«Das Eis kam quasi über Nacht» Provokante These zum 75-Jahr-Jubiläum der Stiftung für Alpine Forschung
Das Abschmelzen der Alpengletscher sei weder neu noch ungewöhnlich, sagt der Berner Geologe Christian Schlüchter. Vom Gletscher freigegebene Baum-stämme belegen: Wo heute Eis liegt, war früher Wald.
Sie sagten einmal, es habe Sie «tschuderet», als Sie vor 20 Jahren am Steingletscher zum ersten Mal auf einen Arvenstamm stiessen, den der Gletscher freigegeben hatte. Warum?
Man findet etwas Banales. Ein Stück Holz. Aber am falschen Ort! Als Geologe sieht man: Wir sind oberhalb der Baumgrenze, der Stamm kommt aus dem Gebiet, das heute vom Gletscher bedeckt ist. Das war neu, unerhört, unerwartet.
Es entsprach nicht der Lehrmeinung, wonach die Gletscher seit der Eiszeit nie kleiner waren als heute?
Die Lehrmeinung interessierte mich in dem Moment weniger. Spannend war: Bis dahin ging es in der Forschung darum, sichtbare Moränen von alten Gletschervorstössen zeitlich einzuordnen. Wegen fehlender Daten – und vielleicht auch fehlender Überlegungen – hatte man sich bis dahin gar nie so recht gefragt, was eigentlich zwischen diesen Vorstössen war. Mir war sofort klar: Meine Funde könnten diese Frage beantworten und die Lücke schliessen. Aber erst musste man die Funde natürlich datieren.
Wie geschah das?
Wir verwendeten zwei Methoden. Zum einen konnten wir organisches Material, Holz oder Torf etwa, mithilfe des darin enthaltenen radioaktiven Kohlenstoffs (C14) datieren. Zum anderen arbeiteten wir mit der Dendrochronologie, die Bäume anhand der Jahrringe datiert.
Dabei sind Sie zum Schluss gekommen, dass die Gletscher während der Hälfte der letzten 10 000 Jahre kleiner waren als heute. Wie kann man aus dem Alter einzelner Proben schliessen, wie lange diese Phasen andauerten?
Das war eine unserer zentralen Fragen. Zum einen helfen uns die Holzproben selbst. Wenn ein Arvenstamm 600 Jahrringe hat, wissen wir, dass der Baum 600 Jahre lang dort stand. In dieser Zeit muss der Gletscher kleiner gewesen sein. Zum anderen stammen alle unsere Proben aus gewissen Zeitfenstern. Aus den Jahrhunderten dazwischen fanden wir keine Proben.
Kritiker werfen Ihnen vor, Massen- und Energiebilanz der Gletscher nicht zu berücksichtigen. Vielleicht war es nicht wärmer, und die Gletscher waren einfach kürzer, weil im Winter weniger Schnee fiel?
Das ist ein heikler Punkt. Am Tschiervagletscher im Engadin haben wir sehr gute Informationen aus dem Holz. Die Arven hatten gute Wachstumsbedingungen. Mit geophysikalischen Methoden haben wir versucht, herauszufinden, wo die Bäume herkommen. Wir fanden unter dem Gletscher einen Talboden. Wenn die Bäume dort gewachsen sind, muss es vor 7000 Jahren etwa 1,8 Grad wärmer gewesen sein als heute, bei wahrscheinlich gleichem Niederschlag.
Anders sieht es am Unteraargletscher im Haslital aus. Hier haben wir in alten Torfstücken nach Überresten von Insekten gesucht. Von den Arten, die vorgekommen sind, kann man auf die Wintertemperatur schliessen – manche Larven sterben unter einer gewissen Temperatur ab. Hier sieht man, dass die Winter wirklich kalt waren. Es gab weniger Föhn und mehr Bise. Und darum weniger Niederschlag.
Die eisfreien Perioden waren also nicht wärmer?
Das wäre eine Vereinfachung. Man muss beide Möglichkeiten in Betracht ziehen.
Nun gibt es aber den Ötzi, der rund 5000 Jahre alt ist. Wenn er so lange unter dem Eis war, muss das Gebiet ja konstant vergletschert gewesen sein …
Aufgrund des angegebenen Fundortes und der Beschreibung der Fundumstände bleibt Ötzi aus meiner Sicht ein unerklärlicher Spezialfall, zu dem ich nicht fundiert Stellung nehmen kann.
Die Überlegung gilt aber auch für Ihre Funde. Wenn ein Baumstamm 7000 Jahre unter dem Gletscher überdauert, war der Gletscher 7000 Jahre da.
Das ist – gerade bei den Hölzern vom Glacier du Mont Miné – eine sehr gewichtige Frage. Wir haben uns immer überlegt: Warum ist das Zeug noch in einem so guten Zustand? Es gibt nur eine Erklärung: Es wurde in der Zwischenzeit mit Sand und Kies zugedeckt.
