Das St. Antönierthal
G. Field ( Section Rhätia ).
Von St. Antönien, ein in der Rhätikonkette gelegenes Seitenthal des seit zwei Jahren von der Eisenbahn durchfahrenen Prätigau's, ist eine der schönsten und interessantesten Alpengegenden, welche auch von Fremden von Jahr zu Jahr mehr besucht und gewürdigt wird. Zweck dieser Arbeit ist, das herrliche Thal noch weiter bekannt zu machen, wobei ich bemerken kann, daß mich in diesem Bestreben kein anderer Beweggrund leitet, als die Freude eines eifrigen Alpenclubisten über einen schönen Erdenwinkel, denn ich habe daselbst nichts zu suchen, als jeweilen meine Sommerferien. Nichts Anderes! Ich nehme das Wort zurück, denn Sommerferien und St. Antönien sind zwei Dinge, die für mich sehr viel ausmachen. Viele glückliche Tage habe ich dort erlebt und viele glückliche Tage hoffe ich dort noch zu erleben; an Gleichgesinnte richte ich hiemit die Einladung, hin zu kommen und sich mit mir zu freuen. Zur Wegleitung möge Folgendes dienen:
Die tiefste Stelle des Thales ist Ascharina-Säge ( Postablage ) mit 1281 m, genau gleich hoch liegend wie der oberste Theil des Dorfes Pany, oder 35 m höher als die Kirche daselbst, was unter Anderm beweist, daß eine richtig angelegte Straße zwischen den beiden genannten Punkten in einer Ebene liegen würde. Die Kirche „ am Platz " steht in einer Höhe von 1420 m, die tiefste Stelle der Gemeinde Rüthi ( Einmündung des Gafier-. baches ) liegt 1454 m, Pension „ Sulzfluh " in Partnun 1662 m, der Partnunersee 1874 m, Gafier-Stafel 1742 m hoch.
Das Hauptthal reicht bis an den Grubenpaß ( 2235 m ) zurück und bildet zu hinterst zwei übereinanderliegende großartige Muscheln. In der untern liegt von grünen Weiden und Alpenrosen umrahmt der dunkle See. Der obere Theil, wo auf der rechten Thalseite die „ Balmen " oder Höhlen liegen, ist eine Kalkmuschel in nacktester Form. Seitenthäler sind Gafien und das Aschariner Alpthälchen.
Das Thal besteht zum größten Theil aus herrlichen Wiesen, schönen ertragreichen Weiden und Alpen. Es umfaßt drei Gemeinden: Ascharina, auf der linken Thalseite liegend und 103 Einwohner zählend; Castels, weiter hinten auf der rechten Thalseite ( „ Sunniort " ) mit 163, und Rüthi zu beiden Seiten des Gafierbaches mit 87 Einwohnern.
Der St. Antönierbach hatte, wie Herr Oberforstinspector Coaz in der Sulzfluhbroschürerichtig bemerkt, eine politische Bedeutung, indem er nicht nur die genannten Gemeinden von einander trennte, sondern auch insoweit Gerichtsgrenze bildete, als Ascharina und Rüthi bis zum Jahre 1851 zum Hochgericht Klosters, äußerer Schnitz, gehörten, während der „ Sunniort " von jeher einen Bestandtheil des Hochgerichtes Castels ausmachte und daher seinen Namen hat. Der Name Ascharina scheint mir auch richtiger von Aschier ( romanisch: Ahorn ), als etwa von Sta. Aschera abgeleitet zu werden. Der Ahorn kommt in jener Gegend noch hin und wieder vor und ist sozusagen der einzige Laubbaum in St. Antönien.
Die drei Gemeinden sind waldarm. Wohl steht Ascharina gegenüber ein sehr schöner und großer Wald, allein derselbe gehört der Gemeinde Luzein, womit aber nicht gesagt sein soll, daß nicht hin und wieder in einer stillen Stunde ein Tännlein den Weg in einen St. Antönier Holzschopf finden möchte.
Ascharina hat auf seinem Gebiete zwar eine ziemlich große Waldstrecke, deren Bestand aber stetsfort durch Rufen und Lawinen bedroht und geschädigt wird. Rüthi mußte neulich um einen guten Theil seines geringen Waldbestandes mit einer Anzahl Alpgenossen von Gafia erfolgreich processiren. Die Castelser haben ihre Waldungen hinter Aschuel, also gegen das Schierser Tobel hin. An der Meierhofer Alp setzt sich jeweilen ein hübscher junger Wald an, wird aber ebenso hartnäckig von Zeit zu ZÄt durch die Lawinen weggefegt.
Der Culturboden des Thaies wirft fast nur Gras und Heu ab. In den wenigen Aeckern und Gärten werden etwas Kartoffeln, Kohl und Kohlrüben gebaut. Die letzteren, ungefähr wie Sauerkraut eingemacht, geben eine Art Nationalgericht der Thalbewohner ab.
Oben in den Bergen treffen wir Alpenerlen und Alpenrosenstauden, letztere jedoch bei Weitem nicht in der Menge, wie in vielen andern Alpen des Kantons. In den Bergwiesen des Gafierthales wachsen Edelweiß und Mannstreu ( Eringium alpinum ) zahlreich. Das Edelweißsammeln in Wiesen ist verboten, weil die Bodeneigenthümer das Gras nicht zer-stampfen lassen wollen und weil Einzelne davon mit dieser so beliebten Alpenblume etwelchen Handel treiben, d.h. sie selber sammeln und an Curstationen versilbern. Das Edelweiß wird in St. Antönien auch als Gräberschmuck verwendet. Das ist an und für sich etwas sehr Schönes, weniger anmuthig erscheint dagegen hier wie an vielen andern Orten die Pflege der Gräber überhaupt, die es gestattet, daß neben dem an die Sterne erinnernden Edelweiß auch Blackten, Schierling und dergleichen unedle Wucherkräuter wachsen. Uebrigens entarten die verpflanzten Edelweiß nach verhältnißmäßig kurzer Zeit.
St. Antönien ist ein ziemlich gesuchtes Jagdgebiet, indem die Thalschaft einen verhältnißmäßig guten Bestand an Gemsen, Murmelthieren, Hühnern und Rehen hat.
