Berglistock
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Berglistock

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Berglistock — wie bescheiden klingt das! Was für ein Maulwurfhügel, was für ein Nichts von einem Berge muss das sein! Man lächelt vielleicht und hält es nicht für möglich, dass nur ein Wort zu verlieren sei über ein Gipfelchen oder Türmchen, das so viele kaum dem Namen nach kennen. Aber man lächelt zu früh; denn auch unter den Bergen gibt es heimliche Fürsten, von denen nur wenige wissen, die aber dennoch Fürsten sind: Kaiser und Könige Zoll für Zoll. Es sind die Zurückgezogenen und Stillen im Lande, die wenig von sich reden machen, denen ein allzu geringer Name zum Schicksal wird, Fürsten einer unberührten und intimen Schönheit. Freilich, man muss mit ganzem Herzen und nicht nur des Sportes wegen Bergsteiger sein, um auch am Berglistock, an diesem einsamen und vergessenen, Tiefstes erleben zu können. Hier ist man noch allein und eines ruhigen Genusses sicher, hier spürt man noch ganz und wie kaum irgendwo, was uns die Berge sind.

In meiner Kammer hängt sein Bild; ich habe es täglich vor Augen und nehme seine Züge andächtig in mich auf. Ich betrachte es mit jener inneren Bereitschaft und Teilnahme, mit der man sonst nur ein Kunstwerk oder das Bild eines geliebten Menschen betrachtet. Jede einzelne Linie, die Abwechslung von Firn und Fels und der ganze Bau dieses Berges, sie sind so ausgeglichen und so voll Harmonie, als wäre er von Künstlerhand errichtet worden.

Ich warte gerne den September und Oktober ab, um ernsthaft in die Berge zu gehen. Denn wenn der Sommer vorüber ist, dann wird es wieder still dort oben. Die Hand des Sterbens tastet leise über Grat und Firn und löscht die grellen Farben und den wabernden Glast der Sinne weg. Wie leise Wehmut liegt es auf den verblassten Halden, und über alles breitet sich eine unendliche Ruhe und Reife. Das Bergland hat nichts Drohendes mehr: die kühnsten Gipfel und die steilsten Kämme winken uns wie Freunde. Das ist die Zeit, wo ich zur Eisaxt greife, um vor dem Winter nochmals Schönes zu erleben. Mit einem lieben Kameraden oder ganz allein, wenn sonst kein Mensch mehr in den Bergen weilt, an Gottes hohem Altare zu stehen, das gehört vielleicht zum Schönsten, was mir das Dasein gewährt. Zu grossen Taten freilich ist es zu spät; denn da sind nun die kurzen Tage und die langen, bitterkalten Nächte, vor denen man sich hüten muss. Die alte Sehnsucht und die nimmermüden Beine möchten wohl, aber es gilt ein herbstliches und weises Sichbescheiden. Wer eine hohe Zinne wagt, weh, wenn er am Abend die Hütte verfehltJa, seltsam ist das Wandern im Herbst, wenn im Tale der Nebel braut und die Berge in zartem Dufte stehen. Dann strahlt eine solche Weichheit und Güte vom blassblauen Himmel über das Land da oben, dass es schon feierlich und heilig ist, nur vor die Klubhütte hinaus zu treten. Aber ein junges Herz will mehr und vermag der Lockung nicht zu widerstehen. Zudem galt es damals jenem Berge, den wir in Gedanken schon so oft umlagert hatten. Was Sehnsuchtberge sind, das erfuhren wir am Berglistock: er hielt uns jahrelang umsponnen und liess nicht eher los, bis wir sein schönes Haupt überschritten hatten.

