C. F. Meyer und die Alpen
Zum 100. Geburtstag des Dichters am 11. Oktober 1925.
Zweimal fand der unermüdlich tätige Regierungsrat Meyer Musse zu einer Ferienwanderung, das erstemal nach Glarus, nachher durch die Bündner Täler, und sein Knabe Conrad begleitete ihn. Seine Eindrücke von diesen Fahrten hat dieser nie geschildert; sie mögen im einzelnen wenig bestimmt haften geblieben sein, aber ein traumhaft schönes Bild von der Bergwelt ging von da mit ihm durch die Jahre, verdämmernd in der Zeit seelischer Ohnmacht und wieder aufleuchtend mit der Erstarkung seines Geistes. Wilder, ungebundener gab sich der Fünfzehnjährige, als er in Beckenried in den Ferien weilte. Er war bald Freund mit den Hirtenbuben, kletterte mit ihnen in den Flühen und übertraf sie alle an Waghalsigkeit und im Aussehen der zerrissenen Hosen. Das war an der Wende seiner ungezwungenen Jugendjahre, dann kam die schwere Zeit der Zweifel, der Qual und der Tatlosigkeit. Nie fällt der Name der Berge, er war zu einsam, um aus eigener Kraft den Weg hinaus zu finden, er brauchte nicht Natur, sondern Menschen. Hell-offene welsche Eidgenossen taten mit ihm die ersten Schritte, München und Paris mit ihrem heitern, beweglichen Leben und den Zeugen jahrhunderte-alter Kunst erfüllten ihn. Da wurde er wieder wach, tastete selbst nun weiter, suchte sich und fand dazu den Weg wieder in die Berge. 1857, als er müde von all den neuen Eindrücken und von seiner eigenen, mühsamen Wandlung von Paris kam, stärkte und durchsonnte er sich in einem mehrwöchigen Aufenthalt in Engelberg, wobei auch der Titlis bestiegen wurde. Als er im Jahre darauf aus Italien über den Gotthard heimwärts zog, war das erste eine Ri.gi-besteigung, um vom Lande wieder recht Besitz zu nehmen. Im August hielt er sich wieder in Engelberg auf, « durchstreifte jedoch meistens das Tal und labte sich eines Abends auf der Engstlenalp so recht an Herdengeläut und Einsamkeit ». Im folgenden Jahr nistete er sich — immer begleitet von seinem treuesten Lebensgefährten, der Schwester Betsy — auf der Alp selber ein. Mit Vorliebe wanderte er auf den Jochpass hinauf und legte sich dort in Schneenähe ins Moos. Hier « überträumte » er das Büchlein « Engelberg », hier spürte er die « Himmelsnähe » und sann einem verspätet heimbimmelnden Geissenglöcklein die wundervollen Verse des « Glöckleins » nach. Der Pilatus und andere Vierländergipfel sahen ihn bei sich, wieder stand er auf dem Titlis, und in dem weiten, klaren Kranze ruhten seine Augen besonders auf den Bündneralpen.
Mehr und mehr gewann er in diesen Jahren von der Spannkraft seiner Bubenzeit zurück, und eines Sommers fand er den alten Faden wieder: eine Art Heimweh nach Graubünden ergriff ihn. Wie ein Traumbild stand ein ehrwürdiges Wirtshaus in Silvaplana vor seinem Geiste, das vor einem Vierteljahrhundert ihm und dem Vater eine kurze Heimat gewesen war. Dazu aber zog ihn Jürg Jenatsch in die Täler Bündens hinauf, seinen Spuren wollte er folgen, den Helden seines noch als Drama geplanten ersten grossen 28 Werkes in seinem eigenen Lande kennen lernen. Zwar stand das Wirtshaus längst nicht mehr, aber in einer trauten Bündnerstube fanden sie eine stille Unterkunft. Von da erstiegen sie den Piz Surlei, wanderten oft ins Fextal hinauf, wo « fern der Welt, dem Himmel nahe » die « Bank des Alten » stand. « In eine überall, überall sich zudrängende Wildnis blühender Alpenrosen versenkt wie in ein blutiges Tuch » fanden sie einen Bergsee und stiegen dann über die Maloja hinab ins Bergell, wo die nordischen Arven mit den südlichen Kastanien und Reben um den kargen Boden sich streiten. Im folgenden Jahre, 1867, entstand angesichts des Morteratschgletschers das Gedicht « Firnelicht ». Später zogen sie um nach Thusis, wo der Heinzenberg — der schönste Berg der Welt, nennt ihn Herzog Rohan im « Jenatsch » —, die Viamala und die verwetterten Burgen ihn bannten und später der « Richterin » zur Heimat wurden. 1871 und 1872 hausten die beiden in St.Wolfgang ob Davos, wo sie im Jahr vorher am Weg ein einsames, behagliches Wirtshaus entdeckt hatten; hierher blickte das weisse Spitzchen über den Wald. Die beiden folgenden Jahre sahen sie noch mehr in der Abgelegenheit, in Chia-mutt, oben am Vorderrhein, wo der weltmännische, ehemalige römische Küchenmeister Curtins ein kleines Berghaus besorgte. Unter seiner Führung wanderten sie zu den geheimnisvollen Quellen des Oberrheins. Hier war es auch, dass beide die Gefahr des Vereinsamens für den Dichter erkannten, und mit dem späten Schritt zur ehelichen Gemeinschaft erreichten Conrad Ferdinand Meyers eigentliche Berg- und Wanderjahre ihr Ende. Die leuchtenden Blüten und die goldenen Früchte dieser Bergsommer aber dufteten und reiften nun in seinem Garten.