Drei kleine Seespiegel breiten sich in den Alpweiden aus, diejenigen von Partnun, Gafla und Garschina. In weitern Kreisen bekannt ist eigentlich nur der erste, es verdienen aber auch die beiden andern bekannt zu werden. Etwas Lieblicheres als den Carschinersee ( 2189 m ) kann es nicht geben, während sich der in einem tiefen Trichter liegende Gafiersee ( 2313 m ) durch Düsterkeit auszeichnet. Im Partnunersee ist Fischzucht versucht worden, allein wie es scheint mit wenig Eifer und vielleicht gerade deßhalb auch mit geringem Erfolg.
Hinsichtlich der Topographie und des Gebirgsbaues des Thaies verweise ich im Uebrigen auf die oberwähnte Broschüre der Section Rhätia und die Schrift: „ Der geologische Bau des Rhätikongebirges von Dr. Ch. Tarnuzzer " ( Chur, bei Gebrüder Casanova, 1891 ).
Die Bewohner des Thaies sind geweckte, sehr fleißige und sparsame Leute. Die Sulzfluhbroschüre bezeichnet sie als hablich. Leider trifft dieser Ausdruck nicht unbedingt zu. In einem Thale, das nur Gras producirt, keine Industrie besitzt und bis vor Kurzem keine Straße hatte, kann allgemeiner Wohlstand nicht Platz greifen, umsoweniger, als die Bevölkerung dazu noch in beständigem Kampfe mit zerstörenden Naturmächten stehen muß. Daß dem wirklich so ist, beweist am besten der stetige Rückgang der Bevölkerungszahl. Die Thalschaft hatte im Jahr 1781440 Einwohner,1805388 ,,1860364 „., 1888353 „ Sie zählt also dermalen fast 100 Einwohner weniger als vor hundert Jahren. Die Verhältnisse werden früher nicht rosiger gewesen sein als jetzt, allein man kannte oder benutzte das in den letzten fünfzig Jahren in starkem Schwang stehende Ableitungsmittel der Auswanderung nicht. In dieser Zeit, d.h. in den letzten fünfzig Jahren, sind aus St. Antönien nicht weniger als 127 Personen ausgewandert, alle nach Amerika.
Alle drei Gemeinden bilden zusammen eine Kirchgemeinde. Die nicht uninteressante gothische Kirche mit ihrem schlanken 130 Fuß hohen Thurm wurde im Jahre 1493 erbaut. Von den drei Glocken soll die kleinste im Kriegsjahre 1622 von den Oesterreichern geraubt und nach Gargellen gebracht worden sein. Im Jahre 1677 wurde die Kirchenuhr von einem Herrn v. Sprecher von Luzein, der sich um ein Veltliner Amt bewarb, der Gemeinde Castels geschenkt. Erst im Jahre 1728 erwarben auch die beiden andern Gemeinden ein Miteigenthuin an diesem politischen Geschenk. Der fixe Gehalt des Pfarrherrn betrug im Jahre 1740 83 fl., im Jahre 1790 300 fl., vor nicht gar langer Zeit noch 500 fl. = 850 Fr., während er dermalen Fr. 1600 beträgt. Die Bevölkerung wurde im Jahre 1542 zugleich mit der Gemeinde Fläsch durch den Prediger Jakob Spreiter von St. Gallenkirch zur Annahme des Protestantismus bewogen. Auffallend ist, daß die Thalschaft im vorigen Jahrhundert immer Geistliche aus romanischen Gegenden, namentlich dem Engadin und Bergün, hatte.
Die gleiche Bevölkerung wie die Kirchgemeinde umfaßt auch die Schulgemeinde.
Geschlossene Ortschaften gibt es in St. Antönien keine, mit Ausnahme des sog. „ Platzes ", woselbst die Kirche, fünf Häuser und ebenso viele Ställe stehen. Vier Häuser davon sind neu, an Stelle von ebenso viel am 13. August 1839 abgebrannten. Im Ganzen bestehen die Gemeinden aus Höfen, worunter große einzelne Heimwesen zu verstehen sind. Jedes davon hat einen besondern und zwar deutschen Namen, während die Gtiternamen in der benachbarten Gemeinde Luzein durchwegs romanisch sind.
Einen freundlichen Eindruck machen die zahlreichen säubern und netten neuen Holzhäuser ( in St. Antönien existirt ein einziges gemauertes Haus ). Dieselben unterscheiden sich von den altern durch sehr praktische Einrichtung und gefälligen Styl. Ein besonderes Merkmal dieser Neubauten ist die Anwendung des sog. „ Zapfenstricks " im Wandgefiige, während die altern, d.h. die vor dem Jahre 1840 gebauten Häuser den sonst im Prätigau üblichen „ Kopfstrick " aufweisen. Die neuere Bauart wurde nach dem großen Platzbrande aus dem Montafun her eingeführt. Da, wo sonst im übrigen Prätigau Hofsystem herrscht, stehen Haus und Stall in einem rechten Winkel neben einander. Diese Stellung der Gebäude wird aber in St. Antönien an den meisten Orten durch die Rücksicht auf die Lawinen ausgeschlossen, denn da sämmtliche Gebäulichkeiten durch Lawinenverbauungen ( sog. „ Ebenhöchs " ) geschützt werden, so ergibt sich daraus, daß Haus, Stall und „ Ebenhöch " in einer gegen den Bergabhang gehenden Linie stehen müssen, weil sonst die Verbauung zu umfangreich würde.
Einen charakteristischen Anblick verleihen im Sommer dem Thale die zahllosen Heinzen ' ). Ohne dieselben glauben die St. Antönier nicht heuen zu können, und in der That erleichtern sie das Einbringen guten Heues ganz wesentlich. Auf jedem Heimwesen sind einige Hundert Heinzen, welche die meiste Zeit über ruhig in ihren Cantonnements liegen resp. hängen, im Sommer aber oft, ganze Armeen bildend, zu Tausenden und aber Tausenden im Felde stehen. Die Heinzen, welche als geradezu unentbehrlich betrachtet werden, sind jedoch erst zu Anfang des vorigen Jahrhunderts in St. Antönien eingebürgert worden, und zwar aus dem benachbarten Montafun her.
Ungefähr zu gleicher Zeit, d.h. im Jahr 1717, kam die erste Stubenuhr in 's Thal und brachte ein Georg Lötscher die ersten Kartoffeln dorthin.
