Col Nudo.
2471 Meter S. Welcher, Wien Der Alpenbogen von Genua bis zur Donau-pforte bei Wien ist lang, sehr lang. Wie viele Berge in ihm stehen, weiss ich nicht, aber es sind viele, viele, sehr viele! Kein Bergsteiger, und täte er sein ganzes Leben nichts als alle Tage Berge ersteigen, könnte den Vorrat erschöpfen, wären seine Sehnsucht und Tatkraft noch so gross. Aber alle diese Berge sind da, sind erreichbar, und so ist dem Tatendrang des bergsteigenden Menschen keine Grenze gesetzt; er wandert von Berg zu Berg, bald da, bald dort, findet überall sein Glück, wo immer auch sein Berg stehen mag. Einer von diesen Bergen, im fernen Süden, hart am Rande der venezianischen Ebene, ist der Col Nudo, von dem jetzt die Rede geht.
164, Am Mittwoch, dem 27. August 1958, erstiegen wir, von der schönen Stadt Belluno ausgehend, den als Skiberg sehr berühmten Col Visentin, 1764 Meter. Sein Vorzug als letzte südliche Vorlagerung der Südalpen liegt in dem « wundervollen » Blick auf Venedig mit der « blauen » Adria. Wir genossen diesen Blick zwar nicht, der Frühnebel hatte ihn vereitelt, wir bewunderten dafür die prächtige Südwand der Schiara, die wir zwei Tage später, am Freitag, dem 29. August, auf der Ferrata Zacchi auch erstiegen. Diese äusserst ausgesetzte und anstrengende Eisenkletterei lässt wenig Zeit zum Schauen, aber wir zwangen ihr doch ab und zu eine Rast ab. Über den Col Visentin waren wir schon lange hinaus, und da aus-, nahmsweise weder Nebel noch Morgendunst die Fernsicht hinderte, konnten wir auch den « blauen Streifen der Adria » grüssen. Weit mehr aber zog meinen Blick ein mächtiger Gebirgsstock im Osten an, ein weites, hohes « nacktes » Felsgebilde mit ebenmässigen Graten und Flanken. « Der nackte Berg », sagte ich zur Gefährtin; sie nickte und stellte fest: « Col Nudo ». Da war er also, der Berg, dessen ausgezeichnete Beschreibung ich in der Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins 1911 und 1912 als iTJähriger Jüngling mit Begeisterung gelesen, wobei ich auch die Leistungen des unermüdlichen Lothar Patera bewundert hatte. Wie unruhig doch so ein Menschenherz sein kann; da steigt man soeben mit grösster Sehnsucht zum Gipfel eines Berges hinauf, und noch nicht oben, gärt es im Herzen schon wieder aufs neue.
Auf dem Gipfel der Schiara hatten wir dann bei klarstem Wetter nicht nur Gelegenheit, die schon von Merzbacher in der Zeitschrift des DuÖAV 1879 so sehr gerühmte Aussicht zu geniessen, von der er sagt, « sie sei die beste von allen Bergen in den Alpen », sondern auch den Aufbau des Col Nudo und seines Gefolges bis zum Monte Cavallo zu studieren; wir taten es reichlich, und als wir Abschied nahmen, riefen wir ihm ein fröhliches « Auf Wiedersehen » zu.
Ende Juni 1962 waren wir wieder in Belluno, auf dem Weg zu Col Nudo. Eine etwas umständliche Busfahrt brachte uns nach Cadola und von dort hinauf nach Pieve d' Alpago; ein grauer Himmel und verschneite Berge haben uns da oben empfangen, aber es gab auch grüne Wiesen, viele Blumen und blühende Bäume und, nicht zuletzt, freundliche Wirtsleute.
Am Montag, dem 28. Juni 1962, verliessen wir Pieve um 6 Uhr morgens. Der Strasse folgend, erreichten wir in kurzer Zeit Plois und die ganz nahe dabei befindliche Kirche von Curago mit den wenigen kleinen, alten Häusern. Auf gutem Fahrweg, vorbei am winzigen, geschlossenen Rifugio Carota, führt der Weg fast eben in das Stabalital hinein zur Casera Scalet Bassa, einem viereckigen, kahlen, nur mit Tür- und Fensteröffnungen versehenen, sonst aber völlig leeren Be-tonwürfel, der trefflich zu dem grauen Himmel und zu dem tiefliegenden Nebel passte; wie aber zur Versöhnung mit dieser tristen Landschaft, schoss neben der Hütte aus einem langen Eisen-rohr ein armdicker, eiskalter Wasserstrahl, und daneben stand, meterhoch und voll aufgeblüht, eine Feuerlilie in ihrer ganzen Schönheit.
