Capanna Regina Margherita
VON ELISABETH RÜTIMEYER, BASEL
Mit I Bild ( 92 ) Von allen grossen Eisgipfeln, die Zermatt umgeben, hat mich der Monte Rosa von Anfang an mit geheimnisvoller Macht angezogen und nicht mehr aus seinem Bann entlassen. Wohl habe ich im Lauf der Jahre alle Zermatter Riesen bestiegen, mit stets wachsender Freude und Begeisterung. Aber immer wieder kehrte ich zum Monte Rosa zurück, zu « Fuss » und auf Ski, bis ich seine sämtlichen elf Gipfel kennengelernt hatte. Denn der Monte Rosa ist ja nicht ein einzelner Berg wie seine Nachbarn ringsum, sondern ein ganzes Bergmassiv, dessen eis- und schneegepanzerte Nordseite aus dem weit gedehnten Plateau des Gornergletschers in mehreren, von Felssockeln getragenen Gletscherterrassen allmählich zu den beiden höchsten Spitzen Dufour und Nordend aufsteigt, während die Südostflanke in jäher Steilheit über dreitausend Meter tief in den Hintergrund der italienischen Täler von Macugnaga, Alogna und Gressoney abstürzt.
Diese einzigartige Lage auf der Grenze zwischen der Schweiz und Italien ist es, die mich so stark zum Monte Rosa hinzog. Auf seinen Höhen, die, mit einer Ausnahme, alle über 4000 m liegen, scheiden sich zwei Welten. Gegen Norden schweift der Blick über endlose Firnfelder, Eisflanken und Felsgrate auf eine unabsehbare Reihe von Hochgipfeln hin, die den Horizont abschliessen. Im Süden aber schimmern jenseits von langgezogenen Bergrücken und tief eingeschnittenen Tälern die oberitaliensichen Seen und Flüsse herauf, im fernen Dunst der lombardischen Ebene leise verdämmernd. Wir stehen an der Pforte Italiens! Es ist wie ein erstes Lächeln der heitern Rebgelände und Olivengärten des Südens, das den von Norden kommenden Bergsteiger auf den eisigen Höhen des gewaltigen Grenzberges begrüsst.
Als ersten Gipfel im Monte Rosa-Massiv bestieg ich, wie es sich gehört, die Dufourspitze, meinen ersten Viertausender, den höchsten rein schweizerischen Gipfel. Drei liegen ganz auf italienischem Boden, die andern bilden in ihrem Gratverlauf den Grenzkamm.
Zum ersten Mal erblickte ich da, über den trotzigen Felszacken des nahen Grenzgipfels und den scharfen Schneegrat der Zumsteinspitze hinweg, in der Ferne den breiten Firnrücken der Signalkuppe oder Punta Gnifetti, wie die Italiener sie nach ihrem Erstbesteiger nennen, den mit 4561 m vierthöchsten Gipfel des ganzen Massivs, mit ihren zerklüfteten Steilhängen im Osten und den ausgedehnten Firnfeldern im Norden und Westen. Auf ihrer Spitze erhob sich wie eine Gralsburg, von Wolken umbrandet, fein und klar die Silhouette der Capanna Margherita mit ihrem charakteristischen Turm, neben der Vallothütte am Mont Blanc die höchste Klubhütte Europas. Dieser unerwartete Anblick wirkte so stark auf mich, dass ich von der Stunde an mein Herz an die Signalkuppe verlor! Der tiefe Eindruck ist geblieben und hat sich noch verstärkt, als ich in spätem Jahren mehrmals und auf verschiedenen Wegen dem Ziel meiner Sehnsucht zustrebte, und unauslöschlich haften mir im Gedächtnis die Tage und Nächte, die ich in der Margheritahütte verbrachte.
Die nach der italienischen Königin Margherita benannte Capanna besteht aus einem Observatorium, wo in den Sommermonaten meteorologische Beobachtungen gemacht werden, und einer gut eingerichteten Clubhütte, in der der italienische Hüttenwart aufs beste für seine Gäste sorgt.
Die bei meinem ersten Besuch der Dufourspitze des Wetters wegen nicht mögliche Traversierung zur Signalkuppe gelang mir vier Jahre darauf mit meinem getreuen Zermatter Führer Heinrich Julen aufs schönste. Wir hatten die Dufourspitze vom Grenzgletscher aus auf der interessanten Kletterroute über die Cresta Rey erstiegen und führten sodann die grossartige, luftige Gratwanderung über Grenzgipfel und Zumsteinspitze zur Signalkuppe aus. Oberhalb des Grenzsattels zeigte mir Heinrich in den Felsen der Ostwand den Platz, wo Achille Ratti, der spätere Papst Pius XL, biwakiert hatte, als er die Monte Rosa-Ostwand erstieg. Beim Abstieg von der Zumsteinspitze bot sich uns ein prachtvoller Blick auf diese berühmte Ostwand, die sich in einem von Felsstufen unterbrochenen Firnhang in furchtbarer Steilheit vom Nordend über 3000 m in die Tiefe des Macugnagagletschers senkt, ein Bild von überwältigender Eindrücklichkeit! Über den letzten stotzigen Eishang erreichten wir früh am Nachmittag die Capanna Margherita - mein langgehegter Traum ging in Erfüllung! Und traumhaft waren dann auch die Stunden, die wir im Abendfrieden jenes sonnegesättigten Tages erlebten.
