Der Berg.
Paul Erni, Basel
( Bilder i bis 4 ) Schon lange trug ich mich mit dem Gedanken, das Abenteuer einer grossen Bergfahrt in Wort und Bild einzufangen. So vieles ist damit verbunden, und wie oft ist es Symbol für manches im täglichen Leben, ja sogar für das Leben selbst: fröhlicher Beginn, wachsende Anstrengung bis zu harter Entbehrung, Enttäuschung—oder glückliches Siegen, Heimkehr voller Befriedigung und zugleich Ansporn zu neuem Versuchen.
Ende Juli 1959 stieg ich mit Bergführer Oskar Perren über den Schaligrat auf das Weisshorn und über den Ostgrat wieder talwärts. Es war eine meiner schönsten Bergfahrten auf klassischer Route, und aus dem Erlebnis entstanden fünf Radierungen zu den Themen: « Aufbruch von der Hütte », « Steigen im Gletscher », « Über allen Gipfeln », « Das Gewitter am Grat » und « Heimkehr ins Tal ». Grund genug, in Worten noch etwas weiter auszuholen.
Der mühsame Aufstieg zur Hütte wird bald zur Seltenheit. Man muss sie heute suchen, die berühmten Viertausender, zu denen keine Seilbahn den Zugang erleichtert. Und doch hat der strenge Anstieg am Vorabend seinen besondern Reiz, ja seine Notwendigkeit für die Fahrt des folgenden Tages. Man fühlt sich irgendwie sicherer, besser vorbereitet und mit Gelände und Wetter vertrauter.
Die fünf Stunden Hüttenweg zur Weisshornhütte kosten viel Schweiss, die Säcke sind trotz aller Sparsamkeit schwer. Aber die Anstrengung ist nur körperlich, man hat alle Zeit zum Nachdenken, Grübeln und Philosophieren. Ein eigentliches Gespräch mit sich selbst hebt an, ein Monolog, zu dem man so selten mehr kommt und der doch so läuternd wirkt. Wie angenehm, da mit Führer Perren zu steigen, der ohnehin mit Worten kargt und wohl im stillen mit der schwierigen Tour von morgen hadert?
Der Vorabend in der rauchigen Berghütte gehört mit zu den schönsten Stunden einer Bergfahrt. Der Aufstieg hat einen angenehm müde gemacht, und jeder ist froh, den schweren Sack vom Rücken zu nehmen. Ein erster Blick gilt den anwesenden Berggängern. Sind etwa bekannte Gesichter unter ihnen? Wir sind verhältnismässig früh im Jahr, und die Hütten sind noch nicht überlaufen. Unser zwölf werden es sein heute abend, und alle haben das Weisshorn zum Ziel.
Draussen hat sich inzwischen schwarzes Gewölk zusammengezogen; nach grellen Blitzen und mächtigem Donnern entlädt sich ein Gewitter über dem Hohlichtgletscher. Der heftige Wind trägt vereinzelte grosse Tropfen bis zu uns herüber. Ein prächtiges Naturschauspiel! Allerdings stellt sich jeder die bange Frage: « Wird sich das Unwetter austoben und den morgigen Tag für die geplante Fahrt freigeben? » Ja, es ist auch gestern und vorgestern so gewesen — der Himmel hat sich jeweils bis zum Morgen aufgeklärt. Wir hegen deshalb gute Hoffnung und ziehen uns zurück in die enge Hütte, wo Küche, Essraum und Schlafstätte in einem sind. Im flackernden Schein der Kerze und beim duftenden Tee werden bedächtige Worte gewechselt, bis wir uns für kurze Stunden auf die Pritschen legen.
Müde vom langen Anstieg, doch voller Spannung auf die morgige Traversierung, liege ich auf dem harten Lager. Kaum eingeschlummert, kommen die ersten wilden Träume, die einfach zu Hüttenschlaf und Biwak gehören. Gefahrvolle Erlebnisse von früheren Fahrten, ins Unwirkliche übersteigert, werden deutlich und enden mitunter in schreckhaftem Erwachen. Dann ist einem das dumpfe Stöhnen des Nachbarn eine kleine Erleichterung. Auch er scheint verwickelt in einen gigantischen Kampf mit dem Berg.
Schlaftrunken, mit steifen Gliedern und eher missmutig treten wir kurz nach Mitternacht vor die Tür. Mit Mühe bringen wir unsere Ausrüstung in Ordnung; wir wollen die noch schlafenden Kameraden nicht stören. Die Luft ist ungewöhnlich warm. Reste der Gewitterwolken von gestern hangen noch in wilden Fetzen an den Graten. Wir zweifeln beide am Gelingen der Fahrt; doch keiner mag es dem andern eingestehen. So machen wir uns wortlos bereit und stapfen in die laue Nacht. Wird alles gut gehen?