Am 18. September 1924 erreichten wir, drei Kameraden vom A.A.C.B.ern, spät abends die Dossenhütte. Das Wetter, das den Sommer zuvor zu einem der regenreichsten und traurigsten seit hundert Jahren gemacht hatte, war in den letzten Tagen etwas besser geworden und liess uns wenigstens noch auf eine schöne Bergfahrt hoffen. Ja, wenn der Berglistock gelang, dann hatten wir genug, dann war es doch ein reiches Jahr gewesen. Man muss wahrscheinlich jung und vom Leben nicht allzusehr verwöhnt sein, um so mit ganzer Seele sich auf etwas freuen zu können, wie wir drei uns auf den Berglistock freuten. Der Berglistock, das wussten wir, der würde uns zum Berg der Berge werden — wir hatten uns nicht umsonst so lange nach ihm gesehnt. Alle andern, Bietschhorn und Aletschhorn eingerechnet, waren nur Vorfreuden gewesen, Stilübungen sozusagen, um schliesslich den da mit dem geringen Namen, diesen Vergessenen und Einsamen, eines schönen Herbsttages mit Glanz bestehen zu können.

Wir sassen in der Dossenhütte, tranken schweigend Tee und gingen bald aufs Lager. Aber der Schlaf liess lange auf sich warten, und wenn wir ihn an einem Bein erwischt zu haben glaubten, zappelte er und machte sich im Handumdrehen wieder ledig. Es war eine ruhelose Nacht, wie sie immer einem grossen Tage vorausgeht. Es ist nicht etwa Furcht, die einem in solchen Nächten den Schlummer vorenthält; es ist vielmehr das Ungewisse, was kommen werde, die Sorge, am Morgen nicht früh genug zu erwachen oder vom Wetter enttäuscht zu werden, und dann vor allem der geistige Vorgenuss glückseliger Stunden. Am Ende schliefen wir doch — wir schliefen sogar in den lichten Morgen hinein, und wenn nicht einer meiner Kameraden laut von seiner Liebsten zu träumen begonnen hätte, so wären wir überhaupt nicht erwacht und lägen vielleicht noch jetzt dort oben.

Die Uhr ging eben auf sieben, aber wenn wir uns beeilten, so war noch vieles gutzumachen. Neuschnee war gefallen, der uns behindern konnte; zudem wussten wir gut genug, dass die Dollfushütte am Unteraargletscher von hier aus über den Berglistock an einem Herbsttag nicht mehr zu erlangen war. Wenn wir den Übergang wagten, so stand eine Beiwacht in Aussicht, eine Beiwacht in beträchtlicher Höhe, auf dem Lauteraarsattel wohl gar und diesmal in vorgeschrittener Jahreszeit. Aber das Zuversichtliche und Trostreiche war, dass Walter, der immer für alles sorgte, eine Menge gutverschliessenden Papieres im Rucksack trug, japanisches Papier, in welchem die Nacht unterm offenen Himmel, und mag sie noch so kalt werden, erprobtermassen zu wagen ist. Wer das Abenteuer liebt und noch ein bisschen Zigeuner ist, dem ist die Beiwacht ein Evangelium. Und Walter schien es zum vornherein auf dieses Evangelium angelegt zu haben.

So standen die Dinge, als wir am 19. September die Hütte verliessen. Den Weg zum Dossensattel nahmen wir über die etwas lockeren, doch noch schneefreien Felsen. Wir bummelten, kletterten und schoben uns gemächlich hinauf; denn Eile tat uns plötzlich nicht mehr not: zum Lauteraarjoch würden wir auch so gelangen. Das eben ist der Vorteil des Freilagers, dass man gemütlich schlendern und den Weg geniessen darf — den Weg, in welchem ja das beste Stück des Genusses liegt. Man ist an kein bestimmtes Ziel gebunden und braucht am Abend nicht da und da zu sein. Wenn die Nacht einfällt und wenn man müde ist, dann legt man sich einfach hin, ein trockenes Plätzchen als Lager irgendwo im Fels genügt.