Als wir den brennenden Durst mit Tee und Suppe gestillt, einige Stunden geschlafen hatten und nun bei Sonnenuntergang auf die schmale Galerie hinaustraten, die das Gebäude auf drei Seiten umgibt, wurde uns ein unvergessliches Schauspiel zuteil.
Über dem Talgrund von Macugnaga und Gressoney, wo unser Berg in finstern Felsgraten und wilden Eisbrüchen abfällt, wogte ein Wolkenmeer, das von der sinkenden Sonne rosig überhaucht wurde. Im Norden und Westen aber war der Horizont völlig frei. Zu unsern Füssen erstreckten sich weite Firnflächen, von den letzten Sonnenstrahlen klar und scharf beleuchtet, so dass man jede Bodenwelle, jede Spalte deutlich wahrnehmen konnte. Darüber hinaus ragte, rot lodernd im Sonnengold, die zackige Felskrone der Dufourspitze, und jenseits des Grenzgletschers erhob sich die gewaltige Bastion des Lyskamms. Über den tiefen Einschnitt des Grenzgletschers hinweg wandert der Blick von den Eisriesen des Mont Blanc und Grand Combin über die auch von dieser hohen Zinne aus noch beherrschende Gestalt des Matterhorns zu den edeln Gipfelformen von Dent Blanche und Weisshorn und weiter über die Berner zu den Ostalpen hin, ein unbegrenztes Meer von Gipfeln, die still und fern vor dem durchsichtig grünen Abendhimmel standen, ein Anblick von feierlicher Grosse und unbeschreiblicher Majestät. Mit Worten kann man die Empfindungen eines solchen Abends auf solch hoher Warte nicht wiedergeben. Es sind Feierstunden der Seele, die dem Bergsteiger hier geschenkt werden, wie sie im Leben selten vorkommen. Raum und Zeit scheinen sich in den unendlichen Weiten des Horizonts aufzulösen. Mir war, als schaue ich von einem hoch im Weltraum schwebenden Planeten auf die tief unter mir liegende Erde hinab, losgelöst von der irdischen Welt.
Am andern Morgen weckte uns der Hüttenwart mit der Nachricht, das Wetter habe umgeschlagen. In der Tat wälzten sich dunkle Wolken aus den italienischen Tälern herauf. So mussten wir unsern weitern schönen Plan, den Lyskamm vom Lysjoch aus zu überschreiten, fallenlassen.
Nun ich die Margheritahütte kannte, war ich ihrem Zauber erst recht verfallen, und bald schon zog es mich mit geheimnisvoller Gewalt wieder zur Signalkuppe. Als im nächsten Sommer ungewöhnlich viel Neuschnee in den Bergen gefallen war, wanderte ich, eine unerwartete Aufhellung rasch entschlossen benützend, mit Heinrich auf den Ski den tiefverschneiten Grenzgletscher hinauf. Es war glühend heiss in der beidseits von Steilwänden eingeschlossenen Gletschermulde, der Rucksack drückte, und der Weg wollte kein Ende nehmen. Aber alle Mühsal des langen Aufstiegs war vergessen, sobald wir die Capanna Margherita betraten, freundlich empfangen vom Hüttenwart. Und wiederum erlebten wir einen unbeschreiblich schönen Abend und eine sternklare Nacht. Im strahlenden Sonnenschein fuhren wir am folgenden Tag hinüber zum Lysjoch und jenseits etwas hinab zu der kleinen Felskuppe des Schwarzhorns. In den warmen Gipfelfelsen machten wir eine lange Rast in der grossen Stille dieser weiten Firngebiete, unter einem unergründlich blauen Himmel, und schauten zu den duftigen Savoyerbergen hinüber und hinaus auf die von brodelnden Wolkengebilden überdeckte italienische Ebene in der Tiefe. Eine herrliche Fahrt durch den Pulverschnee des Grenzgletschers hinunter zur Monte Rosa-Hütte bildete den beglückenden Abschluss dieses Tages.