In der kleinen, sumpfigen Wiese, neben der die Hütte steht, verlor sich der Weg. Ein Hin- und Hersuchen begann, bis ich zwischen Erlenstauden eine dürftige Wegspur fand, der wir folgten, aber nicht lang; in wenigen Minuten war sie zu Ende, und nun hiess es zwischen den eng neben-einanderstehenden Gebüschen mühsam aufwärtssteigen, bis wir die Höhe der ersten Talstufe erreicht hatten und die ersten Trittspuren in den Schnee zeichneten; wir waren im Reich des Winters. Wohin das Auge blickte, soweit es der knapp über dem Kar lastende Nebel erlaubte, gab es nichts als Schnee und Nebel. Nur an einer Stelle, östlich von uns, war im Nebel eine lichte Einbuchtung zu sehen; das musste der Passo Valbona sein, 2122 Meter, das erste Tagesziel; von ihm aus wollten wir die Cima Lastei, 2439 Meter, erreichen und dann über den Grat zum Col Nudo hinübergehen; das wollten wir, aber es kam anders. Welcher Bergsteiger weiss nicht, wie mühsam es ist, stundenlang, bis weit über die Knie hinauf im weichen, sulzigen Schnee, dahinzuwaten; hier war in dieser Hinsicht eine Meisterprüfung abzulegen. Zum Abschluss zog ein Schneehang sehr steil, wohl an die 60 Grad, zum Pass hinauf, höchst lawinengefährdet. Da hinauf? Nein! Ich suchte nach Auswegen; ich fand einen, da war der Hang nicht so steil, aber er zog nicht zum Pass hinauf, sondern zu einer Felswand nördlich von ihm; da musste es gehen! Es ging, aber nur knapp bis zur Felswand, dann machte eine mächtige Randkluft jedes Weiterkommen unmöglich. Also umkehren! Das taten wir, aber nur bis zum steilen Hang, der direkt zum Pass hinaufzog. « Vorsicht !» sagte ich, dann stieg ich, Tritt für Tritt, senkrecht den Hang empor; wir waren oben!
Der Nebel hatte sich inzwischen ein bisschen gehoben, wir konnten in die oberste Mulde des berühmten Chialedinatales hinabblicken, vor allem aber auf den steilen Hang, der zur Cima Lastei hinaufleitet; tiefster Winter, nichts als Schnee und Nebel. Aber wir gingen weiter; weiterhin sanken wir bei jedem Tritt bis über das Knie in ein Gemisch von weichem Altschnee und nassem Neuschnee, und so war es kein Wunder, dass wir bereits durch und durch nass waren; was oberhalb der Hüften noch trocken war, das wurde jetzt mehr und mehr ein Opfer des Regengerie-sels, das immer ausgiebiger aus dem Nebel fiel. Zweimal wurde der Hang durch waagrechte, ein bis zwei Meter hohe Felsriegel unterbrochen, bei deren Übersteigung ich erkennen konnte, wie hoch der Schnee auf dem steilen Hang lag. Stunden waren vergangen, wir kamen kaum vom Fleck, wühlten uns aus einem Schneeloch in ein anderes und fluchten. Dann aber war es mit diesem Vergnügen zu Ende; links und rechts - der Hang war inzwischen noch steiler geworden -rauschten die ersten Schneerutsche neben uns in die Tiefe. Bei einer kurzen Stehrast hob sich der Nebel etwas und zeigte mir, wie weit der Hang noch hinaufzog, steiler noch als bisher, und wie gross die Lawinengefahr war. Schluss! In aller Eile wateten wir in unserer breiten Spur hinab zum Joch, brachten auch den gefährlichen Joch-hang hinter uns und wateten weiter, bis der Schnee weniger wurde und dann beim Gemäuer der alten Casere Scalet Alta dem frischen Grün weichen musste. Das Schnee- und Regengeriesel hatte ausgesetzt, der Nebel blieb. Sieger waren jetzt doch die grünen Matten, die ersten roten Primeln und blauen Vergissmeinnicht. Jetzt war es Zeit, eine Rast einzuschalten. Hunger und Durst quälten uns nicht, aber die Nässe. Die Schuhe wurden ausgezogen, das Wasser entleert wie aus einem Topf, die Strümpfe ausgewrungen und zwei ungebrauchte Taschentücher als Fusslappen um die warmgeriebenen Füsse gewickelt und die Füsse in die vorher trockengewischten Schuhe mit einem Wonnegefühl hineingeschoben. Wie da die Welt gleich anders aussah, wie grüner die Wiese wurde und wie freundlich die Blumen leuchteten!
