Bergsport: im Einklang mit der Natur? Neue Wildruhezonen erfordern den Dialog zwischen Schützern und Nutzern
Mit der Teilrevision der Jagdverordnung 2012 werden die Kantone verpflichtet, Wildruhezonen auszuscheiden. In Wildruhezonen können Freizeitaktivitäten – wie unter anderem Schneeschuhlaufen, Skitouren oder Klettern – stark eingeschränkt sein. Der SAC engagiert sich für konsensorientierte Lösungen im Spannungsfeld zwischen Schutz und Nutzung.
Der Outdoorsport boomt, und das seit Jahren. Ein Beispiel: Wurden Mitte der Neunzigerjahre pro Jahr etwa 6000 Schneeschuhe verkauft, waren es laut der«NZZ am Sonntag» 2008 schon 75 000 Paar. Doch was gut für den Körper und die Gesundheit der Menschen ist, nämlich die Bewegung in der Natur, schafft auch Probleme. Der Druck auf die Natur nimmt stetig zu. Vor allem in der kalten Jahreszeit (vgl.«Die Alpen » 2/2005, 12/2009, 2/2010). Wildtiere wie Schnee-, Birk- und Auerhühner, Gämsen, Steinböcke und Rotwild finden im Winter kaum noch Ruhe. Deshalb werden seit Längerem Wildruhezonen ausgeschieden. Lebensräume also, in denen der Mensch in definierten Zeiträumen gar nichts verloren hat oder in denen winters ein weniger einschneidendes Weggebot gilt, wenn nur die «erlaubten Wege», z.B. die in den Skitourenkarten eingezeichneten Routen, befahren bzw. begangen werden dürfen.
In der Botschaft zum eidgenössischen Jagdgesetz von 1986 wurde angesichts der Entwicklungen im Freizeitsport der «Schutz der Wildtiere vor Störung durch den Menschen» als einer der Kernpunkte der Vorlage bezeichnet. Die Kantone waren aufgefordert, geeignete Massnahmen zu definieren. Bis 2011 haben 13 Kantone zum Schutz der Wildtiere vor Störung Wildruhezonen bezeichnet. In zwei weiteren Kantonen ist die Ausscheidung in Gang. Was bisher freiwillig und im Pioniergeist erschaffen wurde, soll mit Inkrafttreten der revidierten Jagdverordnung im Juni 2012 schweizweit zur Regel werden.
Anlass zur Konkretisierung des Wildschutzes gab 2007 ein Postulat der Stadtberner SP-Nationalrätin Evi Allemann (Postulat 07.3131). Sie verlangte darin zum «Schutz der Wildtiere vor Trendsportarten» die Schaffung von winterlichen Ruhezonen und ihre rechtliche Verankerung auf Bundesebene. Nur so könne die alpine Fauna trotz dem wachsenden Druck durch menschliche Störungen langfristig bestehen. Das Anliegen wurde in der laufenden Revision der eidgenössischen Jagdverordnung aufgenommen. Ab 2012 wird der Schutz der Wildtiere verstärkt. Neu sollen alle Kantone dazu verpflichtet werden, Wildruhezonen zu prüfen und wo nötig und sinnvoll auszuscheiden. In wenigen Jahren soll ein Netz störungsarmer Zonen die ganze Schweiz überspannen und rund 20 Prozent der Landesfläche betragen.
Keine Vorschriften kann der Bund dagegen in Bezug auf das Verfahren zur Ausscheidung von Wildruhezonen machen. Dies würde die Souveränität der Kantone verletzen. Je nach Kanton werden Wildruhezonen über die Zonenplanung oder über die Rechtsetzung festgelegt, oder die Ausscheidung wird an die Gemeinden delegiert. Ebenso wenig werden in der Jagdverordnung Vorgaben zum Einbezug betroffener Akteure, z.B. Sport, Jagd oder Tourismus, gemacht. Dass sich die Kantone ungern Vorschriften von «denen aus Bern» machen lassen, wurde auch in der bis Mitte Juli 2011 laufenden Anhörung zur neuen Jagdverordnung deutlich: Eine Vorlage zur überkantonalen Koordination der Ausscheidung von Wildruhezonen durch das Bundesamt für Umwelt fand bei den Kantonen wenig Anklang. Obwohl dies – Wildtiere halten sich nicht an Kantonsgrenzen – zum Erreichen des Schutzzieles durchaus sinnvoll wäre. Um dennoch eine schweizweit möglichst einheitliche Handhabe zu ermöglichen und die bisher gesammelte Erfahrung aus den «Pionierkantonen» nutzbar zu machen, hat das Bundesamt für Umwelt im Sommer 2011 eine Praxishilfe zur Ausscheidung von Wildruhezonen herausgegeben.