Das Holz kommt also nicht aus dem Eis, sondern aus dem Sediment?
Aus dem Sediment unter dem Gletscher, ja. Wahrscheinlich erfolgte erst das letzte Stück des Transports im Eis. Der Gletscher hat die Stämme wieder freigelegt und mitgeschleppt.
2004 sorgten sie mit der These für Furore, dass die Zeiten mit «grünen Alpen» an eine starke Sonnenaktivität gekoppelt waren. Ist diese Schlussfolgerung noch aktuell?
Ja. Mittlerweile hat man in Nordgrönland Moose gefunden, die zu den gleichen Zeiten vom Gletscher überfahren wurden. Und soeben komme ich aus der Antarktis zurück, wo russische Kollegen dasselbe fanden – allerdings nicht Holz oder Moos, sondern Meeresmuscheln. Ich bin der Überzeugung, dass das ein globales Muster ist. Es gibt einen Steuerungsmechanismus, aber wir wissen nicht, wie er genau funktioniert.
Wie erklären Sie sich, dass diese Klimaschwankungen in anderen Archiven, etwa Eisbohrkernen, nicht auftauchen?
Möglicherweise zeigt der grönländische Eisschild einfach ein geglättetes Signal. Vielleicht bilden die Alpen mit dem atmosphärischen Wechselspiel zwischen Mittelmeer und Atlantik eine viel grössere Dynamik ab. Oder interpretieren wir die Eisbohrkerne einfach ungenügend?
Nun mag es früher warme und kalte Phasen gegeben haben. Die gegenwärtige Erwärmung scheint aber besonders schnell abzulaufen. Wie passt das in Ihre Thesen?
Das ist nichts Ungewöhnliches. Das war auch in vergangenen, kälteren Zeitabschnitten so. Auf eine wärmere Phase folgt meist eine einschneidende Abkühlung. Dann wird es etwas wärmer, dann noch kälter und so fort. Die Erde taumelt gewissermassen in die Kälte. Dann geschieht etwas, und plötzlich steigen die Temperaturen rasant. Das war bei den grossen Eiszeiten so, und das gilt auch für die «kleine Eiszeit», die um 1850 zu Ende ging. Die Erwärmungsphase ist immer beschleunigt.
Rasante Klimawechsel sind also nichts Ungewöhnliches?
Das Klima hat sich in der Vergangenheit auch schon schneller verändert. Die Menschheit hat das in ihrer Geschichte auch so mitbekommen. Nehmen Sie die Blüemlisalpsagen: Die Sennerin macht einen Blödsinn, am Tag darauf ist die Alp unter dem Gletscher. Das Eis kam quasi über Nacht. Für mich ist das eine Erfahrung, die die Leute in den Bergen machten. Dass sich die Natur manchmal sehr schnell ändert. Schneller, als wir heute denken.
Wenn solche schnellen Erwärmungen normal sind, welche Rolle spielt dann der Mensch?
Der Einfluss des Menschen ist erst ab den 1950er-Jahren eindeutig sichtbar. Absolut zentral ist für mich dabei die Frage: Warum kam es zur «kleinen Eiszeit»? Warum hörte sie 1850 auf? Der Untere Grindelwaldgletscher etwa hat sich schon vor 170 Jahren zurückgezogen, noch bevor der CO2-Gehalt in der Atmosphäre angestiegen war. Warum? Diese Frage ist nicht sauber beantwortet.
Dann können wir uns also zurücklehnen und aufhören, unseren Energieverbrauch einschränken zu wollen?
Im Gegenteil. Ich würde sogar sagen, wir machen immer noch zu wenig. Es geht ja nicht nur um das CO2. Es geht um Luftverschmutzung, den Umgang mit Ressourcen. Wir gehen mit einer Art Übermut auf die Welt los, weil wir jederzeit überall alles haben wollen. Oder wie wir mit dem Wasser umgehen! Und am Ende leben wir doch vom Wasser. Nein, wahrscheinlich machen wir noch viel zu wenig.
Stiftung für Alpine Forschung: vom Lhotse zur Klimaforschung
umsschrift Extrembergsteigen trifft Wissenschaft feiert die Stiftung Alpine Forschung Schweiz
Als sich Höhenbergsteigen und Forschung immer mehr auseinanderentwickelten, beschränkte die Stiftung ihre Unterstützung zusehends auf Unternehmungen mit einer spezifisch wissenschaftlichen Zielsetzung. Daneben rückte die Forschung in den Alpen ins Zentrum. Dabei sollen laut Stiftungspräsident Etienne Gross gezielt Projekte gefördert werden, die nicht dem Mainstream entsprechen.
Jüngstes Beispiel sind die Forschungen von Christian Schlüchter zu Klimaschwankungen und Gletscherentwicklungen in den letzten 10 000 Jahren, die seit 2007 von der SSAF unterstützt werden.