Conrad Ferdinand Meyer war kein Bergsteiger in dem Sinne, den heute das Wort für uns trägt. Auch in jener Zeit, da die meisten ihre Anforderungen nicht allzuhoch spannten, gehörte er nicht dazu, und es wäre ihm nie eingefallen, sich zu ihnen zu zählen. Es fehlte ihm dazu die Leidenschaft der Tat, der heisse Drang nach dem Ringen mit der hartkantigen Natur, die tiefe Sehnsucht nach dem eisigen Schweigen des Hochgebirges. « Mit überfeinen, reiz-baren Gefühlsorganen ausgestattet, wehrte er heftige Eindrücke und stürmische Persönlichkeiten, so gut er konnte, ab », sagt seine Schwester von ihm. Er war kein Mensch der äussern Tat, der darin seine Kräfte voll erlebt und sein Dasein steigert. Die Ansätze dazu in seiner Jugend hatten sich in langen, schweren Jahren nach innen gekehrt, sein ungemein qualvolles Reifen zum Mann hatte all diese Kräfte aufgesogen. Er war dadurch ein Einsamer geworden, dem wohl der sorgsame Verkehr mit feinfühligen, kunstverständigen Menschen tiefes Bedürfnis war, der aber der ruhigen, klaren Natur für sein Schaffen ganz zuerst bedurfte. Darum zog er, als sein Leben lichter wurde, aus der Stadt hinaus an den See und kehrte zeitlebens nie mehr dauernd in sie zurück. Noch als alter Mann gesteht er seinem Freunde Lingg, ihm sei « nur in Kilchberg oder noch höher in den Bergen völlig wohl ». Einsamkeit und Ruhe suchte er. Sah er auf einer Fahrt ein einsames, weltabgelegenes Gasthaus, so erinnerte er sich dessen, wenn der immer stärker werdende Fremdenstrom sein bisheriges Asyl erreichte. Wenn im Frühling der Föhn über den See hinabwehte, ergriff ihn die Sehnsucht. « Ich bedarf der Schneenähe », instruierte er dann seine Schwester. « Nicht unter 6000 Fuss Höhe darf unser heuriges Bergquartier liegen. Die Herberge soll höchstens vier Gastzimmer-chen haben, geländerlose Treppen und Bedienung ohne Kellner. Sie darf nur nach frischem Heu riechen. » Und wenn sie dann so auszogen, bemerkten vorsichtige Leute: « Ihr reist recht wie die Studenten. » Alles Gezwungene war ihm fremd; er hatte « lieber die Luft ohne die Menschen » und fand für eine gewisse Kurgastsorte Paul Hey ses Ausdruck « Menschenkehricht » « sehr zutreffend, aber etwas unchristlich ».
Es war ihm ein Bedürfnis, hie und da eine liebe Gegend von höherer Warte aus ganz zu umfassen, und er genoss dabei Gletscher und Firn in vollen Zügen. Aber sogleich stellte sich das Heimweh nach der im Kleinen lebendigen Natur ein, Heimweh nach Weidengrün, nach Arven und Bergtannen. « Die Landschaft ist mir lieb: schwarze Arven, grelle Schneeflecken, rasch strömende, wahre Alpenwasser, die ich über alles liebe, und der schon südliche Himmel » Der romanisch-südliche Einschlag in den Menschen und der Natur Graubündens entsprach ganz seinem Wesen, vermittelte ihm zu der Grosse die Weichheit, die ihm Bedürfnis war. Da legte er sich an einen sonnigen Hang zwischen Alpenrosenbüsche und versenkte sich traum-artig in das Leben und Weben der Natur. « In solchen Stunden fühlte er sich ihr verwandt », und er gestand, dass « die unwiderstehliche Anziehung meiner heimischen Schneeberge » ihm den stärksten Natureindruck vermittle. Nur die Anziehung derselben, nicht ihre Bezwingung, nicht der Weg durch den Gletscher und über den Grat und der befreiende Sieg. Er hat aber dabei das Wesen des Hochgebirges in sich aufgenommen, wie es gewöhnlich nur dem tüchtigen Bergwanderer beschieden ist; sie boten « seinem Bedürfnis nach Grosse und ungebrochener Ruhe, nach dem Weben mächtiger Kräfte in elementarer Gewalt und in inniger Zartheit volles Genügen ».