Nicht immer aber empfing mich die Capanna Margherita mit Sonnenglanz und Himmelsbläue. Ich erlebte sie auch im Unwetter und brausenden Sturm Einmal erreichte ich mit meinem Führer nach schwülem Aufstieg über den Grenzgletscher ihr schützendes Dach gerade noch knapp bevor ein Hochgewitter mit elementarer Gewalt losbrach. Ein wütender Sturm fegte über den Gipfel, unaufhörlich flammten Blitze durch die graue Nebelmasse, die uns umschloss, und majestätisches Donnerrollen durchdröhnte die Hütte. Ausser uns beiden waren noch eine Zürcherin mit ihrem Berner Führer Fuchs, von Kandersteg, und vier italienische Touristen da. Stumm hörten und sahen wir dem grandiosen Naturspiel zu, froh über unsere Geborgenheit in der warmen Hütte. Während draussen der Sturm tobte und unter seinen mit furchtbarer Wucht aufprallenden Schlägen das ganze Gebäude erzittern liess, feierten wir vier Schweizer drinnen den 1. August mit Glühwein und Liedern, denen die Italiener wohlgefällig zuhörten - der denkwürdigste 1. Augustabend, den ich je erlebte. Die ganze Nacht, den folgenden Tag und noch eine zweite Nacht stürmte und schneite es weiter, so dass man im undurchdringlichen Nebel keine zehn Schritte weit sehen konnte. Wir vertrieben uns die Zeit mit Essen - der Hüttenwart kochte uns ausgezeichnete Spaghetti -, Schwarz-peterspielen, Besichtigung des Observatoriums und seiner Instrumente. Mit dem Schlafen haperte es je länger, je mehr. Wir spürten die grosse Höhe im empfindlich kalten Schlafraum.
Am Morgen des 3. August legte sich der Sturm so plötzlich, wie er gekommen war. Ein klar blauer Himmel spannte sich über die weite Gletscherwelt; alle Gipfel schimmerten im Neuschneekleid. Dach und Hüttenwände und die umliegenden Felsen waren von einer dicken, in der Sonne funkelnden Eiskruste überzogen. Aber aus der Tiefe im Süden grüssten tröstlich und mild die italienischen Seen und Flüsse und grünen Talgründe herauf zu unserer erstarrten Eiswelt, ein Bild von packender Gegensätzlichkeit.
Nicht weniger eindrücklich als die Sturmtage und -nachte auf der Capanna Margherita war der nun folgende Tag. An die Durchführung unseres ursprünglichen Planes, die Traversierung des Lyskammes vom Lysjoch über Ost- und Westgipfel zum Felixjoch, war bei diesen Verhältnissen natürlich nicht zu denken. Aber da Heinrich wusste, wie sehr mein Herz an dieser schon mehrmals nicht geglückten Tour hing, wollten wir wenigstens versuchen, den Ostgipfel zu erreichen. Die Zürcherin und ihr Führer hatten dasselbe Ziel, und so spannten wir zusammen.
Niemals habe ich eine mühseligere Besteigung erlebt! Schon zum nahen Lysjoch hinüber, das sonst in dreissig bis vierzig Minuten erreicht wird, brauchten wir zwei volle Stunden, da wir uns durch hüfttiefen Neuschnee hindurchwühlen mussten. Und ebenso mühsam und langsam gestaltete sich der Aufstieg in verdächtig heisser Sonne, bald auf der immer steiler werdenden Südostkante, bald in der vereisten, abschüssigen Nordflanke, in die wir der gewaltigen Wächten wegen öfters ausweichen mussten. Schon zogen wieder Nebelschwaden heran, als wir nach 5 Stunden harter Arbeit am frühen Nachmittag endlich den so lange schon ersehnten Ostgipfel des Lyskammes erreichten. Nur eine ganz kurze Gipfelrast durften wir uns angesichts der drohenden Wetterver- schlechterung erlauben. Der Abstieg zum Lysjoch vollzog sich rasch und gut; dann aber folgte eine abenteuerliche Wanderung im dichten Nebel durch das tückische, im Neuschnee doppelt unheimliche Spaltenlabyrinth des Grenzgletschers. Nur dank dem ausgezeichneten Orientierungssinn meines Führers fanden wir uns glücklich hindurch und langten bei einbrechender Nacht rechtschaffen müde in der Monte Rosa-Hütte an, wo Hüttenwart Kronig, der wegen unseres langen Ausbleibens schon recht in Sorge war, uns erleichtert willkommen hiess.