Aufgrund fehlender Vorgaben zur Partizipation der Interessengruppen in der Jagdverordnung kann sich die Möglichkeit zur Mitsprache je nach Kanton auf das Rechtsmittelverfahren im Rahmen der öffentlichen Auflage beschränken. Dann haben Betroffene manchmal nur 20 Tage Zeit, um Einsprache zu erheben – was allerdings bedingt, dass die Bekanntmachung im Amtsblatt auch gelesen wurde.
Was passieren kann, wenn bei der Planung von Wildruhezonen bestehende Nutzungsinteressen nicht angemessen berücksichtigt werden, zeigte sich jüngst im Kanton Obwalden. So sah der erste Vernehmlassungsentwurf des Amtes für Wald und Landschaft 2009 am Pilatus Wildruhegebiete mit ganzjährigen Kletterverboten vor. Kein Wunder, stiegen Vertreter der Kletterszene auf die Barrikaden – und hatten mit ihrem Widerstand Erfolg. Der Kanton sah sich veranlasst, die Planung komplett neu aufzurollen, im zweiten Anlauf unter Einbezug der betroffenen Nutzergruppen. Intensive Verhandlungen resultierten in einer ganzheitlichen Betrachtung und führten zu angepassten Lösungen mit Vorbildcharakter: Die Regelung des Kletterns wurde aus der Schutz- und Nutzungsplanung der Wildruhegebiete ausgelagert. Stattdessen haben Kanton, Grundeigentümer, Jagd und die IG «Klettern am Pilatus» im Juni 2011 eine Vereinbarung abgeschlossen. Das Klettern in bestehenden Routen bleibt weiterhin erlaubt. Nur einzelne Routen werden mit Rücksicht auf die Wildtiere zurückgebaut, z.B. in der Nähe eines Adlerhorsts. Bei zukünftigen Konflikten zwischen Mensch und Tier sind im Einzelfall geeignete Massnahmen zu prüfen. Die Vorteile der Vereinbarungslösung liegen auf der Hand: eine breite Abstützung und Akzeptanz in den betroffenen Kreisen und die hohe Flexibilität der Schutzmassnahmen. Kooperation führt zudem schneller zum Ziel als Konfrontation. Die 2006 begonnene, behördliche Schutz- und Nutzungsplanung der Wildruhegebiete im Kanton Obwalden konnte aufgrund zahlreicher Einsprachen – sowohl bei der ersten öffentlichen Auflage 2010 als auch bei der zweiten öffentlichen Auflage 2011 – noch immer nicht mit der Inkraftsetzung der Wildruhegebiete abgeschlossen werden.
Anders und flexibler laufen die Verfahren im Kanton Graubünden, dort wurden seit den Neunzigerjahren auf zwei verschiedenen Wegen mehr als 270 Ruhezonen ausgeschieden. Zum einen, indem sie über die Zonenplanung festgelegt wurden: «Diese Zonen sind sehr beständig», sagt dazu Hannes Jenny vom Amt für Jagd. Vorteil dieses Verfahrens ist, dass die betroffenen Kreise angehört werden müssen, es gibt eine breite Vernehmlassung, in der die Interessen abgewogen werden. Einmal festgelegt, ist eine Änderung allerdings schwierig, dies ist nur im Rahmen einer Revision der Zonenpläne möglich. Es kann denn auch vorkommen, «dass eine Wildruhezone eingerichtet wurde, die dem Wild nichts bringt», wie Hannes Jenny sagt. Aus seiner Sicht hat deshalb auch der zweite Weg entscheidende Vorteile, indem der Kanton die Aufgabe an die Gemeinden delegiert. Auf der Grundlage des Bündner Jagdgesetzes können diese seit 1989 Wildruhezonen ausscheiden und das freie Betreten von Wald und Weide zeitlich und örtlich einschränken. Hannes Jenny: «Die Zonen können von den Gemeindeversammlungen schnell eingeführt werden, und man kann ausprobieren, ob sich eine Wildruhezone für die Tiere auch lohnt.» Hinzu kommt, dass «diese Entscheide im kleinen Kreis besser getragen werden». So habe man vernünftige Lösungen gefunden. Schutz der Tiere wo nötig, ohne übermässige Einschränkungen für die Nutzer. In den Südbündner Tälern etwa seien nur sehr wenige Ruhezonen festgelegt worden, «weil dort auch kaum Konflikte bestehen». Skirouten wurden sehr selten aufgehoben, « die Einschränkungen für Bergsportler sind klein », so Hannes Jenny. Allerdings sieht er auch Grenzen des Instruments der Wildruhezonen: «In der Nähe grosser Skigebiete bringen die Wildruhezonen wenig, wenn die Durchsetzbarkeit schlecht ist.»