Wenn der Hang zum Dossensattel von der Herbstsonne schon halb durchweicht war, weswegen wir den Felsen den Vorzug gaben, so war der Schnee vom Renfenjoch an noch fest und erfreulich gefroren. Wie es weiter oben auch aussehen und wie warm es auf den Mittag auch werden mochte — jetzt wussten wir doch, dass uns der Berglistock gelingen würde. Auf leicht federndem Grunde zogen wir spielend bergan. Unwillkürlich erinnerte ich mich eines Strandspazierganges an der Nordsee. Es war dasselbe leicht beschwingte und mühelose Wandern wie hier, es war derselbe feste und doch fein federnde Grund, und hohe Majestät umgab uns dort wie hier: das Meer, die Berge. Hui! wie wir uns damals tollten vor Freude, uns im Sande balgten wie junge Bären, uns, verrückt geworden, in allen Kleidern einer heranstürzenden Woge entgegenwarfen! wie wir lachten, jauchzten, den Möven pfiffen — und wie wir glücklich waren! So ähnlich war es auch auf dem Weg zum Berglistock, nur dass die Zeit uns fehlte, uns im Schnee herum-zubalgen. Aus Walters lustigen Appenzelleräuglein blitzten Triumph und Sieg. Wir hätten es noch lange so aushalten mögen. Aber dass das Leichte, das Erhaben-Frohe, der göttliche Übermut immer nur von kurzer Dauer ist, das erfuhren wir auch auf dieser Bergfahrt.

« Verflucht! » knurrte Emil, der vorausging. Er sah uns auf einmal verteufelt grimmig an und benahm sich wie ein wasserscheues Ross in der Schwemme. Was war der Grund? Der Gute, er war der stärkste und schwerste von uns dreien und musste es sich, als der Schnee ein wenig weicher wurde, gefallen lassen, dass er als erster bis zu den Knien darin versank, während Walter und ich für eine Weile noch wie auf Göttersohlen einherwandelten. Da war es drollig zu sehen, wie der eine keuchend, in einem fort fluchend, aber dennoch gefasst und mit vieler Verachtung weiterstampfte, und wie zwei Leisetreter, mit Mühe das Lachen verbergend, schmetterlingleicht hintennach trippelten. Das schuf denn zwischen dem Vorausgehenden und uns eine gewisse seelische Distanz, die, bei Lichte besehen, lächerlich war und deshalb auch glatt überwunden wurde, als wir zwei ebenfalls wie die Sünde in den Schnee einzubrechen begannen. Aber wir hatten nun doch in sehr kurzer Zeit ein gutes Stück Weg zurückgelegt. Wir standen schon hoch über den Wetterlimmifelsen.

Die erste Pfeife Tabak nach der ersten Viertelstunde Rast, mit langsamen, kostenden Zügen geraucht, am Morgen, wenn der Himmel einen schönen Tag verspricht und sich alles gut anlässt, hat etwas vom besten Wander-burschen- und Zigeunerglück in sich. So eine Pfeife ist Goldes Wert und mit Worten kaum genug zu preisen. Sie erheitert in hohem Grade das Gemüt, sie ist dem Wanderer so gut wie unentbehrlich und ein lieber Kamerad. Nehmt mir das Rauchen, und ich gehe nicht mehr in die Berge. Mit einer Pfeife hingegen möchte ich ewig schlendern, um die Erde meinetwegen, am Rande des Meeres oder auf gut gefrorenem, leicht federndem Schnee, zwei Stunden Marsch jeweilen und dann eine Rast mit einer Prise Tabak als Nachtisch obendrein. Und ich wollte zufrieden sein.

Beim vorletzten Zuge hoben wir, am Fusse des Rosenhorns, die Tafel auf, schnürten das Ränzchen wieder zu und machten uns bereit auf den Weiterweg. In völlig weich gewordenem Schnee bogen wir nun um die Firnkante herum und erreichten die obersten Hänge des Gauligletschers, die mit neuschneeverdeckten Spalten arg durchzogen waren. Da sahen wir in seiner ganzen Schönheit und Grösse den Berglistock — den Berglistock, auf den wir uns so lange gefreut hatten und den wir heute besteigen wollten.

