Bergfahrten auf Korsika
Von Carl Morger.
Unweit der denkwürdigen Schlachtfelder von Ponte Nuovo biegt beim unscheinbaren Dörfchen Francardo eine Nebenstrasse ins Tal des Golo, des grössten Flusses der Insel. Mit seltsam süsslich-scharfem Geruch macht sich bereits die Macchia, der korsische Busch, bemerkbar.
Schroff und steil erheben sich zur Rechten die östlichen Ausläufer des Cintogebirges mit dem nach Süden vorgeschobenen Capo Teri Corsica, 2103 m. Zur Linken klebt sonnverbrannt an steilem Hange das schmucke und weithin sichtbare Bergdorf Castirla. In mählicher Steigung überwindet die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts kunstvoll in die Felsen gesprengte Strasse die lange und tiefe Schlucht der Scala di Santa Regina. Träumerisch schlängeln sich die klaren Wasser des Golo durch das kahle Gestein, kaum dass ein Baum, kaum dass ein Gestrüpp die öden Felsmauern belebt. Kein Laut — es sei denn gelegentlich die heisere, der Schiffssirene ähnliche Stimme eines Esels — durchdringt die von keinem Windhauch bewegte Luft. Vergebens forscht der Blick nach dem Zusammenhange der Spuren eines trotzig kühnen Wegleins, die an den Steilfelsen des jenseitigen Ufers verwegen sich emporranken, als ehedem einziger direkter Verbindung zwischen dem Hochtal von Niolo und der Inselmitte. Am obern Ausgange der Schlucht liegt auf sonniger Terrasse der Hauptort des Niolo, Calacuccia, zugleich Ausgangspunkt der bedeutendsten Turen in der Cintogruppe, von Finch 1 ) mit für unsere Begriffe etwelcher phantastischer Kühnheit das korsische Zermatt genannt. Befreiend weitet sich hier auf über 800 m das Tiefblau des südlichen Himmels und breitet sich über die wohltuende Stille des Tales, seine fruchtbaren Äcker und wogenden Kornfelder, bis abschliessend gegen Westen der riesige Wald von Valdo-Niello mit romantischen Szenerien den Übergang in die wasser- und vegetationsreiche westliche Küstenlandschaft einleitet. Süd-westlich-nordöstlich verläuft, parallel zu den Hauptgebirgszügen der Insel, ein sanft gewellter Kamm mit Erhebungen über 2000 m, zu Füssen deren höchster, der Punta Artica, 2329 m, in traulicher Abgeschiedenheit der liebliche Ninosee das einsame Quellgebiet des Tavignano belebt. In vorerst massig steilem Aufbau erhebt im Norden sich das Cintomassiv, das korsische Hochgebirge. Nicht mit der Kühnheit des Matterhorns, gleichwohl aber die südlich mildere Landschaft majestätisch beherrschend, entragt ihm mit 2710 m der Monte Cinto, die höchste Erhebung der Insel.
War es Zufall, dass die abgelegenen und ehedem schwer zugänglichen Gebiete der Cintogruppe zum bevorzugten Schlupfwinkel der einst sehr zahlreichen Banditen wurden, von denen der Korse gerne und mit Begeisterung erzählt, dieser im Grunde keineswegs schlecht gesinnten, doch wilder Leidenschaft und falschem Ehrbegriffe unterliegenden Männer, die Verrat und eine systematische « Säuberungsaktion » der französischen Regierung fast gänzlich zum Verschwinden brachte? Ist es Zufall, dass an den Steilhängen und in den unwegsamen Schluchten dieser Berge der Mouflon, das korsische Wildschaf, am längsten sich erhält, nicht weniger gehetzt als der Bandit, jedoch zum Unterschied von diesem reichlich spät ihm zuteil gewordenen staatlichen Schutz geniesst? Bandit und Mouflon, beide dem Aussterben nahe, ein Stück korsischer Romantik mit sich begrabend.