Vom Gemäuer der alten Casera weg leitet eine alte Wegspur knapp unterhalb einer etwas überhängenden roten Felswand, die bereits das Gold der Aurikel schmückte, hinab zum Betonkasten der unteren Scaletalm. Traurig hatte die Feuerlilie ihre Blüte geschlossen, traurig hing sie am hohen Stiel, als wollte sie sagen: « Ich kann nichts dafür ». Der Wasserstrahl aus der Eisenröhre aber, der lebte; weit im Bogen schoss er über den Weg, sprühend und jauchzend wie das junge Leben. Lilie und Wasserstrahl! Von beiden nahmen wir Abschied mit dem Gruss « AufWiederse-hen ».
Als wir, schlendernd, nach 18 Uhr Curago erreichten, gab es beim einzigen Kaufmann eine fröhliche Einkehr. Alle fragten « woher », alle hielten die Hände vor das Gesicht und sagten entsetzt « hu, hu ». Alle aber waren die Freundlichkeit selbst, und was wir nur haben wollten und zu haben war, lag bald vor uns aufgetürmt. Dorfleute kamen, junge und alte, viele Fragen gab es und herrlichen « Roten ». Und als wir zur späten Stunde schieden, um noch nach Pieve in unser Quartier hinabzugehen, hiess es von allen Seiten: « Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen! » Ein Jahr später, am 23.Juni 1963, waren wir wieder in Belluno. Diesmal liessen wir uns von einem Taxifahrer bis nach Plois hinauffahren, um uns am nächsten Tag den Strassenanstieg von Pieve nach Plois zu ersparen; im einzigen Hotel waren wir gut untergebracht. Diesmal standen die Wiesen, die Blumen, die Bäume in voller Blüte, und von den Gipfeln der Berge leuchteten nur noch die letzten Schneereste. Am 24. verliessen wir um 4.50 Uhr Plois und gingen den uns schon bekannten Weg zur Casera Scalet Bassa. Inzwischen hatte man mit dem Bau einer Hütte unterhalb des Monte Dolada begonnen, und da wir nicht genug auf den Weg achteten, gingen wir an der Abzweigung des Weges in das Val Stabali vorbei, was wir erst bemerkten, als wir schon fast oben auf dem Monte Dolada waren. Wir kehrten rasch um, hatten aber durch den Irrtum doch eine Stunde Zeit verloren, die uns später fast um den Gipfel des Col Nudo gebracht hätte. Auf dem richtigen Weg angekommen, waren wir bald bei dem alten Betonkasten; aber siehe da, leuchtend empfing uns wieder die prächtige Feuerlilie, und der Wasserstrahl aus der Eisenröhre schoss noch mächtiger über den Weg, und sein feiner Sprühregen funkelte in allen Farben des Regenbogens; das war ein freudiges Wiedersehen. Aber der Himmel !? Frühmorgens war er noch hell, jetzt nur noch da und dort etwas sonnig, sonst aber schien es, als zögen von allen Seiten schwarze Wolken zum Angriff auf die « nackten Berge ». Da uns jetzt der Steig hinauf zur alten Casera Scalet Bassa bekannt war, hatten wir sie bald erreicht, und bald auch standen wir wieder am Passo Valbona. Heute war schon mehr von seiner Umgebung zu sehen. Die Tiefe des Val Chialedina lag aufgeschlossen vor uns, die Abstürze des Monte Teverone mit seinen Schluchten und Rinnen sind ein grandioses Bild, und unser Hang hinauf zur Cima Lastei sah wie eine steile, aber gemütliche Wiese aus, aus der da und dort zur Augenweide Felsbänke, Platten und Türme herausragten. Jetzt sah ich, dass die Felsbänke, die wir vor einem Jahr überstiegen, damals nur zu einem Drittel aus dem Schnee ragten. Langsam näherten wir uns dem Gipfel der Cima Lastei; schneller als wir aber waren die düsteren Wolken, und als wir den Gipfel betraten, zuckten bereits die ersten Blitze und rollte der