« He, Walter, wie gefällt dir der Berg? » « Hoh, wenn er uns gelingt » Was die Knochen hielten, stampften wir drauflos. Über Lawinenschnee-klumpen torkelten wir rasch hinweg, erledigten sorgsam den Bergschrund und bohrten uns, buchstäblich bis zum Bauche versinkend, zum Berglijoch empor. Wir wurden zum Umsinken müde, aber der in der Sonne leuchtende Grat da oben, der alle zehn Jahre nur einmal betreten wird, er lockte, zog. Im Joche sammelten wir Wasser, assen etwas Fleisch und Brot dazu, rauchten wieder und tasteten mit dem Glase Stück für Stück des Nordgrates ab. Übermässig leicht war sein Aussehen nicht. Zerzackt, steil aufgestuft und mit Neuschnee besetzt wie er war, sah er im Gegenteil etwas unbändig drein. Es roch nach Ernst, und wir ruhten uns hinlänglich aus, um auf alles gefasst zu sein.

Zwei Uhr mittags war es geworden, als wir uns still an die Arbeit machten. Walter, das kleine, zähe, hagere Bürschchen, ging stillschweigend voraus, seine Äuglein blitzten vor Freude und Kampfbegier, und im Sacke trug er gutverschliessendes, japanisches Papier, worin man biwakieren konnte, wenn Not an den Mann geriet.

Es ist eine eigene Sache um einen stolzen Grat. Sobald wir einmal von seiner Schönheit wissen, wirkt er so mächtig und gleichsam unter der Hand in unserer Seele fort, bis er uns ganz und gar in seine Gewalt gebracht hat. Dann kommt die Stunde, wo kein Ausweichen mehr ist und wo wir uns an ihm versuchen müssen. Wir setzen das Leben aufs Spiel, weil der Grat es will; wir nehmen ihn auf, den Kampf, vom Berge dazu genötigt und nicht aus freiem Entschluss. Was braucht es Mut dazu? Wer von Mut spricht in den Bergen, der ist kein Bergsteiger mehr. Die grössten Taten auch hier oben, in den Bergen, sind nicht dem Mut, sie sind der Liebe und der Sehnsucht entsprungen.

Ganz so erging es uns mit dem Berglistock. Jene drei Stunden aber, in welchen uns der Nordgrat gelang, zählen zu den glücklichen meines Lebens — drei Stunden innigsten Verbundenseins mit der Schönheit und der Seele der Erde. Ich kann mich heute nicht mehr genau jeder Einzelheit dieses Grates erinnern; ich weiss nur noch, dass Turm an Turm sich reihte, von denen einige umklettert werden mussten, und dass der Schneekamm oben, elegant und luftig, sicheres Wiegen in Hüften und Knien verlangte. Die grösste Schwierigkeit bot gleich zu Anfang das westliche Umgehen eines Turmes. Und bis wir aus dessen Flanke über ein senkrechtes Wändlein mit sehr spärlichen Griffen und Rissen den Grat wieder erlangten, war die erste Stunde bereits verflossen. Das nächstemal, sagten wir uns, wird diese Ausgeburt von Teufels-zahn auf direktem Wege gemacht, zeitraubender und brenzliger kann es auf keinen Fall seinDas nächstemal, jawohl! Denn was uns der Berglistock hinterlassen hat, steht heute da als Wunsch, diesen Berg noch einmal zu erleben. Noch einmal mit Freuden auf den Berglistock und noch einmal allein aufs Lauteraarhorn, dann, Berge, habe ich genug! Wer weissDer weitere Aufstieg über den Berglistock-Nordgrat dünkte mich ver-gleichweise leicht; die lockeren, mit Neuschnee besetzten Felsenstufen waren bei weitem nicht so bös, wie man von unten hätte glauben können. Dennoch musste jeder Griff und Tritt zuerst geprüft und dann mit Vorsicht überwunden werden. Es gab der schwierigen Stellen genug, aber Walter, der vorausging, wusste jedesmal fein auszuweichen und mit sicherem Blick den besten oder einzig möglichen Durchgang herauszufinden. An den Felsenrippen, die immer häufiger wurden und den Berg wie Pilaster zu tragen schienen, massen wir, wie weit wir noch vom Gipfel entfernt sein mochten. Der Grat, der uns vom Joche aus nur wie ein Katzensprung erschienen war, zog sich bedeutend und immer mehr in die Länge. Der aus den Tiefen schon entschwindende Tag trieb uns zur Eile an, und wir waren nachgerade froh, dem Nordgipfel endlich, dem Punkt 3636, den Fuss aufs Haupt zu setzen. Die Höhe war gewonnen, vom eigentlichen Gipfel trennte uns nur noch der schon erwähnte luftige, wagrecht verlaufende und zu beiden Seiten jäh abstürzende Schneekamm. Was wir im stillen befürchtet hatten, traf nicht ein: der Grat war ohne Gwächte, ein Vorteil, den wir zu so später Nachmittagsstunde wahrhaftig zu schätzen verstanden. Wir machten uns sofort auf den Weg. Aber von Eile konnte bei diesem Hinübergang, bei diesem Balancieren auf dem hohen Seil noch lange nicht die Rede sein. Ja, Walter hatte recht getan mit seinem Biwakpapier; wir würden am Ende noch froh sein darüber! Schritt reihte sich an Schritt, ein jeglicher gut ausgemessen und gewählt, und siehe da, wir kamen vorwärts, der Wagen lief; jetzt waren wir schon in der Mitte draussen, und über ein Viertelstündchen mochte der Berglistock unser sein. O, es war sehr schön hier oben, ein göttlicher Höhenweg, wie es nicht viele gibt in den Bergen. Auf halber Strecke stand Walter einmal still, verstemmte sich, nahm Atem und jauchzte eins in den still vergehenden Herbsttag hinaus.