Die Capanna Margherita war mir im Lauf der Jahre so sehr zum Mittelpunkt des Monte Rosa-Massivs geworden, dass mir eine Tour in jenem Gebiet ohne Signalkuppe als Ausgangs-, Durch-gangs- oder Endziel gar nicht mehr denkbar war. So wollten Heinrich und ich nach einer prachtvollen Überschreitung von Kastor und Pollux nach der italienischen Capanna Eugenio Sella am Lysgletscher anschliessend die schon lange geplante Traversierung des Lyskamms von Süden her bis zur Signalkuppe durchführen. Aber schlechtes Wetter und darauf starker Neuschnee hielten uns zwei Tage in der Sellahütte fest, und wiederum entging uns der Lyskamm! Dafür beschenkte uns am Schluss der Woche ein strahlender Sonnentag mit einer herrlichen Wanderung über die kleinen Monte Rosa-Spitzen: Vincentpyramide, Schwarzhorn, Ludevigshöhe, Parrot Spitz. Es war ein müheloses, von reinstem Genuss getragenes Schreiten, ja Schweben von Gipfel zu Gipfel, die nur wenig über das wogende Nebelmeer herausragten, so dass ich das Gefühl hatte, hoch über dem Erdboden geradewegs in den leuchtenden Sonnenhimmel hineinzugehen. Vom Lysjoch wären wir bald auf der Signalkuppe gewesen. Aber - es war Samstag, wo alle Zermatter Führer zu Tal steigen, um am Sonntag die Messe zu besuchen. So musste ich der so nahen Hütte schmerzlich Lebewohl sagen und den Rückweg über den Grenzgletscher antreten, ohne das heissbegehrte Endziel erreicht zu haben.
Dieser Fehlschlag mitsamt der missglückten Lyskammtraversierung sollte im folgenden Jahr wettgemacht werden, mit dem verlockenden Plan, zuerst das Nordend zu besteigen, den einzigen Monte Rosa-Gipfel, den ich noch nicht kannte, dann über die Dufourspitze zur Signalkuppe zu gehen und tags darauf den Lyskamm zu überschreiten. Den Gipfel des Nordend erreichte ich mit Heinrich bei bitterer Kälte und eisigem Nordwind, der uns nur gerade einen eindrucksvollen Blick in die ungeheure Ostwand tun liess, bevor wir schleunigst wieder kehrtmachten. Vom Silbersattel gelangten wir in milderem Klima ohne grosse Mühe auf die Dufourspitze, früh genug, um in aller Ruhe den herrlichen Höhenweg zur Signalkuppe anzutreten, auf den wir uns beide so freuten. Drüben, sozusagen zum Greifen nahe, lag die geliebte Capanna, zu der gerade eine Partie emporstieg, im hellen Mittagssonnenschein auf ihrem Felsgrat, und der vertraute Turm schien uns freundlich zuzuwinken. Aber während wir uns noch in den Gipfelfelsen sonnten, zogen plötzlich drohende Gewitterwolken heran, und im Nu waren wir von Nebel eingehüllt. Unter diesen Umständen glaubte Heinrich, den luftigen Gang zur Signalkuppe nicht riskieren zu dürfen, und so entschlossen wir uns, schweren Herzens, zum direkten Abstieg in die Monte Rosa-Hütte. Wie um uns die bittere Enttäuschung recht fühlen zu lassen, hellte es am Untern Plattje auf und wurde ein wunderbar klarer Abend, wie wir ihn auf der Signalkuppe so gern nochmals erlebt hätten. Am folgenden Tag gelang uns dann bei schönstem Wetter endlich die Überschreitung des Lyskamms vom Lysjoch über Ost- und Westgipfel zum Felixjoch, durch den zerrissenen Zwillingsgletscher zurück zur Monte Rosa-Hütte und am gleichen Abend noch, da wir den letzten Zug im Roten Boden ohnehin nicht mehr erreichen konnten, zu Fuss hinab nach Zermatt, eine fast 22stündige unvergessliche Fahrt.
Seit dieser letzten lichten Vision der Capanna Margherita auf dem Gipfel der Dufourspitze habe ich sie nicht wieder gesehen. Neue Berge in den Walliser, Berner und Urner Alpen lockten mich zu neuen schönen Fahrten, und es gab sich nicht mehr, dass ich das nie vergessene Ziel meiner Sehnsucht noch einmal erreichen konnte.
Seit jenen glückseligen Tagen am Monte Rosa und auf den andern herrlichen Zermatter Bergen ist manches Jahr vergangen. Die Zeit der grossen Hochtouren ist für mich längst vorbei. Aber stärker als die leise Wehmut ist die in unvermindertem Glanz leuchtende Erinnerung an die Stunden reinsten Glückes, die ich mit meinem Führer in jenen Eis- und Felsregionen erlebte. Und am liebsten schweifen meine Gedanken zurück zu der einsamen Zinne der Signalkuppe, die über Täler und Gipfel hinweg in die unermesslichen Weiten des Himmels schaut. Da wird mir immer wieder tief bewusst: Das Glück, das die Berge uns schenken, ist mit keinem anderen zu vergleichen und währt so lange wie das Leben selbst.