Die Bewirthschaftung der Güter ist eine musterhafte, und auch für die Alpwirthschaft wird mehr gethan als an vielen andern Orten ( Weideräumung, Weganlagen, Hüttenbau, Wasserleitung, Alpwiesen ). Von dem Alpreichthum des Thaies zeugt der Umstand, daß in demselben gegen 1000 Stücke Großvieh und eine bedeutende Menge Ziegen gesommert werden. Unbedeutend ist dagegen die Schafzucht, was als ein wirth-schaftlicher Uebelstand bezeichnet werden muß, seine Ursache aber in dem Mangel an entsprechenden Frühlings- und Herbst-, zum Theil auch Sommerweiden hat. Die Schafzucht rentirt da ganz gut, wo ihr ausgedehnte Weiderechte ( Allmende und Gemeinatzung ) zudienen, insbesondere ist sie dort mit der Ziegenhaltung für arme Leute sehr werthvoll, denn sie liefert ihnen Kleidungsstoffe, von Zeit zu Zeit ein Stück Fleisch und jedes Jahr auch ein Stück Geld für verkaufte Thiere Da, wo es aber an den nöthigen Weiden fehlt, kommt die Sache zu theuer zu stehen.
Die eigentlichen St. Antönier Alpen gehören meistens privaten Genossenschaften, jedoch ist der Versuch, sie als Pertinenzen der Heim-güter zu behandeln, mißlungen, weil die Staatsbehörden diese Theorie nicht anerkennen.
Im Thale sind nun außer denjenigen der St. Antönier selbst noch vier Alpen mit auswärtigen Eigentümern, nämlich:
1Spitze " ( der Familie Sprecher in Luzein gehörend ), 2Carschina " ( einigen Fractionen der Gemeinde Schiers ), 3Alpelti " ( Gemeinde Conters ), 4Gafia ", linksseitig ( Gemeinde Jenaz ).
Ich habe weiter oben vom Kampfe mit zerstörenden Naturmächten gesprochen. Zu den letztern gehören vor Allem die Lawinen. An Hand authentischer Vormerkungen in den Kirchenbüchern hat Geschw. Peter Ruosch jgr. hierüber und über andere Vorkommnisse eine Chronik zusammengestellt, die bis zum Jahre 1668 zurückgreift und der ich folgende Daten entnehme:
1668. Im Ganzen hat es in diesem Winter in hiesigem Thale ein Haus, 17 Ställe und 6 Bargen ( Heuschober in den Bergwiesen ) zerstört,... getödtet wurden 14 Kühe, 3 Rosse, 38 Stück Galtvieh und circa 30 Stück Schmal vieh.
Besonders schlimm war das Jahr 1689, jener Unglückswinter, in welchem eine Lawine das ganze Dorf Saas zerstörte und 57 Einwohner tödtete. In St. Antönien fielen damals der sog. Schwendilawine ( 25. Januar ) 13 Personen, 8 Häuser, eine Menge Vieh und, wie gewöhnlich bei solchen Ereignissen, ein Quantum Wald zum Opfer.
1720 wurden vier Personen getödtet und zusammen in ein Grab gelegt.
1756 wurde die Familie eines Conrad Ladner mit Allem, was sie war und hatte, zu Grunde gerichtet ( Haus und Stall sammt Viehhabe, Mann und Frau und Sohn ).
1793. 27 Gebäulichkeiten verschüttet, getödtet aber nur eine Ziege. Großer Waldschaden in den Aschariner Töbeln ( Tannreisig bis auf die Gadenstätt hinaufgeworfen ).
1807. Im Ganzen 34 Gebäude, darunter 7 Häuser, zerstört, 9 Stücke Vieh und ein junger Mann getödtet, Hans Salzgeber; dessen Bruder Peter wurde nach 51 Stunden unversehrt aus dem Schnee herausgegraben.
1827. Fünf Ställe, zwei Brücken, eine Bärge und verschiedene Alp-und Maiensäßgebäulichkeiten zerstört; ein Mann ( Walther Tarnuzzer ), zwei Kühe und 20 Stücke Schmalvieh getödtet.
1842 ( 18. März ) wurden Geschw. Georg Bregenzer und Ambrosi Lötscher beim Heuführen von einer Lawine erfaßt und getödtet.
1852 ( Januar ) fand der 17jährige Johann Flutsch in einer von ihm selbst „ angetretenen " Lawine den Tod.
1868 ( 30. Januar ) fand der rühmlichst bekannte Gemsjäger und Bergmann Christian Flutsch in einer Lawine seinen Tod.
1888. Ende Januars und Anfangs Februars fiel ein solcher Schnee, daß während zweier Sonntage die Predigt ausfallen mußte, mehr als eine Woche die Schule geschlossen und fünf Tage lang die Thalschaft von jeglichem Verkehr mit der Außenwelt abgeschlossen war. Die Lawinen richteten ziemlichen Schaden an, jedoch nicht in dem Maße, wie an vielen andern Orten der Schweiz. Es war dies der bekannte Lawinenwinter, dessen Schädigungen gut zu machen sich auch der S.A.C. bemühte, indem er eine Gabensammlung vornahm und die Spenden vertheilte, aus Irrthum leider nicht überall am rechten Orte.
In den vorstehend bezeichneten und andern Fällen, innerhalb eines Zeitraumes von circa 200 Jahren, sind im Ganzen durch die Lawinen 40 Menschen und 150—200 Stücke Vieh getödtet und 250 Gebäulichkeiten zerstört worden.
