernichtet ist und ausgestopft den Schrank einer Wirtschaft oder den Schrank eines Liebhabers ziert!»
Der Bund empfahl den Kantonen bereits in den 1890er-Jahren, den Adler zu «schonen», was aber von den Ständen höflichst abgelehnt wurde. Die Aufrufe erregter Adlerschützer setzten sich indessen fort. Sie gipfelten in den flammenden Appellen von Carl Stemmler in den 20er- und 30er-Jahren: «Die Adler sterben aus! Hört es! Der Lämmergeier – ein harmloser Vogel – ist im ganzen Alpenraum ausgestorben! Nun kommt der Adler, der stolze Steinadler an die Reihe!» Stemmler engagierte sich derart stark, dass er sich fast mit sämtlichen Behördenvertretern des Bundes und der Kantone überwarf. Der Einzelkämpfer bekam aber bald Schützenhilfe von den Ornithologen. Deren Appelle waren nicht minder emotionsgeladen. Im «Ornithologischen Beobachter» finden sich in den Jahren 1920 bis 1950 immer wieder Aufrufe für den Schutz des Steinadlers.
Die Behörden lassen sich Zeit mit der Unterschutzstellung des Steinadlers. Die Bedenken der Schafhalter und der Jagdverbände werden sehr ernst genommen. Erst in den 40er-Jahren kam es zu Jagdverboten in einigen Bergkantonen, so im Kanton Bern (1941) oder im Kanton Schwyz (1945). Von Naturschützern begrüsst, hatte dies massive Proteste der Jäger und Schafhalter zur Folge: «Die Zahl der jährlich geschlagenen Beutetiere geht in die Tausende. Ein Beharren auf dem totalen Schutz würde den illegalen Kampf gegen den Adler [hervor] rufen...» (Kantonaler Bernischer Jagdschutzverein 1942), weil «[...] dort, wo der Steinadler noch vorkommt, derselbe eine ständige Gefahr für das sömmernde Schmalvieh bedeutet [...], [was] umso schwerer wiegt, als es sich bei den Geschädigten fast durchwegs um schwer um ihre Existenz ringende Bergbäuerlein handelt » (Verband Bernischer Schafzuchtgenossenschaften 1942).
In Graubünden dauerte ein 1948 erlassenes Jagdverbot nicht lange; auf Drängen der Jäger wurde der Adler auf der Hochjagd wieder freigegeben. Eine anschliessende Zählung der besetzten Adlerhorste ergab allerdings einen so erschreckend geringen Wert, dass im Jahr 1952 dann definitiv ein Totalverbot für den Steinadlerabschuss er lassen wurde. Damit kamen die Bündner dem 1953 vom Bund erlassenen eidgenössischen Schutz des Steinadlers gerade mal ein Jahr zuvor.
Seit 56 Jahren steht der Steinadler unter eidgenössischem Schutz. Allerdings kam es in Einzelfällen noch bis in die 60er-Jahre zu behördlich erlassenen Adlerabschüssen, die mit Schafschäden begründet wurden. Illegale Abschüsse kommen bis in die heutige Zeit vor: Ein Fünftel der im Bündner Naturmuseum eingelieferten toten Adler weisen Spuren von Schrotbeschuss auf. Trotzdem fallen solche doch eher seltenen Abschüsse heute für den Bestand wenig ins Gewicht: Bereits vor dem offiziellen Schutz des Steinadlers setzte eine stetige Erholung der Population ein. Dies hatte nicht nur mit der Einstellung der offiziellen Jagd auf den Greifvogel zu tun, sondern lag vor allem auch an den stark angewachsenen Beständen der Beutetiere.
Im schweizerischen Alpenraum lebten vor 120 Jahren weder Rothirsche, noch Rehe, noch Steinböcke. Intensive und wenig geregelte Bejagung hatte zum Verschwinden dieser einst weitverbreiteten Wildarten geführt. In einem Führer von 1870 zu den Heilquellen von ScuolTarasp heisst es, dass dort vor wenigen Jahrzehnten «auch noch Hirsche» vorgekommen seien. Vom Reh ist schon gar nicht mehr die Rede. Im Jahr 1914 vermerkte Steivan Brunies, einer der Mitbegründer des Schweizerischen Nationalparks: «...was würden wir heute nicht darum geben, wenn der Steinbock, das Wappentier Graubündens, noch unsere Bergwelt zierte»? Unter den wichtigsten Beutetieren des Steinadlers überlebten nur die Gämse und das Murmeltier.
Dank Schonung und der Schaffung von Jagdbannge-bieten erstarkten die Bestände der Schalenwildarten im Verlauf des 2O. Jahrhunderts. Steinböcke wurden erfolgreich wiederangesiedelt, Rothirsch und Reh wanderten aus benachbarten Gebieten wieder ein. Damit verbesserte sich auch die Nahrungsgrundlage für den Steinadler markant. So erbeuten Steinadler heute im Sommerhalbjahr neben Murmeltieren vor allem auch Jungtiere der vier Huftierarten. Im Winter ernähren sie sich fast ausschliesslich von zu Tode gekommenen Hirschen, Gämsen oder Steinböcken.
Gegenwärtig bewohnen 115 Adlerpaare den Kanton Graubünden. Sie haben die Bündner Alpen weitgehend unter sich aufgeteilt. Wie fast im ganzen Alpenbogen gibt es kaum mehr Platz für weitere Reviere. Damit ist die Rückeroberung dieses Lebensraums durch den Steinadler abgeschlossen – eine wahre Erfolgsgeschichte.