Im Schein der Laterne gewinnen wir die ersten steilen Felspartien zwischen dem untern und obern Gletscher. Das Gestein ist lose, aber der Weg nicht allzu schwierig. Nichts ist gefroren, und überall rinnt Wasser in schwarzen Streifen die Felsstufen hinunter. Das gereicht uns zum Nachteil: Durch das Kamin, das den Ausstieg aus der kurzen Wandpartie freigibt, fegt ein ansehnlicher Strahl. Es bleibt keine andere Wahl, als diese unangenehme Taufe in noch dunkler Nacht durchzustehen. Wir tun es, einer nach dem andern, jeder auf seine Art und so rasch wie möglich. Gottlob lässt die ungewöhnliche Wärme uns die Nässe kaum empfinden.
Nach gut zwei Stunden sind wir im zerklüfteten, im Halbdunkel gespenstisch anmutenden Abbruch des obern Wandgletschers. Immer noch ist es warm, ja fast schwül, obschon wir längst über dreitausend Meter sind. Der Schnee im Abbruch ist trügerisch faul und zwingt zu grösster Vorsicht. Wo sonst die Steigeisen in hartgefrorenen Schnee greifen, waten wir oft knietief im nassen, weichen « Pflotsch ». Dass sich Perren in diesem Spaltengewirr zurechtfindet, ist mir ein Rätsel. Vertrauensvoll folge ich seinen Stapfen, sichernd und gesichert, wo immer es die Verhältnisse erfordern. Wir streben nun, links haltend, der grossen schwarzen Bastion entgegen, die uns vom Schaligrat trennt - immer nach einem Durchschlupf spähend, der uns den Bergschrund überlisten hilft.
Einmal im Grat, gibt es nur noch einen Weg: vorwärts, aufwärts über den Gipfel und den leichteren Ostgrat wieder hinab zur Hütte. Endlich haben wir den Schrund überwunden. Es ist immer noch finster; ich gratuliere Perren zu seiner grossartigen Führung durch das Labyrinth des obern Gletschers. Am Fusse der mächtigen Gratwand machen wir eine kurze Rast und entle- digen uns der Steigeisen, die wir hoffentlich bis zum Gipfel nicht mehr brauchen werden. Das Wetter kümmert uns eigentlich wenig, wohl, weil es selbst auf dieser Höhe noch nicht kalt ist; nicht einmal hier gefror der Schnee in der Nacht. Zudem sind wir im Windschatten. Oben wird es sicher anders — im fahlen Licht der Dämmerung gewahren wir jagende Nebel am Grat. Nun, wir sind bereits so hoch, dass wir uns gar nicht mehr über « das Weiter » unterhalten. Es versteht sich einfach, dass wir heute den Gipfel angehen und auf etwas Wetterglück hoffen.
Das Wandstück zum Grat gibt zwar noch zu schaffen; das Gestein ist brüchig, und hin und wieder poltern grosse, sich unter unseren Tritten lösende Brocken hinunter. Klackend verschwinden sie im grossen Bergschrund. Der Tag bricht an, und wir müssen feststellen, dass er uns heute kaum viel Sonne bescheren dürfte. Wir ziehen uns die Jacken über und stecken die Köpfe in die wollenen Sturmkappen. Deutlich hören wir oben den Wind durch die Gratlücken pfeifen.
Wie erwartet, bläst ein heftiger Westwind über den Schaligrat: wir sind froh über die schützenden Anzüge. Oskar Perren klettert voraus, immer noch ohne Handschuhe und mit einer Selbstverständlichkeit ohnegleichen. Er hat es eilig, ich merke es ihm an, wenn ich ihm beim Sichern mit den Augen folge. Manche knifflige Stelle wird für mich leichter und müheloser, kann ich doch vorher den Führer beobachten. Es ist seine Art zu drängen, wenn er dem Wetter nicht traut - und heute hat er allen Grund dazu... Ich folge rasch und ohne Umstände, weiss ich doch, dass ich gut gesichert bin. Sobald es die Verhältnisse erlauben, klettern wir zusammen und gewinnen so Zeit. Trotz Wind, zeitweiligem Eis und Schnee und einsetzender Kälte ist der Grat herrlich und das Klettern in dieser luftigen Höhe ein seltener Genuss. Meine gute Vorbereitung der letzten Wochen kommt mir zustatten; ohne sie würde ich kaum so mühelos Schritt halten.
Vier Stunden schon sind wir im Grat, und immer noch türmt sich ein Gendarm nach dem andern. Da hören wir Stimmen einer Partie im Ostgrat, die sich bereits im Abstieg befinden muss. Lange kann es also nicht mehr gehen. Wir treffen auf mehr und mehr Eis und Schnee in den Felsen; doch nichts kann uns jetzt aufhalten! Kaum hundert Meter Höhe sind noch zu überwinden.