Die vielen Lawinen erklären sich aus den unbewaldeten, steilen Bergabhängen und den gewaltigen Schneemassen, welche in diesem Thale fallen. An was die Leute in dieser Beziehung gewöhnt sind, beweist folgende Aufzeichnung des Geschw. Peter Ruosch vom Jahre 1886:
„ Dieser Winter war sehr leicht und wurde der Schnee nie höher als 3'/2 Fuß bis Anfangs April, wo er kaum einen Tag lang die Höhe von 4¾ Fuß hatte. "
Im Jahre 1867 verzeichnet Ruosch dagegen eine Schneehöhe von 51;2 Fuß und vom Jahre 1868 heißt es:
„ Im Januar und Februar ist viel Thauwetter gewesen und es hat den hohen Schnee mehrmals stark zusammengeregnet; trotzdem hat er im März noch die sehr bedeutende Höhe von 8 Fuß erreicht, ja noch in der zweiten Hälfte Aprils stieg er nach verschiedenen Schwankungen aufs Neue bis 7 Fuß. "
Tüchtiges scheint auch der Winter von 1875/76 geleistet zu haben, denn Herr Ruosch sagt:
„ Und auch hier ( Rüthi 1454 m ) ist im März der Schnee trotz des öftern Regens auf 7 Fuß angestiegen. "
Im Sommer werden die Lawinen und Schneestürme durch majestätische, aber mitunter schädliche Hochgewitter ( „ Schlagwetter " ) ersetzt. So wurde vor einigen Jahren im Ascliarinerberg ein Hirtenknabe vom Blitz erschlagen. Im Jahre 1883 vernichtete der Blitz am Meierhoferberg eine Ziegenheerde und setzte im folgenden Jahre in Ascharina ein Haus und einen Stall in Flammen.
Das gleiche Schicksal, wie dem erwähnten Knaben, hätte auf ganz der gleichen Stelle etwas mehr als 20 Jahre früher dem Schreiber dieser Zeilen widerfahren können. Auf hoher Bergeshalde, fast auf dem Grat oben — es wird im Monat Juni gewesen sein — waltete ich des Hirtenamtes. Schon damals war die Bergwelt meine Lust, weniger aber war sie es dem Viehe, mit dessen Eigenwillen der meinige mitunter in harten Conflict gerieth. Ein solcher Conflict war für mich um so unangenehmer, als die verehrliche Gegenpartei Hörner hatte, so daß meine schönsten Rechtserörterungen nichts nützten und ich oft den Kürzern zog. Item, also an einem Nachmittag entlud sich über die dortige Gegend ein Gewitter von furchtbarer Herrlichkeit. Links und rechts sausten die Blitze neben mir nieder und umhallten mich zerreißende Donnerschläge, daß es eine helle Pracht war. Ich sollte noch beifügen: eine helle Freude. Ich hatte nämlich noch keine Ahnung von der Gefährlichkeit eines solchen Gewitters; indeß war es auch nicht der Sinn für Naturschönheiten, welcher mein Herz bewegte, sondern ein stark realistischer Grund. Aus der bis dahin von mir noch nie erlebten furchtbaren Gewalt und Pracht des Gewitters zog ich nämlich den kühnen Schluß, daß der jüngste Tag gekommen sei und ich am folgenden Tag nicht mehr hüten müsse. Je heftigere Donnerschläge erfolgten und je näher und feuriger die Blitzstrahlen die ganze Umgegend tiberflammend mich umzuckten, desto mehr freute mich das und desto zuversichtlicher glaubte ich, daß sich nun der Himmel ganz öffnen und die letzte Tagfahrt beginnen werde. So kann ein kindlicher Glaube im gefährlichsten Augenblick freudige Ruhe geben.
Selten, wie in Bünden überhaupt, sind in St. Antönien Hagelschläge, indeß hat ein solcher doch z.B. im Sommer 1875 in den Alpen von Ascharina bedeutenden Schaden angerichtet.
Die Chronik des Herrn Ruosch widmet andern meteorologischen Erscheinungen noch ein besonderes und langes Kapitel, aus dem ich folgende Partien herausgreife:
1755. „ Der Frühling war so sommerartig mild, daß am 16. April weder Schnee noch Eis mehr gesehen wurde. Während dieser Zeit lagerte über der Landschaft immer ein so dichter Rauch oder „ Kai ", daß man Morgens und Abends die Sonne kaum sehen mochte. Derselbe war den ganzen Sommer über vorherrschend und wurde an einem Herbsttage so dicht, daß er aussah wie Nebel und der Blick kaum eine halbe Stunde weit reichen mochte.Von diesem Tage an aber verschwand er ganz. Um diese Zeit soll in Bergell und Cleven ein merkwürdiger Regen gefallen sein, dessen Wasser ganz weißlich anzusehen war, als ob Milch damit vermengt wäre. In Gefäße gesammelt, wurde dieses Wasser nach einiger Zeit ziegelroth. Dieser Herbst war auch merkwürdig wegen eines furchtbaren Erdbebens, hauptsächlich in Portugal, wo die Hauptstadt Lissabon ganz zerstört wurde. Das Erdbeben wurde auch an vielen andern Orten verspürt, so z.B. auf dem Zürich- und Wallensee, woselbst es Schiffe an 's Land warf und zum Theil zertrümmerte. "
1762. „ Im Juni dieses Jahres trat ein drei Tage und drei Nächte andauerndes gewaltiges Regenwetter ein, in Folge dessen die Gewässer stark anschwollen und großen Schaden anrichteten. Hier in St. Antönien wurde die äußerste Mühle, genannt „ Engelsmühle ", welche damals einem Georg Juon gehörte und der Säge gegenüber stand, mit Haus, Stallungen und Garten weggerissen^ ebenso die erwähnte Säge. Draußen bei der Brücke erlitt eine neue schöne Schmiedwerkstätte das gleiche Schicksal. Ebenso wurden alle Brücken und Wuhrungen, sowie zwei Walkereien fortgerissen. Der Thalbach, vor Alters Dalvazza genannt, trat auch der Kirche sehr nahe. Auch an andern Orten richteten die entfesselten Flüsse großen Schaden an. In Chur wurden von der Plessur etliche Häuser zerstört und in Grüsch von der Landquart 22 Häuser fortgerissen. "