Doch eine Romantik blieb, die Romantik der korsischen Berge, einem vor nicht gar langer Zeit fast sagenhaften Gebiete. Keine Clubhütte mit gelegentlich auf geduldigen Radiowellen freventlich in die weihevolle Stille des Hochgebirgs gelockter fader Dielenmusik unterbricht hier das Walten der Natur, das Werden und Vergehen einer südlich üppigen Pflanzenwelt. Keine schreiende Wegmarkierung 2 ) stört den kartensichern Wanderer. Keine übervorsorglichen Einfriedungen, keine naturschändenden Mauerhaken legen beschämend Zeugnis ab von der « Erschlosserung » der Berge. Kaum dass eine Verbauung selbst am talnahen Lauf eines Bergwassers gewahr wird. Doch nötigen ab und zu moosbewachsene Steine eingefallener Brückenpfeiler zu kühnem Sprunge über reissende Bergbäche und deuten an, dass auch hier der Bergbauer aus seinem Reiche verdrängt, der Betrieb einer im Vergleich zu unsern alpinen Sennereien ohnehin sehr bescheidenen korsischen Bergerie den Unterhalt selbst primitivster Zugänge da und dort nicht mehr lohnt. Um so ungehemmter entfaltet sich das Leben der Pflanzen-, nicht minder das der Tierwelt, die jedoch auffallenderweise, trotz der südlichen Lage der Insel, mit keiner eigentlichen Schlangenart vertreten ist. Wo umsäumt von Lorbeer, Oleander und Erdbeerbäumen, von Korkeichen und Edelkastanien die Macchia mit ihrem scharfen Duft von Myrten, Rosmarin und Lavendel, von Zistus, Ginster und Mastix, dem aufstrebenden Bergwald mit seinen gewaltigen Steineichen und hochstämmigen Buchen, seinen riesigen Lärchen und Kiefern weicht, gedeihen Efeu, Buchs und Wacholder, spriessen hohe Farrenkräuter, leuchten in wunderbar zartem Grün die hohen Büsche der weissen Erika, beleben Hauswurz und Berberitzen, Orchideen und Liliaceen das bezaubernde Bild der korsischen Berglandschaft. Doch die Alpenrose fehlt. An die Zweige der jungen Kiefern reiht der geheimnisvolle Pro-zessionsspinner seine feinen weissen Cocons, dieweil zur Erde der fleissige Skarabäus, der den alten Ägyptern heilige Pillendreher, mit bewunderungswürdiger Ausdauer und Geschicklichkeit seine kunstvoll geformten Kugeln rückwärtsschreitend über steinige und dornige Hindernisse schiebt und aus dem Dunkel immergrüner Büsche melodische Nachtigallenstimmen die feierliche Stille bis tief in die Abenddämmerung hinein traulich unterbrechen.
Zwei Stunden nach Mitternacht verlassen wir unser Biwak unter mächtigem, überhängendem Stein, dem seit ungefähr drei Dezennien die gewagte Bezeichnung « Grotte des Anges » eigen ist. Mit dem Eintritt in die von Farn, niederm Buschwerk, Krummholz und gewaltigen Kiefern besetzte Waldpartie verlieren wir die Spuren des schwach markierten Maultierweges, der von Calasima, dem originellen, auf 1100 m höchstgelegenen Dorfe Korsikas zur Bergerie de Ballone führt. Den in wildem Lauf vom Engtale der Fontaine Tiborba zutale stürzenden Bach durchquerend, über Geröll und mächtige Steine, über gestürzte, vermodernde Baumstämme, durch hinderndes Gestrüpp und ausgetrocknete Rinnsale zufälliger Wildbäche streben wir aufwärts und entsteigen auf der ungefähren Höhe der Bergerie dem durch fahles Mondlicht gemilderten Dunkel des nördlichsten Ausläufers des ausgedehnten Waldes von Valdo-Niello. Erst halten wir uns zur Linken des als reissendes Bergwasser tosend durch gewaltige Blöcke sich zwängenden jungen Viro, durchqueren beim dürftigen Scheine einer Taschenlampe nicht ohne durch die Dunkelheit bedingte Vorsicht auf sprungbegünstigenden glatten und ausgewaschenen Felsstücken die rauschenden Wasser und gewinnen den engen, steilen und rauhen Einschnitt, der zwischen P. 2241 und der Punta Minuta, 2547 m, zur Einsattelung der Bocca Minuta, 2150 m, hindernisreich sich emporzieht.