Trotzdem braucht der Steinadler nach wie vor umfassenden Schutz. Es gibt kaum Tierarten, die empfindlicher auf Eingriffe reagieren als die grossen Greifvögel. Ihr Bestand ist naturgemäss sehr klein, weil sie paarweise leben und Territorien zwischen 30 und 100 Quadratkilometern beanspruchen, in denen keine fremden Artgenossen geduldet werden. Dazu kommt eine geringe Nachwuchsrate von circa einem Jungvogel alle drei Jahre. Erfolgreiches Brüten ist nur möglich, wenn im Bereich eines Horsts keine Störungen vorkommen. In stark erschlossenen und frequentierten Alpengebieten wird es für Steinadlerpaare schwierig zu brüten. Im Oberengadin zum Beispiel kommt auf ein Adlerpaar eine Bevölkerung von 1900 Einwohnern, das Störungspotenzial ist demnach beträchtlich.
Als die Trendwende im Bestand vor rund 30 Jahren erstmals wieder zu Optimismus berechtigte, kursierten flugs wieder Schauermärchen. Es wurde von Adlerpaaren berichtet, die ganze Murmeltierkolonien ausrotteten und Gämsbestände in Bedrängnis brachten. In Fachkreisen war längst klar, dass dies nicht möglich war. In klassischen Räuber-Beute-Systemen, wie sie bei Steinadlern und Murmeltieren vorliegen, ist der Räuber abhängig von der Beute und nicht umgekehrt. Gegen Vorurteile und Mythen haben solche Erkenntnisse aber einen schweren Stand. Die umfangreichen Studien von Heinrich Haller, dem Direktor des Schweizerischen Nationalparks, über die Steinadler Graubündens lieferten Anfang der 80er-Jahre die entscheidenden Sachargumente und Fakten für ein richtiges Verständnis der Steinadler. Er erkannte, dass die Anzahl der aufgezogenen Jungadler von den Bestandsverhältnissen abhängig ist. Bei hoher Dichte gibt es eine Art natürliche Geburtenkontrolle, die verhindert, dass Steinadler überhandnehmen. Anfang der 90er-Jahre konnte der Autor im Detail nachweisen, auf welche Weise diese Regulierung funktioniert.
Junge Steinadler verlassen das elterliche Territorium im Spätherbst und befliegen bis zu ihrer Geschlechtsreife im Alter von vier Jahren den ganzen Alpenraum. Das sind die Lehr- und Wanderjahre der Adler. Ihre Nahrung besteht – ähnlich wie beim Geier – fast ausschliesslich aus Aas bzw. Fallwild. In wildreichen Gebieten halten sich kleine Trupps von bis zu sechs jungen Steinadlern auf, die sich von verendeten Huftieren ernähren. Weil der Alpenraum heute weitgehend von Adlerterritorien abgedeckt ist, kommt es dabei oft zu heftigen Luftkämpfen mit den ansässigen Adlerpaaren. Die Auseinandersetzungen enden ab und zu sogar tödlich – meist für den Eindringling. In Graubünden wiesen 70% der Totfunde Verletzungen auf, die aus Revierkämpfen hervorgegangen sind.(1)
Die derart gestressten Adlerpaare finden immer weniger Zeit und Nerven, sich um die eigene Brut zu kümmern. Die Folge sind oft ausgefallene oder abgebrochene Bruten und damit natürlich eine geringere Nachwuchsrate. Es gibt weniger Jungvögel, und der Druck der Einzeladler auf die Brutpaare lässt nach, die Nachwuchsrate kann wieder ansteigen.
Dieser Regelkreis sorgt heute für eine relativ geringe Nachwuchsrate. Im Engadin lässt sich die veränderte Reproduktion dank langjährigen Datenreihen und einem Monitoringprojekt der Schweizerischen Vogelwarte Sempach und des Amts für Jagd und Fischerei Graubünden besonders gut rekonstruieren: Von fast 1,0 Jungvögeln pro Paar und Jahr um 1920 sank die Nachwuchsrate auf 0,6 im Jahr 1970 und liegt heute bei knapp 0,4 Jungvögeln pro Paar und Jahr. Gleichzeitig hat sich die Zahl der Adlerpaare im Engadin erhöht, von circa 15 um 1920 über 20 Paare im Jahr 1970 bis auf 30 Paare im Jahr 2008. Solche oder ähnliche natürliche Anpassungen an die Erfordernisse des Lebensraums gelten übrigens für die meisten Tierpopulationen, ganz besonders aber für die sogenannten Beutegreifer. Mit diesen Erkenntnissen sind die Diskussionen rund um das Thema Adlerschäden und Abschüsse verstummt. Heute hat man in allen Kreisen verstanden, dass ein Eingreifen in die Adlerbestände nicht nur unnötig ist, sondern die als verletzlich eingestufte Population sehr rasch wieder gefährden würde. Der Adler ist über den Berg – im doppelten Wortsinn. Seine Erfolgsgeschichte ist weitgehend auch eine Geschichte unseres Umgangs mit der Naturfür einmal eine positive. Sie steht für einen verantwortungsbewussten Umgang mit sensiblen Arten, der sich von Vorurteilen löst und auf Fakten abstützt.