Fünf Uhr abends betraten wir den Gipfel, 3657 m. Schweigend genossen wir das kurze Gipfelglück. Wir lagen in der Herbstsonne und wussten es ihr zu danken, dass sie noch einmal, wenn auch spärlich, unsere Glieder wärmte. Mir schien es wie ein Traum, dass wir nun endlich doch hier oben und am Ziele waren. Dies Glück, wie war es nurEin bisschen fremd, unwirklich und im Grunde unerklärlich. War es zu gross, kam es zu unerwartet, als dass wir es nun plötzlich und in wenigen Minuten hätten ganz erfassen können? Seltsam, reichlich seltsam! Wo war der Übermut, der einen sonst auf hohen Bergen jauchzen lässt? Und freuten wir uns nicht schon auf das Neue, auf den Abstieg und das Lager unten in den Felsen? Die Aussicht von da oben, die wir nur rasch und gleichsam wie im Fluge erhaschten, was besagte die? Und was besagte der Gedanke, wieder einmal « einen Berg gemacht » zu haben? Nichts, so gut wie nichts. Und dennoch werde ich die Rast auf dem Berglistock so bald nicht vergessen. Eine Sehnsucht war in Erfüllung gegangen. Und da sassen wir nun, im vollen Besitze des von langer Hand her Gewünschten, aber um eine Sehnsucht ärmer. Wir ruhten am Ziele; der Berg war abgetan, erledigt. Dunkel empfanden wir das seltsame « Gipfelglück », das viel eher einem Verzicht und Schmerze glich. Wer sagte uns, ob wir jemals wieder einen Berg so lieben könnten, wie wir den da mit dem geringen Namen geliebt und umworben hatten? Niemand!

Die Sonne versank, verschleierte sich im Westen. Zum Aufbruch war es höchste Zeit. Jetzt aber, bevor wir gingen, fand Walter, der Ähnliches gefühlt haben mochte, das erlösende Wort: « Ein rechter Kerl ist noch immer wieder zu seiner grössten Liebe zurückgekommen; der da, der Berglistock, das war heute nicht das letztemal! » — « Ja, und bis zum nächsten-mal werden nicht allzu viele hier oben gewesen sein! » fügte Emil überzeugt hinzu.