Mählich weichen die Schatten einer milden Sommernacht, mählich erscheinen im matten Dämmerlichte kalt und seltsam farben die Steilpartien an den Capi Tighietto, 2285 m, und Uccello, 2295 m. Mit sym- metrischem Aufbau, einer riesigen Orgel gleich, erhebt anschliessend sich die erhabene Gestalt der Paglia Orba, 2523 m, des unstreitig schönsten Berges der Insel. Mit dem anbrechenden Tage aber steigen, eine Eigentümlichkeit derselben, die leichten Morgennebel, um meist bis zum Spätnachmittage die Kuppen der Berge in ihre weissen und rosafarbenen Schleier zu hüllen. Dass wir die Passhöhe noch vor dem Wetterumschlag erreichten, um wenigstens einen Teil der vielgerühmten Aussicht von der wilden dreikantigen Pyramide der Punta Minuta, dem orographisch bedeutendsten Punkte Korsikas zu gemessen, die an hochalpinem Gepräge dort nicht übertroffen wird und ihresgleichen nur in den Alpen finden soll: die Aussicht auf die wildromantischen Szenerien der flankierenden Gräte, den Tiefblick in die pfadlosen Schluchten der Nordabstürze, den weiten, ungehemmten Blick über das Hochtal von Niolo auf die südliche Inselhälfte, das westlich fjordartig ins Land drängende Meer, die glitzernde Lagune von Biguglia an der fieber-gefährdeten geradlinigen Ostküste, die ferne Küste der Riviera mit der zarten Silhouette der ligurischen Alpen und jene der Toscana mit den sanften Wellenlinien des Apennin, die Inseln des Toskanischen Archipels: Gorgona, Capraja, Pianosa und Monte Cristo und die zugleich mit dem im fernen Süden wahr-zunehmenden herrlichen Golf von Ajaccio eindringlich an ein Weltdrama gemahnende Insel Elba. Und der Wunsch wird Erfüllung.
Mit Zacken und Türmen reich besetzt zieht von der Bocca Minuta nordwärts die Kette bis zur Mufrella, 2148 m, die nur härteste Arbeit in stundenlanger Ausdauer zu bezwingen vermag. Im Osten steigt dicht vor uns der Grat zum nebelverhangenen Gipfel der Punta Minuta empor, um auf der andern Seite in nur wenig mildern Formen in die Doppelspitze des Capo Rosso, 2475 m, überzugehen. In unwegsamen Tiefen verlieren sich die westlichen Taleinschnitte in der ausgedehnten Waldzone von Filosorma; die nordöstlichen werden von den Kämmen aufgehalten, die das Asco- oder Stranciaconetal begrenzen, dem Virotal ebenbürtig an alpiner Schönheit und Romantik, an Abgeschiedenheit dasselbe noch übertreffend. Erblickte das Auge nicht die sanften Hügellinien, die von den steil abfallenden Ketten allmählich in die lieblichen Gestade des Golfes von Calvi übergehen, nichts gemahnte hier oben an die südliche Anmut, die selbst wilde und schroffe Gebirgspartien Korsikas von unsern vergleichsberechtigten Alpenlandschaften auffallend unterscheiden.