„ 1770 war ein sehr später Frühling, so daß man noch an der Luzeiner Besatzung ( Landsgemeinde ), d.h. im letzten Sonntag Aprils ( alten Kalenders ), hier über die Gartenzäune gehen und fahren konnte. Am Churer Maimarkt ( Mitte Mai ) führte über den Davoser See noch Schlittbahn. "
1793. „ Im Dezember brach in Ascharina ob Peter Eglis Haus ob der sog. Eglisbruck aus trockenem Rain ein Erdschlipf oder eine Rufe, welche Stall und Vieh sammt dem Fütterer Luzi Egli fortriß und die obere Hauswand eindrückte. Eine Mastkuh brach dabei ein Bein, und Schafe und Ziegen ertranken im Schlamm, sonst aber blieb Alles gesund. "
1817. „ Nach einem strengen Winter kam der Frühling erst sehr spät. Am Alpelti lag der Schnee im April noch 16 Schuh hoch. In Folge des unfruchtbaren Sommers und langen, harten Winters entstand überall Hunger und Mangel, indeß scheint die Noth an vielen andern Orten größer gewesen zu sein als hier. Ein Fuder Heu ( 343 C ) galt im Anfang des Winters schon 18 Gulden ( Fr. 30. 60 ), im Februar und März 30—40 Gulden; später war gar keines mehr zu bekommen. In Chur wurden für das Fuder 70—80 Gulden und noch mehr bezahlt. Viele St. Antönier entfernten sich schon im März mit ihrem Vieh nach verschiedenen Orten hin, um dasselbe dort, wenn auch mit großen Unkosten, am Leben zu erhalten. Einige gingen „ vors SchloSchloCIus. „ Vorm Schloß " nennt der Prättigauer die Herrschaft und die Gegend der V Dörfer, die Bewohner = Fürschlösser ) hinaus, unter die Steig ( Luziensteig, also nach Liechtenstein ) und ins Werdenbergische, während Andere bis nach dem Domleschg zogen. Auch gab es Leute, welche ihr Vieh später in die Weide verdingeten, um einen äußerst hohen Preis, selbst bis nach Chur. Von je 10 Stücken Vieh blieben kaum drei mehr hier und mußten meistens nur mehr mit Tannreisig u. dgl. gefüttert werden. Aber auch für die Menschen waren die Lebensmittel außerordentlich theuer und später gar nicht mehr zu bekommen. Viele Leute mußten nur mit gesottenem, aber wenig geschmalzenem Triebkraut und mit Nesseln ihr Leben fristen. Die Wiesen waren oftmals von kräuterlesen-den Menschen so überzogen, als ob man Ziegen und Schafe ausgetrieben hätte.Vom schlechtesten Kernenmehl kostete die Quartane einen Kreutzthaler ( Fr. 5. 67 ), vom bessern 4—4¾ Gulden ( 7—8 Fr. ). Die Quartane Roggen mußte mit 3—Zlh Gulden, das Pfund Unschlitt mit 10 Batzen und das Pfund ( „ Krinne " ) Butter mit 30 Kreutzer und darüber bezahlt werden. Auf der italienischen Seite war Getreidesperre und es konnte nur russisches Getreide von Odessa und egiptisches von Genua und Triest her bezogen werden. Nach Rorschach kamen selbst Schwaben, um Korn zu kaufen. "
1829. „ Vom 6.9. October fällte es einen gegen 3 Fuß hohen Schnee, so daß die Emdheinzen aus demselben hervorgegraben und auf Schlitten auf den Stall geführt werden mußten. "
1834.Im Frühling mußte ( was sonst in dieser Gegend nie geschieht ) das Vieh in Folge des großen Heumangels auf die Wiesen getrieben werden, wie im Herbst in die Emdweide. Das Wachsthum in den Bergen war aber so schön, wie es seit 1811 nie mehr der Fall gewesen sein soll. Es ist aber zu bemerken, daß es in den Bergen im Frühling und im Sommer weit mehr regnete als in den Thalgründen. So kam es, daß oben das Heu und unten, d.h. in den Rebgegenden, der Wein sehr gut gerieth. "
1835.Im December trat eine außerordentliche Kälte ein. Der Boden wurde mehre Fuß tief wie harter Felsen, und es entstund ein Wassermangel, dergleichen es kaum einmal gegeben hat noch geben wird. " "
1837. „ In diesem späten Frühling trat eine furchtbare Heunoth ein, und zwar nicht nur hier, sondern überall. Obgleich der Viehstand ohnehin schon gering war, mußte doch noch ein bedeutender Theil geschlachtet werden, trotzdem die Thiere ganz mager waren; die Uebrig-gebliebenen aber litten großen Hunger. Es wurden mehr als 50 Gulden für das Fuder Heu geboten, aber um keinen Preis war mehr solches zu bekommen. Nur etwas Krüsche, Korn und Kartoffeln mit sehr wenigem Heu retteten das Vieh vor dem Hungertode. Selbst auf den Wiesen konnte es in Folge des rauhen Frühlings bis Mitte Junis kein Futter finden. Dann aber trat herrliche Frühlingswärme ein und der Graswuchs entfaltete sich prächtig, aber dem armen ausgehungerten Vieh raubte das kräftige Grün erst noch haufenweise das Leben. "
1839. „ Diesen Herbst war der Föhn sehr vorherrschend ( hier sonst eine seltene und milde Erscheinung ), ohne daß ihm besonders schlechtes oder nasses Wetter gefolgt wäre, was sonst nicht selten geschieht. Aber am 15. September steigerte er sich zum eigentlichen Sturm, der viele Dächer ganz zerstörte und ganze Wälder völlig niederstreckte. "
1869. „ Im Juni fiel ein fußhoher Schnee, welcher u. A. auch Lawinen verursachte. Eine solche tödtete auf der Alpeltifluh 11 Schafe. Merkwürdig war Anfangs Juli ein starker und anhaltender Höhenrauch. Höchster Thermometerstand im Juli mehrere Male 22 R. "
1872. „ Am Abend des 4. Februar zeigte sich ein merkwürdiges Nordlicht, wie in unserer Gegend bis dahin wohl noch kein so großartiges beobachtet wurde. Während der ganzen Erscheinung, welche bis gegen Morgen bemerkbar blieb, war es ziemlich hell und erschien der Schnee überall stark geröthet. "
