Der Rückzug der Gletscher
Ein Eiswürfel von 1066 Metern Kantenlänge, zehnmal so hoch wie das Berner Münster. Das war der Morteratschgletscher bis vor Kurzem (Stand 2008). Sein Volumen gilt als das grösste der Ostalpen. 1878, als die ersten Gletschermessungen begannen, mass er stolze 8,6 Kilometer. Inzwischen ist er auf rund sechs Kilometer geschrumpft. 21,5 Meter Rückzug im Jahresschnitt in den letzten zwanzig Jahren.
Als Museumsmensch imponiert mir diese Dynamik, auch wenn das Ergebnis beunruhigt. Gletscher werden totgesagt, weil sie sich so schnell an ihr Umfeld anpassen. Museen werden totgesagt, wenn sie genau dies nicht schaffen, wenn sie in Dauerausstellungen verhocken. Im Falle des Alpinen Museums ist diese Parallele besonders sinnig. Die alte Dauerausstellung zeigte Berge und Gletscher wie Präparate. Fantastische Bergreliefs, die Schönsten und Besten, die es in der Schweiz und in der Welt zu sehen gibt. Aber sie machten die Bewegung ihrer Umwelt nicht mit und schon gar nicht sichtbar. Man kann sie sich nur denken: Die Reliefs der Gegenwart mit Starkstromleitungen, Seilbahnstationen, Carparkplätzen und Pumpspeicherwerken. Doch wäre das noch ein Relief oder bereits eine Skulptur von Fischli/Weiss, dem bekannten Schweizer Künstlerduo?
Das Bernina-Relief steht seit 1993 im Erdgeschoss des Alpinen Museums. Toni Mair schuf es von 1986 bis 1991. Im gleichen Zeitraum ist in der Welt die Mauer gefallen und die Sowjetunion von der Landkarte verschwunden. Toni Mair hatte minutiös und präzis gearbeitet. Das Relief zeigte den Morteratschgletscher im Jahre 1980. Die Bemalung orientierte sich am Licht des Herbstes, das die Farbnuancen der Landschaft am kräftigsten zur Geltung bringt. Wer genau hinschaute, konnte beim Baumbestand Lerchen von Arven unterscheiden. Nun weichen sein und alle anderen Reliefs temporär aus dem Alpinen Museum. Toni Mair war wenig begeistert, als er erfuhr, dass das Museum seine Gletscher zum Rückzug drängt. Sein Gletscher misst sieben Quadratmeter und wiegt 150 Kilogramm. Er passt durch keine Museumstür. Der Reliefprofi stellte sein Wissen zur Verfügung: Er zerlegte das Relief fachgerecht in seine ursprünglichen Einzelteile und brachte sie unbeschadet ins klimakontrollierte Depot des Archäologischen Dienstes. Dort bleiben sie vorübergehend.
Die erste Sonderausstellung im Alpinen Museum ist für März 2012 geplant. Sie heisst «Berge versetzen» und wird einige der alten Reliefs im neuen Licht der Gegenwart ins Museum zurückholen.