Conrad Ferdinand Meyer ruhte aus in den Bergen, weniger körperlich als seelisch. « Hier befriedeten sich die unruhig streitenden Gedanken des Dichters in grossen, ungetrübten, poetischen Stimmungen. » Griff er einmal zur Feder, so war es, um einem Freund unten in der Stadt zu sagen, « wie sehr ich glücklich bin in dieser schönen Abgeschiedenheit ». Und er fügte etwa der ständigen, sanften Ermahnung, doch auch in die Berge zu ziehen, bei: « Hier ist es so schön und so still und so kühl, dass man die Rätsel des Daseins vergisst und sich an die klare Offenbarung der Schönheit hält. » Aus dieser Offenbarung wuchs Kraft, und da Kraft beim Künstler sogleich lebendige Tat gebiert, phantasierte er, wurde frisch und schuf spielend für Wochen und Monate voraus. An den Schreibtisch hat er sich dabei nicht gesetzt, er blieb auch darin ganz in seiner Umgebung. Hoch oben lag er in der Sonnenhalde, spann die Szenen seiner Novellen zusammen und reimte seine Gedanken, Hie und da fing die Schwester mit flüchtigem Bleistift « ein paar seiner gesungenen Verszeilen auf »; das war alles Sichtbare, das er mit sich ins Tal hinabtrug, das Beste aber war für ein Jahr vorausgesehen.
Was er in der Bergeinsamkeit fand, waren für seine epischen Werke nicht die Motive. Die gab ihm die Geschichte, in der ihn die starken, ruhigen Gestalten anzogen wie die Berge der Heimat. Einmal fehlte diese Richtung; « Engelberg » ist erwachsen aus einer unbedeutenden Sage und der Stimmung, welche die Seele des noch nicht voll Geheilten im Bergtal traumhaft umwob. So blieb der eigentliche Bergcharakter dieser Dichtung fremd. Nirgends in der Schilderung der Landschaft tritt das Gebirge wirklich bildhaft hervor, und auch die Menschen streifen das Märchenhafte nie völlig ab; « Engelberg » war sein « letztes, halb unbewusst entstandenes episches Stimmungs-gedicht ». Anders wurde es in Bünden, wo ihn Jürg Jenatsch führte und in die geheimen Gänge des Volkscharakters hineingeleitete. Scharf und eigenartig treten diese Bündner hervor, ganz die Kinder ihrer besonderen Rasse, der wilden Geschichte und der Berglandschaft. Noch nie vorher waren die Bewohner des Gebirges so wahr geschildert worden, hatten sie so unzertrennlich zu ihrem Lande gehört. Die Berge selbst beginnen zu leben; bildhaft scharfe Ausdrücke halten ihre Eigenheiten fest. « Jürg Jenatsch » und die « Richterin » zeigen diese Bergnatur, und wo die engste Verquickung mit dem Erleben der Menschen sich zeigt, steigt das Gebirge zu gewaltsamer Grosse empor. So flieht Wulfrin, von sündiger Liebe zu seiner vermeintlichen Schwester ergriffen, im Sturm durch die Schlucht hinab. « Über der rasenden Flut drehten und krümmten sich ungeheure Gestalten, die der flammende Himmel auseinanderriss und die sich in der Finsternis wieder umarmten. Da war nichts mehr von den lichten Gesetzen der Erde, das war eine Welt der Willkür, des Trotzes, der Auflehnung. Gestreckte Arme streckten Felstrümmer gegen den Himmel. Hier wuchs ein drohendes Haupt aus der Wand, dort hing ein gewaltiger Leib über dem Abgrund. Mitten im weissen Gischt lag ein Riese, liess sich den ganzen Sturz und Stoss auf die Brust prallen und brüllte vor Wonne. » Wie tobt da der Sturm in der Bergschlucht, und wie stellt sich zugleich alles schreckhaft menschlich dem gesetzlosen Bergkind entgegen!