1889. „ Am 2. Januar bestiegen die Herren Pfr. Forchhammer und Zolleinnehmer Putzi bei klarem Sonnenschein und guten Schneeverhält-nissen die Sulzfluh ( 2820 m ), woselbst sie eine Stunde unbelästigt von Kälte in bloßen Hemdermeln zubrachten. Dafür wurden sie dann aber beim Heruntersteigen von einem schneidigen Nordwind arg mitgenommen. Am 20. Januar bestieg der Oberlehrer mit seiner Schule bei vollständig aberm Boden Kühnishorn ( 2416 m ). "
Das Thal hat herrliche Luft und frische Quellen in Hülle und Fülle, dazu ordnungsliebende Bewohner, welche viel Bewegung und Aufenthalt im Freien haben; wie sollte da der Gesundheitszustand nicht ein guter sein? Gelegentlich, wenn auch sehr selten auftretende epidemische Krankheiten werden daher natürlich als sehr auffällig empfunden. Herr Ruosch sagt in seiner Chronik:
„ In den Jahren 1349, 1581, 1592 und 1629 herrschte hier die Pestilenz, gleichwie auch in der ganzen übrigen jetzigen Schweiz. Im Jahre 1771 sind im hiesigen Thale 38 Personen vom Gallenfieber hinweggerafft worden. Im Jahre 1690 starben 32 Personen, in den Jahren 1710 und 1797 jährlich 26 und in den Jahren 1694, 1729 und 1814 durchschnittlich 23, während die Jahre 1698, 1708 und 1802 eine Durchschnittszahl von 22 aufweisen. Im Jahre 1838 starben in den Monaten September und October 13 Personen, wovon 12 an der Ruhr. Einmal sind zu gleicher Zeit 4 Leichen begraben worden. "
„ 1867/68 fielen 23 Personen der Diphtheritis zum Opfer. "
„ Im Juli 1872 wurde aus dem Montafun die Lungenseuche eingeschleppt, was das Abschlachten von circa 60 Stück Großvieh veranlaßte. "
Aus der Geschichte des Thaies kann ich an Hand eines von Herrn Landammann Engel mit Notizen reichlich ergänzten Staatskalenders vom Jahre 1814 außer dem bereits oben Gesagten noch Folgendes anführen, wobei ich bemerke, daß Herr Engel allem Anschein nach aus schriftlichen und mündlichen Ueberlieferungen geschöpft hat:
„ In Briefen von 1524 heißt das Thal noch „ St. Antönien in Alpen ". Das allererste Haus im Thal, „ Wohnhütte " genannt, war an der Egga im Dörfli; dann beim „ Kreutz " und am „ Caschut " ( Casut = unteres Haus ) in Partnun und den „ Büschen "; dann auch am damaligen Weg oder Paß über Eggberg, Roßwig und Gruoba, weil wegen Waldung, wilden Thieren, Rufen und Morästen dem Lande nach noch kein Weg war. In Plavicin ( sprich Plaviggin ) ob Telfs war das Hauptwirthshaus.
„ Nach dem österreichischen Religionskrieg 1620—1639, wo Alles verbrannt und geplündert worden und Alles nach der „ Schweiz " oder nach Schwaben gezogen war, entstand große Noth beim Wiederaufbauen und Viehanschaffen. Die Castelser verkauften an die Jenazer mehr als ik Gafia, hingegen kam das Meierhofer Aelpli vom Freiherrn v. Castels an die Bauern, sowie auch nach und nach von den Herren zu Küblis, Luzein, Marschlins und letztlich von den Valzeinern viel Weiden in Partnun und Ascharina an die St. Antönier. Das Aschüeler Aelpli kauften nach und nach die Herren Otto und dann die Herren Sprecher in Luzein. Carschina und Valbun J ) gehörten den Schiersern und Luzeinern, ehe die St. Antönier Sönimerig brauchten. Viele Güter und Mäder und sehr viele Capitalschulden hatte man in Luzein, Küblis, Chur, Marschlins, Grüsch und Maienfeld zu 5, 6, 7 und 8 ° o zu verzinsen, wie die vom ersten St. Antönier Landammann S. Engel eingelösten und noch vorhandenen Briefe weisen. "
Der nämlichen Quelle entnehme ich noch folgende Notizen:
Der älteste „ Brief ", d. i. Urkunde aus St. Antönien, betreffend die Märchen der Alp Carschina, datirt von 1447; der älteste Bodenzinsbrief von 1510. Der Maierhof, d. i. eine Anzahl schönster Heimwesen „ innerhalb " der Kirche, und das Maierhofer Aelpli erscheinen 1492 als Eigenthum „ Sr. Gnaden des Grafen Gaudenz von Matsch, Herrn zu Castels ". Die älteste Hausjahrzahl, nämlich 1538, war ehemals auf dem „ Oberplatz " zu lesen, ist aber durch den Brand von 1839 zerstört worden.
Der jetzige Kirchenbau datirt vom Jahre 1493; ob vorher eine Kirche da war, ist fraglich. Die jetzige Kanzel wurde 1643 erstellt, das jetzige Getäfel 1674 und 1687. Die Abendmahlsgeschirre wurden der Kirche 1750 von Landammann Engel geschenkt. 1808 wurden die alten Gemälde in der Kirche, welche meist Scenen aus der Passionsgeschichte Christi darstellten, übertüncht.
1797 wurde das erste „ Ebenhöch ", d. i. Lawinenschutzmauer, im Thale angelegt und 1804 das die ganze Ortschaft schützende „ Eben-hoch " am Platz; im nämlichen Jahre auch die erste steinerne gewölbte Brücke, über das Rohrtobel, gebaut.
Die erste „ Stubenuhr " im Thal datirt von 1717; der erste „ Kachelofen " von 1745; das erste „ Stuben-Fernieß " von 1748. Die Bienenzucht wurde 1750 eingeführt, und der erste „ Gtillenkasten " 1804 auf dem Heimwesen „ im Loch ".
Von 1758—1780 hat die Baumwollspinnerei jährlich 100—300 Gulden baares Geld in 's Thal gebracht. Darnach aber wurden Weber und Spinner durch die Concurrenz der Maschinenarbeit in England ruinirt und Armuth und Geldmangel traten ein. Dagegen wird die von dem Geschw. Peter Lötscher 1804 errichtete erste Hafnerei noch jetzt von seinem Enkel fortgeführt.
Von 1798 bis 1803 waren abwechselnd Oesterreicher und Franzosen im Lande.
Dem Vorstehenden mag nun als Ergebnis unserer eigenen Forschungen noch folgender Artikel angereiht werden.