Den Abstieg nahmen wir über den viel leichteren Südgrat, bogen aber sehr bald, schon nach den ersten fünfzig Meter, in die nächste Schneerinne ein, um durch diese so rasch wie möglich auf den Grindelwaldfirn hinunter zu gelangen. Es liess sich trefflich an, es ging famos. Ha! Walter, wir brauchen deine Beiwacht nicht! frohlockte der Übermut. Mit Siebenmeilenstiefeln griffen wir aus, jappend, torkelnd und holterdipolter im weichen Schnee, ganz unbekümmert, wo der Schuh hintraf. Zuweilen überschlug sich einer der Hintermannen, blieb liegen und liess sich von Walter, dem guten, der auch hier vorausging, ein Stück weit ziehen. Wir waren schon halb unten und schauten wehmütig noch einmal grüssend zu unserm Berg zurück. Doch da mussten wir im Weitergehen plötzlich erfahren, dass auch die Südseite des Berglistockes nicht einfach blindlings zu überrumpeln sei. Es wurde auf einmal steil, verteufelt steil, und dem Schnee war nicht mehr recht zu trauen. Kleine Brocken, die wir lösten, gerieten ins Rollen; dann rauschten ganze Schichten ab und schlugen prasselnd irgendwo unten in die Felsen. Eine solche Rinne wird immer ihre Tücken haben! Wir hielten uns hart an den Rand der Felsen, um nur ja nicht ins Rutschen zu geraten; denn wie es unten aussah, war dem Blicke noch enthoben. Tastend und einer den andern sichernd kamen wir mühsam von der Stelle. Obendrein quälte uns lähmender Durst. Eine Viertelstunde verstrich, bis ein kärgliches Rinnsal drei trockene Kehlen befeuchtet hatte. Während dieser Zeit aber verklärte ein so schönes Zwielicht, ein so ausgesprochenes, so sattes und fast mit Händen zu berührendes Violett den gefährlichen Schnee, dass wir uns nicht erinnern konnten, Ähnliches in den Bergen gesehen zu haben.

Und was jetzt weiter geschah, war auf eine solche Art eindrucksvoll, dass ich heute, Monate später, noch nicht imstande bin, auch nur leise darüber zu lächeln. Wir hatten vom erwähnten Rinnsal aus auf der andern Seite der Rinne eine Felsrippe entdeckt, die für den Augenblick ein besseres Fortkommen versprach. Das ist ja fein! Nur rasch hinüber! jubelten wir. Aber der weiche Schnee, die Lawinengefahr? Das gab zu bedenken, und wir rieten, was tun. Schliesslich äusserten sich zwei dagegen, und der dritte fügte sich. Das war unser Glück. Denn in derselben halben Minute, während welcher wir unfehlbar in der Mitte der Rinne gewesen wären, schwirrte, zischte, pfiff und heulte eine Ladung gewichtiger Steine herab, die uns zu Brei zerschlagen hätte.Verdutzt, erschrocken schauten wir uns an. Wir waren gerettet. Gerettet durch ein Wunder? einen Zufallwer entscheidet das?

Wir hatten genug; wir gaben jetzt das letzte her, um vor dem Einnachten noch den Firn zu erreichen. Und es gelang, gelang wie auf Befehl; denn nach einigen ernsten Stellen wurde das Kamin wieder sanft und breit und lief unten fast eben in den Firn hinaus. Wir fuhren bis zum Bergschrund ab, und diesen nahmen wir im Sprung.

Im letzten Widerschein des erlöschenden Septembertages zogen wir müde, doch froh des schönen Sieges, zum Lauteraarjoch empor. Was nun da oben folgte, gehört auf ein anderes Blatt: es ist die Nacht in Walters gutverschliessendem Japanpapier, das Lager auf 3300 m Höhe und in — 5° Kälte. Wir schliefen nicht viel schlechter als daheim im Bett, von kühnen Träumen eingewiegt. Das Schreckhorn hielt die Wacht; erdfremd, bleich und kalt wie Marmor stand es dort drüben, während das Heer der Sterne leise über den kleinen, von Bergen umgrenzten Lauteraarhimmel glitt.

Otto Zinniker.

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