Gegen Mittag endlich stehen wir auf dem Gipfel. Zufrieden und glücklich schütteln wir einander die Hände. Ich danke für die ausgezeichnete Führung und das angenehme Tempo. Wir sind allein auf der schmalen Schneekuppe. Die zwei oder drei Partien, die über andere Routen angestiegen sind, befinden sich schon alle im Abstieg; so werden wir über den zunächst schneeigen Ostgrat eine gute Spur vorfinden. Der Wind hat nachgelassen, aber sonst sieht es nicht zum besten aus. Ein Gewitter liegt in der Luft; wir spüren es beide und drängen zum Aufbruch. Doch vorher wollen wir noch etwas Weniges essen. Viel braucht man nicht auf diesen Touren, der Magen ist zu nervös und der Organismus zu angespannt. Wir sparen die Hauptmahlzeit für die Hütte auf, die wir über den Ostgrat in vier bis fünf Stunden zu erreichen hoffen.
Jetzt gehe ich voran, während Perren sichernd nachkommt. Wir haben gute Stufen und kommen rasch vorwärts. Gleichwohl drängt der Führer zu schnellerem Gehen: Bereits fliegen vereinzelte Graupeln durch die Luft, Vorzeichen des nahenden Unwetters. Entweichen können wir ihm nicht, doch wollen wir möglichst tief hinunter -hier oben am schmalen Eis- und Schneegrat darf es uns nicht erwischen. Also geht 's im wilden Tempo abwärts, mitunter in kühnen Sprüngen — ein Hochgefühl, so aufeinander eingespielt zu sein! Noch vor Beginn des Felsgrates holen wir die andere Partie ein, zwei Schwyzer mit einem Führer aus Altdorf. Auch sie beeilen sich angesichts des aufkommenden Gewitters.
Es kommt, wie wir befürchteten: zuerst ein merkwürdiges Sausen in den Pickeln, dann das unheimliche Rauschen in den Haaren und das dumpfe Grollen des Donners. Immer mehr Grau- peln, die Ungutes verkünden. Im hastigen Abstieg haben wir den Felsgrat erreicht. Rasch nehmen wir die Steigeisen von den Schuhen. Wir wollen unbedingt die heiklen Stellen, die Gendarme des Grates, hinter uns haben, bevor uns der Sturm einholt. Kurz vor dem Frühstücksplatz, aber noch immer im Felsgrat, erreicht uns das Unheil. Heulend pfeift der Wind und jagt uns Eiskörnchen und Steinchen ins Gesicht. Nur mit grösster Mühe kommen wir noch voran; es ist dunkel, als wollte gleich die Nacht anbrechen. In wenigen Minuten sind Felsen, Nischen und Spalten schneeüberdeckt und erheischen doppelte Vorsicht. Doch Perren ist unerbittlich, für ihn gibt es kein Halten; hinunter drängt es ihn mit allen Fasern. Mir scheint, ich sei ihm zu langsam, obschon ich das Äusserste gebe, was ich mit unser beider Sicherheit noch verantworten zu können meine.
Selten habe ich einen Gewittersturm von solcher Heftigkeit erlebt, dazu am ausgesetzten Grat! Von unseren Schwyzer Kameraden ist längst nichts mehr zu sehen und zu hören. Wo sie wohl stecken mögen? Mit viel Glück haben wir inzwischen den Frühstücksplatz erreicht und damit alle grösseren Schwierigkeiten überwunden. Umtobt von dichten Hagelschauern springen wir über Blöcke und losen Schutt das Couloir hinunter. Ich hätte nicht geglaubt, dass wir es noch schaffen würden... Noch ist der Bergschrund über dem untern Wandgletscher zu überwinden. Perren flucht, wie ich zu einem gewagten Sprung ansetze; allein dies hindert ihn nicht, mit derselben Technik nachzudoppeln. Unten auf dem Gletscher geht 's im Laufschritt weiter, und in einer guten Stunde stehen wir, beide gänzlich durchnässt, aber zufrieden vor der Hütte, in der sich bereits eine andere Partie für die Nacht einrichtet.
Wir machen einen kurzen Halt und wechseln unsere Wäsche. Perren orientiert die Partie über unsere Freunde am Grat und vermutet - wie sich später herausstellt, mit Recht -, diese hätten sich wohl zum Biwakieren entschlossen. Wir beide rüsten uns zum Abstieg ins Tal. Das Gewitter hat nachgelassen; trocken und mit gutem Regenschutz sind wir bald wieder unterwegs. Es ist gerade am Eindunkeln, als wir müden Schrittes die letzten Kehren des Hüttenweges oberhalb Randa passieren. Was plaudern wir? Die Strapazen sind vergessen, unser Gespräch dreht sich um einen andern Grat; er soll dem heutigen nicht nachstehen. Wir sind wieder voller Lust und Tatendrang... Doch vorerst zurück zu Frau und Kindern: Sie wollen wissen, wie es uns da oben ergangen ist.