Postverkehr. Zu Anfang des Jahres 1850 wurde der erste Brief-botenkurs zwischen St. Antönien und Küblis eingerichtet, und zwar in der Weise, daß ein Bote die ankommenden Briefe jeden Samstag von Küblis nach Pany brachte, während ein anderer Bote gleichen Tages mit denselben nach St. Antönien kam und auswärts gerichtete Correspondenzen wieder mitnahm, welch'letztere dann bis zum nächsten Samstag in Pany liegen blieben, um alsdann erst vom heraufkommenden Boten weiterbefördert zu werden. Mit Beginn des Jahres 1851 aber wurde eine directe Verbindung mit Küblis so hergestellt, daß ein jeden Samstag von St. Antönien abgehender Bote seine Sachen nach Ktiblis brachte und daselbst die für Pany und St. Antönien bestimmten Correspondenzen am gleichen Tag an Ort beförderte. Im Jahre 1853 wurde eine zweite und im Jahre 1855 ( October ) eine dritte Wochentour beigefügt. Seit Mai Das St. Äntimier-Thal.
1873 ist der Postdienst ein täglicher, wird aber seit der Erbauung des Schanielasträßchens nicht mehr über Pany geleitet, sondern zwischen St. Antönien und Küblis direct vermittelt.
Familiennamen. Es werden 57 erloschene Fatniliengeschlechter ( Aus-sterbung oder Wegzug ) aufgezählt, nämlich:
Bartsch Heil Kürri Rieder Walther Barfuß Jann Matt Rupp Weber Boner Jeklin Mathis Schinun Winkler Brosi Jäggli Margadant Schnider Wies Donau Kaspar Margutt Sprecher Wehrli Fehr Killias Mooser Thommen Willi Flury Löchli Nett Tönz Conzett Fried Locher Nigg Trommel- Meier Gadient Lutzi Nicolai schläger Michel Gnjan Lorenz Oswald Tuffli Juon Grapp Lorient Ottli Turnes Heldstab Lerch Putzi Wiedun Wie in andern Gegenden, so spielte auch in St. Antönien früher der Aberglanben eine bedeutende Rolle. Die Sulzfluhbroschüre bemüht sich ( Seite 25—29 ), nachzuweisen, daß ein gewisser Weber im 17. Jahrhundert als Hexenmeister zum Tode verurtheilt und als Zeugniß gegen ihn u. A. aufgebracht worden sei, daß er die Höhlen an der Sulzfluh besucht habe. Ich weiß nicht, wie es sich damit verhält, vielleicht wird es mir noch gelingen, diese Geschichte ganz klarzulegen. Actenmäßig bewiesen ist dagegen, daß das Hochgericht Castels im Jahre 1655 ein großes Strafgericht gegen vermeintliche Hexen und Hexenmeister abhielt und daß demselben auch ein gewisser Oswald Perr aus St. Antönien zum Opfer fiel. Aus den von mir in den Nummern 22 und 23 des „ Bündner Volksblattes " von 1886 veröffentlichten Acten ergibt sich kurz Folgendes:
Oswald Perr ( vielleicht eher Berr, eine Oertlichkeit in Ascharina heißt noch Auf Berrawies ) war angeklagt: 1 ) daß er jederzeit „ beschwöre " und verbotene Bücher halte und lese; 2 ) daß er künst und mittel habe „ zu stellen "; 3 ) daß er behaupte eine selbstgegrabene Wurzel „ Aller-manns Harnisch " zu besitzen, die gegen hauen und stechen schütze; 4 ) daß er an Menschen und Vieh auch aus der Entfernung das „ bluten " stellen könne; 5 ) daß er nach Aussage des hingerichteten Hexenmeisters Pfründ von Fideris an zwei Plexentänzen aufgespielt habe, das eine Mal in Schabers Au, das andere Mal im Fideriser Felde in Bäderis. Der unglückliche 71jährige Greis wurde eingezogen und auf dem Rathhaus in Luzein verhört. Er gab zu, Beschwörungsbücher zu haben, davon er ein 's verbrannt habe, weil es ihm unheimlich gewesen sei. Eine Wurzel für die „ Gfrörne " habe ihm Hans Jakob Aeberli von Zürich angegeben. Das Blut könne er durch einen ( frommen ) Spruch stellen, denn er sei ein Sonntagskind. Eine Geige habe er seit 7 Jahren nicht mehr. Als er dann Vormittags „ an das Seil gelegt " wurde und Nachmittags, „ um sich weiter zu besinnen ", in die ^Kluppa ", gab er zwei Geschwornen, dem Hans Fient und Hans Fried, zu, daß er vor vielen Jahren in Igis zu einem verdächtigen, nächtlichen Tanz auf der Wiese unter dem Dorf „ aufgemacht11 habe auf Veranlassung zweier junger Weibsbilder. Auch zu Stäfa im Zürichbiet sei er darum angegangen worden, aber auch hier sei nach kurzem Tanze das Volk auseinandergestoben wie der Wind. Ferner habe ihn einmal vor 4 oder 5 Jahren bei Dalvazza ein hübsches, junges Mädchen in grüner Kleidung Nachts zu einer „ Stubeti " in Schabers Au mitgenommen. Bei weiterer Inquisition gab er dann unzüchtigen Verkehr mit einem solchen Mädchen am Schollberg zu, die Geißfüße gehabt habe u. s. w. Auch daß er seine Frau „ gebannt " und mit zwei Hexen in einer „ Heu-zumma " und in des Teufels Namen zu Tanz durch die Luft gefahren sei. Er wurde mit dem Schwerte hingerichtet und sein Leib verbrannt.
Der stete und ernste Kampf der Thalbewohner mit der Natur ihrer Berge und mit dem Leben überhaupt wird es mit sich gebracht haben, daß die Sage hier nicht in dem Maße poetische Gebilde schuf wie in vielen andern Gegenden. Eines dieser wenigen Gebilde ist die nachfolgende Erzählung, die wir seiner Zeit im 19. Heft des „ Schwizerdütsch " ( Herausgeber Prof. O. Sutermeister, Verleger Orell Füßli & Cie. ), Seite 55 ff., veröffentlicht haben, und die zugleich als Sprachprobe aus St. Antönien gelten mag.
D'Chöpflerboda-Risa.
I Sand-Atönja ist d' Spitzialp und dort heißt's amen Ort im Wald i „ Chöpflerboden ". Vor alten Ziten hed' s dort Risa gän und alt Lüt wüssend van däsälben noch allerlei z'erzellen.