Hannes Jennys Fazit nach 20 Jahren Erfahrung mit den Wildruhezonen ist jedenfalls klar: «Nur die problemorientierte, pragmatische Ausscheidung in einem Bottom-up- Verfahren hat Erfolg.» Allerdings räumt er ein, dass hierbei nicht alle Betroffenen angehört werden. «Wer nicht ortsansässig ist, hat es schwer, seine Bedürfnisse anzumelden.» Die Zusammenarbeit mit den lokalen Sektionen des SAC sei jedenfalls hervorragend, nur «die wilden Tourenführer im Internet, die machen uns Mühe».
Sehr systematisch ist das Vorgehen im Kanton Bern. Hier werden aufgrund eines Auftrags des Grossen Rats, des Kantonsparlaments, seit 2008 Wildschutzgebiete geprüft und ausgeschieden. Zuständig ist das kantonale Jagdinspektorat. Wildbiologin Karin Thüler hat die Erfahrung gemacht, dass problemorientiert vorgegangen werden muss. Nachdem Konfliktgebiete zwischen Mensch und Tier eruiert worden sind, «holen wir alle Betroffenen an den runden Tisch, und versuchen so eine Lösung zu finden». Jüngstes Beispiel ist die Region Mürren. An den Südhängen des Schilthorns befinden sich Wintereinstandsgebiete von Gämsen.«Im Rahmen der laufenden Zonenplanänderung ist dort eine Schutzzone ausgeschieden worden, die von allen Beteiligten mitgetragen wird.» Eine andere Lösung sei im Kiental gefunden worden. Dort wurden Schneeschuhtrails ausgeschildert. Ein Verbot hätte nicht gefruchtet, weil die Schneeschuhläufer zu wenig informiert und vernetzt sind. «So wurde durch ein Angebot die Störung auf das Wild kanalisiert, gelenkt und minimiert», sagt Karin Thüler. Die Erfahrungen seien jedenfalls sehr gut, das Angebot werde rege genutzt, auch von professionellen Anbietern.
Für die Ausübung des Bergsports ist der freie Zugang in die Natur von zentraler Bedeutung. Die zu befürchtenden Einschränkungen der Freizeitnutzung bieten Anlass zur Besorgnis. Der SAC befürwortet grundsätzlich den Schutz der Wildtiere. Gleichzeitig soll die Ausübung des Bergsports in naturverträglichem Mass jedoch weiterhin möglich sein. In seiner Stellungnahme zur Revisionsvorlage beantragte der SAC als zentrales Anliegen, die obligatorische Mitsprache der betroffenen Interessengruppen in der Jagdverordnung zu verankern. Dies aus der Überzeugung, dass nur im Dialog Lösungen im Spannungsfeld zwischen Schutz und Nutzung erarbeitet werden können, die sachgerecht, verhältnismässig, mit vertretbarem Aufwand vollzugsfähig sowie politisch tragbar sind.
Die Wildruhezonen und insbesondere die darin ausgewiesenen, erlaubten Wege und Routen sollen – so beantragt der SAC – in einem Konsensprozess mit den betroffenen Kreisen erarbeitet, periodisch überprüft und gegebenenfalls den veränderten Verhältnissen angepasst werden. Eine Überprüfung soll auch auf begründeten Antrag hin erfolgen können: Bergsport findet oft abseits vorhandener Infrastrukturen wie Weg- und Strassennetz statt, daher muss auf naturräumliche Veränderungen unter anderem mit Anpassung der Routenwahl reagiert werden können. Zu nennen seien hier insbesondere Veränderungen im Zusammenhang mit dem Klimawandel, z.B. dem Rückgang von Gletschern, dem Schwinden von Permafrost oder den abnehmenden Schneemengen in tieferen Lagen.
Sicher ist: Für den SAC geht es in der angelaufenen, schweizweiten Ausscheidung von Wildruhezonen um einiges. Es geht um das Recht, sich in den Bergen frei und eigenverantwortlich zu bewegen. Dass Fauna und Flora geschützt werden müssen, ist unbestritten. Der SAC wird den Kantonen Hand bieten, konsensorientierte Lösungen im Spannungsfeld zwischen Schutz und Nutzung zu erarbeiten. Gegen unverhältnismässige Einschränkungen des freien Zugangs zur Bergwelt wird er sich jedoch zur Wehr setzen. Weil die Verfahren kantonal, ja sogar lokal sehr unterschiedlich sind, liegt der Ball bei den Sektionen, die Interessen des Bergsports zu vertreten und sich konstruktiv in den laufenden Prozess der Ausscheidung von Wildruhezonen einzubringen. Der Zentralverband steht ihnen koordinierend und beratend zur Seite. Die Jagdverordnung tritt voraussichtlich per 1. Juni 2012 in Kraft. « Die Alpen » werden berichten.