Das Grösste aber, das der Dichter neben der hellen Schaffenskraft aus den Bergen — und von Michelangelos Werken — in seine Kunst hineintrug, war die grosse Form, der Freskostil, die plastische Monumentalität. Gross und klar schreiten seine Sätze, runden sich die Gestalten und Bilder, ohne Nebengerank. Und wenn vielleicht sein Schaffen sonst mehr ein Abschluss ist, nicht ein Ansporn und Hinweisen auf neue Wege, hier fand er den Anstieg zur alpinen Poesie und zeigte ihn den Nachfahren.
Viel Kraft hat Conrad Ferdinand Meyer in den Bergen gefunden, die zu einem schönen Teil seine Werke trägt. Am längsten von seiner Liebe zu ihnen werden aber die paar Berggedichte zeugen, die fast nebenbei in den gesegnetsten Stunden ihre erste Gestalt empfangen haben. Auch da ist die Beschränkung deutlich sichtbar. Kein Lied gibt Kunde vom schweren, schönen Anstieg, vom Erleben ob den Wäldern und Weiden im ragenden Fels, in der Firnweite, und oben vom Aufgehen im All.
Ich lag im Gras auf einer Alp, In sel'ge Bläuen starrt'ich auf.
Das steht am Anfang. Und dann staunt er:
Wie jagen die schäumenden Bäche so hell.
Wie leuchtet der Schnee an den Wänden so grell!
Seine Augen tasten dem « Geklüfte » nach, von dem der Schnee in hundert Rinnen davonrieselt, den scharf glänzenden Grenzen der Firne. Einmal geht er richtig daran, eine Anstiegsroute in einer Felswand zu suchen.
Feindselig, wildzerrissen steigt die Felswand. Das Auge schrickt zurück. Dann irrt es unstet Daran herum. Bang sucht es, wo es hafte. Dort! über einem Abgrund schwebt ein Brücklein Wie Spinnweb. Höher um die scharfe Kante Sind Stapfen eingehaun, ein Wegesbruchstück! Fast oben ragt ein Tor mit blauer Füllung: Dort klimmt ein Wanderer zu Licht und Höhe! Das Aug'verbindet Stiege, Stapfen, Stufen. Es sucht. Es hat den Pfad gefunden, Und gastlich, siehe, wird die steile Felswand.
In diesen Versen ist der Dichter dem Bergsteiger am nächsten gekommen. Viel tiefer aber greifen seine Gedichte, in denen Sehnsucht und Dank ihren Ausdruck finden. Wie unwiderstehlich lockt doch das weisse Spitzchen über den Wald hinab ins Menschengewühl! Und wie oft geht er mit den Bergen zu Rat, wenn seine Natur ihm den Weg schwer macht. Er fährt auf in der Fiebernacht:
Berggeist, ich höre deine Ströme rauschen — Gib mir Gehör! Wir wollen Rede tauschen! Du von der Firn und aus der Gletscher Kühle, Ich aus der engen Krankenkammer Schwüle!
Und wenn er unten im Getriebe des Alltags sich besinnt, so gesteht und fragt er:
Ich sah den Kampf. Was sagest du, Mein reines Firnelicht, dazu, Du grosses stilles Leuchten?
Es war ihm tiefes Bedürfnis, wann eine Gewissensfrage ihn plagte, seine Blicke in Gedanken auf die hellen, reinen Firne zu richten, wo er sich selber fand, ungekünstelt und naturwahr. Gerade darin, in diesem vielleicht tiefsten Erlebnis der Berge, geht er Seite an Seite mit den Besten, die jetzt und einst hinaufstiegen. Er spürte'dann, « dass Gott bei mir sei ». So tief verwuchs diese Einstellung mit seinem Wesen, dass er schlicht und wahr sagen durfte:
In meinem Wesen und Gedicht Allüberall ist Firnelicht, Das grosse stille Leuchten.
Das Licht wurde für ihn immer mehr das Grunderlebnis in den Bergen, das Symbol ihrer Grosse, ihrer Reinheit. Unermüdlich hat er das « stille Leuchten » besungen, und in immer stärkerer Ergriffenheit sah er mit den Jahren den Alten auf der Bank, der feiernd « die nahen, selig klaren Firne » schaut. Er hätte hinaufwandern mögen zu seinem letzten Tag, dort oben vom Leuchten umflossen sich zur Ruhe zu legen.
Zu Tale zu steigen, das wäre mir Schmerz.
Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Er musste hinabsteigen, weit hinab in die dunkle Niederung, wo er langsam versank. Uns aber ist sein und der Firne Leuchten geblieben.
Willy Burgherr.