Die Risa heind dort gäpuret, aber wie's schynt, sind seh'denn nid grad die Brevsten gsin mit Holz und Streuwi und Heu sammlen; über-hopt müeßend seh'ättäs ummer glümpelet han. Ämmal, daß seh'widrm es Missi bägangen heind ghan, sä sind seh'dua für d' Obrigkeit bschickt worden. An dämm Tag, wa seh'fürträtten heind sollen, sä chunnd aber der Sterchst van denen Kärli mid ämä Püüschen in der Hand, stellt dän für dr Ratstuba nider, daß di Tschätschel uusgflogä sind und rüefd zäm offna Pfänster in, waß seh'wellend mümma. Dua hejend d' Herrä enandrn aso anglueget und hejend bim Sakerbränt fast nümma schnufen törfen. Zletst hei denn aber dr Laudammen zäm Ris gseid, äs müeß da an Irrtig fürgangä sin, är soll nu widrm heingan.
Äs anders Mal hättä seh'd' Obrigkeit au widrm gärn gstrafet. Bschicken heindschesch aber nümma törfen und dua ist nen dua z'Sind chon, schi wellend ämal sälber uf i Chöpflerboden gan und seh'mid'n par starchen Maa — m probieren abzfassen. Richtig heind seh'denn das so gmachet und sind es hübschen Tagsch z'gmeinem Rat ufgangen. Zuafällig sy nun Eina däheimet gsin. Dar hei denn die Herra bewillkommnet und sy asvielas mächtig fründlächa gsin. Aber dm Landammen hed' r schint's wohl starchhaft d' Hand gäbotten, so daß dämsäba d's Blued us da Fingern gsprützt sy. Dr Ris hei denn gfreget, ob seh'Milch trichen mögend, und wie seh'gseid hejend Ja, sä hej är dri groß Gepsa voll Milch uf einmal usem Chäller gfergget, ir an iederä Hand en Gepsa und denn noch eini obna druf. Schi heijä ma wellen das oberist Gschir abnähn, aber är hein en zär Antwort gän, schi sollend schi nun nid bemüejen; wenn's di Tübleni hebend, sä hebend' di Tümmleni au. Wie seh'dua Milch gätruchen hejend ghan, sä sy dr Bueb vam Ris mid Holz usem Wald chon, är hei äso an zweischüejägä Püschen uf dr Agsla ghan und ordeli gschwitzt. D'r Alt hei gfreget, warum'r nid meh gfergget hei, und dua hei dr Buab gseid, wil' nid meh tragen hei mögen. Uf das hi rrääggi dr Alt und sägi, äsie hättä ma schi gschämmt, mit derämä Grotzen heinzchon. D'Herra van dr Obrigkeit hejend dua doch nid gwaget, hinder d'Risa här z'gan und hejend dua ds Wort ghan, schi hejend ämmal choo wellen gä lluegen, wie hiibs Veh daß seh'hejend.
Zletst sy denn van da Risen nun noch Eina überig meh gsin, und dar sy ämmal vam Platz uuf chon uf Aschuel. Dort bägägnämä en Henna und fregen en, was'r meini, weis gschiber sy, daß schy inn tragi, old är schy. Dr Ris hei gsehn, daß da ättäs meh as rächt sy, und hei schi äso ä Wwil bsunnen. Entli sä säg er denn, är meinti, es weh gschiber, wen är schy trüegi. Und wil' r dass ägi, sä schwing är schä uf d' Agsla und sy vorwärts. Zerst hejerschä ring gätragen, aber ieverzua sy seh'schwerer worden, zerst wie es Schaf, de wie es Galtji, därnah wie e Chue und so albig. Är hei scha wellen abwarfen; aber är hei nümma chönnen und schließli sij'r erstickt. Äs ist schynt's dr bösch Geist in dr Henna gsin.
Heutzutage sorgen weltlicher ( zwei Schulen ) und geistlicher Unterricht, die Leetüre ziemlich vieler ZeitungeD, die Benutzung einer im Jahre 1888 eingerichteten Volksbibliothek, vermehrter Verkehr mit Cultur-menschen u. s. w. dafür, daß die Hexenmeister, der Grüebjibutz ( Gespenst am Partnunersee ) und „ d' Chöpflerboda-Risa ", nicht wiederkommen. Die Thalbewohner begehren keinen mehr vor das Blutgericht zu bringen, der ihre majestätischen Berge besteigt und deren tiefdunkle Höhlen zu ergründen sucht, sondern Jeder, der das thun will, ist ihnen bestens willkommen, und es rinden die Fremden gute und billige Unterkunft in den beiden Pensionen „ Dönz am Platz " ( 1420 m n. M. ) und „ Sitlzfluh " in Partnun ( vom Platz ¾ Stunden einwärts, Höhe 1662 " ' ).
Zum Schluß noch eine Anzahl Wegangaben und Tourenbezeichnungen: Küblis ( Bahnhof ) auf dem Schanielasträßchen nach St. Antönien-Platz2 Std.
Küblis ( Bahnhof ) über Pany nach St. Antönien-Platz.. .3 „ Jenaz — Pany nach St. Antönien-Platz3 „ Schiers — Buchen — Pany nach St. Antönien-Platz 3 lla „ Schiers — Stels — Alp Valpun nach St. Antönien-Platz. .4 „ St. Antönien-Platz —Kreutzberg ( 2200 m)2Kühnisberg ( 2416 m)2Eggberg ( 2200 m)lJägglishorn ( 2252 m)21 Madrisahorn ( 2830 m ) und zurück = Tagestour.
Sulzfluh ( 2820 m)4 Std.
Partnun — Sulzfluh — Tilisuna — Partnun6 „ St Antönien-Platz—Joch ( 2375Gargellen und zurück9 „ Partnun — Scesaplana und zurück 2 Tage.
Plesseggapaß ( 2345 m)2Schiafluh ( 2630 m)2St. Antönien-Platz — Gafiersee — Alpelti und zurück ...5.,Schollberg ( 2574»)4 „ Partnun — Schollberg4 „ u. s. w. Daneben viele leichte und schöne Alp- und Gratwanderungen.
Berichtigungen:
Seite 68, Zeile 5 von unten ist zu lesen: ab der Weißfluh 2 Uhr 50 Min. ( statt 3 Uhr 10 Min. ), auf dem Schwarzhorn 3 Uhr 30 Min. ( statt 3 Uhr 20 Min. )
II.
Freie Fahrten.