Donner. Nun beeilten wir uns, die einzige etwas schwierige, aber sehr ausgesetzte Kletterstelle des Grates hinüber zum Gipfel des Col Nudo hinter uns zu bringen; sie führt in eine schmale Scharte hinab, aus der dann der Gipfel gewonnen wird. Eben als wir diese Scharte betraten, setzte das Hochgewitter ein. Auf der Südseite etwas absteigend, fanden wir bald einen leicht überhängenden Fels, krochen in den Zeltsack und warteten. Warten ist meine schwächste Seite, aber diesmal ging es nicht anders. Blitz folgte auf Blitz, Donner auf Donner, und wenn beides, was oft der Fall war, zugleich erfolgte, zogen wir den Kopf, wenn möglich, noch ein Stück tiefer zwischen den Schultern ein. Endlich, so nach einer halben Stunde, wurden die Pausen zwischen Blitz und Donner länger; da schlüpften wir rasch aus dem Sack, liessen alles liegen und stürmten die letzten Gratfelsen hinauf zum Gipfel; aber so einfach war es doch nicht. Ein mächtiger, völlig eisiger Schneeschild von bedeutender Ausdehnung und Steilheit stellte sich uns noch in den Weg. Natürlich lag der Pickel wegen der Blitze unten unter dem Überhang, und so war es ein recht hartes Stück Arbeit, den Eishang zu überwinden; die Gefährtin hatte es etwas leichter, sie folgte rasch, durch das Seil gesichert, und dann reichten wir uns freudig bewegt die Hände zum Gruss. Fern rollte der Donner, Nebel wallten aus den Tiefen beider Seiten, ab und zu vom magischen Licht eines Blitzes durchleuchtet, bald da, bald dort wurde ein Stück eines Tales mit Strassen und Häusern sichtbar; im Steinmann stak ein einfaches Kreuz, zwei Hölzer mit einem Bindfaden verbunden. Wir grüssten den Berg, wir grüssten das Kreuz, und wieder einmal hiess es Abschied nehmen.
Die Kletterstelle hatten wir bald hinter uns, und dann ging es flott den Hang hinab, freilich nicht im eitlen Sonnenschein, sondern bei Regen- fall; das Gewitter hatte sich verzogen, der Regen aber blieb uns treu bis zum alten Gemäuer der Casera Scalet Alta, dann lichtete sich der Himmel allmählich, und als wir die untere Alm erreichten, fielen gerade die ersten Sonnenstrahlen auf unsere alte Freundin: Hoch aufgerichtet, glühend im Sonnenlicht, inmitten eines vom Wasserstaub gebildeten und in allen Regenbogenfarben leuchtenden Kreises, stand,wie ein Gleichnis von Sehnsucht und Erfüllung, die Feuerlilie der Casera Scalet Alta.
Langsam gingen wir den bekannten Weg hinaus nach Curago zu unserem Wirt. « Hallo, da sind Sie ja wieder! » schallte es uns entgegen, und als die Gefährtin fragte: « Ja, kennen Sie uns noch? », da stellte sich die Wirtin stramm auf und meinte: « Oh ja, Sie sind ja die Signora aus Draht und Eisen! » Und da wir diesmal nur wenige Minuten hinüber zu unserem Nachtquartier in Plois hatten, wurde das « Gelage » noch reichlicher als vor einem Jahr. Als wir dann doch Abschied nehmen mussten, hiess es freilich wieder: « Auf Wiedersehen! »Ja, auf Wiedersehen !? Ist es nicht unser Schicksal als Mensch und Bergsteiger, dieses « Wiedersehen »? Freilich, nicht immer kehren wir zu ein und demselben Berg zurück, wäre das Glück auch noch so gross gewesen, das Erlebnis noch so tief. Zu viele Berge hat unsere Mutter Erde, zu viele, kein Mensch kann auch nur einen Bruchteil davon ersteigen, und würde er dazu sein ganzes Leben verwenden, Tag für Tag, Jahr für Jahr. « Unruhig ist unser Herz, o Herr, unruhig, bis es eines Tages ruhet in Dir! » ( Augustinus, Bekenntnisse. )