Unheilverheissend verdichten sich zusehends die Nebelstreifen, mit denen bald ein scharfer West sein Spiel beginnt. Gelegentlich weht ein Dohlenpaar vorüber, kämpft ein Geier oder Adler gegen die anstürmende Windsbraut. Einsetzender Kälte wegen kürzen wir die Rast, umgehen die Steilwände der Westseite und greifen seilverbunden in die Südwestflanke der Punta Minuta. Bleicher, trügerischer Sonnenschein weicht mehr und mehr kältenden Nebelschwaden, die immer seltener den Überblick der steilen Kletterstellen gestatten. Ein riesiger Zacken, der auf scharfem Grate gespensterhaft im Nebel auftaucht, kann auf halber Höhe seitlich umgangen werden. Und damit wird der « Weg » zum Gipfel frei, der Weg des Kletterers, dessen Wille auch dort zum Wege wird, wo der Ungeübte nur haltgebietende Fels- massen sieht. Schärfer und schärfer schneidet der eisige Wind die dünne Luft und dringt unbarmherzig durch die leichte Kleidung, die dem Breitegrade und weniger den besondern klimatischen Verhältnissen der Insel der Kontraste angepasst wurde. Kalt und kälter fühlt sich der Fels an, und einsetzender Schneefall gebietet äusserste Vorsicht an exponierten Stellen der glatten blutroten Porphyrwände.Verwegener Gedankenflug setzt über die nebelverhangenen, schneeverwehten Gräte und berührt nur wenige Kilometer von unserm Standorte die milden Küstengebiete, wo schattenspendende Palmen sengende Sonnenstrahlen abhalten, wo an sonndurchglühten Strassenrändern Agaven und Feigenkakteen, die korsischen « Figues de Barbarie », blühen, wo Feigen und Mandeln reifen und erfrischender Meerwind durch graue Olivenhaine zieht und den schmalen Blättern schwermütiger Eukalyptusbäume seltsam flüsternde Melodien entlockt. Doch vorwärts gebietet das gesteckte Ziel, vorwärts die Kälte, der Nebel und das Schneegestöber. Endlich aber entsteigen grauen Nebeln keine schwarzen Felsgebilde mehr. Grau in grau liegt sturmdurchtost das Nichts vor uns. Die zackige Spitze der kühnen Punta Minuta liegt zu unsern Füssen. Mit erstarrten Händen die Rucksäcke vom Schnee befreiend, beschliessen wir die ungesäumte Fortsetzung der Überschreitung.An den Hängen der Punta Liciola glimmt ein Hirtenfeuer. Geradlinig steigt sein helles Räuchlein zum sternbesäten Firmament empor und verfängt sich in den sturmzerzausten Kronen uralter, an Mächtigkeit auf der Insel nicht übertroffener Lariciokiefern, die der Bergwald, den Arven der Alpen gleich, an die verhältnismässig tief liegende Baumgrenze des obern Virotales vorgeschoben hat. Sömmerlich wohlige Nachtluft umfängt uns. Weiches Mondlicht hegt milde über der Ruhe des anmutigen Hochtales, das der Bergbach mit fernem, leisen Rauschen durchzieht. Nicht der eindrucksvolle Ernst unserer Hochalpen, die bei all ihrer Kühnheit gleichwohl südlich mildern Formen des korsischen Gebirges beherrschen das Bild. Bergnacht des Südens! Talbeherrschend überragt in wilder Kühnheit die zerrissene Punta Minuta die Schatten ihrer scharf gezackten Gräte. Ihre eine Flanke scheint als einzige, gewaltige, magisch im bleichen Mondlichte glänzende Wand über Capo Tighietto und Capo Uccello zu verlaufen. Von diesem sanfter gegen Südwesten abfallend und jäh zur fast senkrechten Ostwand der Paglia Orba sich wieder aufrichtend, verläuft der Grat allmählich in die wundervoll geformten Scheitellinien dieser Königin der korsischen Berge. Zur Rechten sucht der zerhackte Kamm über die Spitzen des Capo Rosso und des Capo Larghia die Verbindung mit der südlichen Cintokette, die, über dem wilden Cintosee leicht abfallend, auf nahezu 2400 m die Bocca Crocetta, den höchsten Pass der Insel, formt, um neben seltsamen menschenähnlichen riesigen Felsgestalten, die Steilpartie des gebieterischen Monte Falò, 2549 m, auftürmend, über den angrenzenden Monte Albano, 2026 m, abschliessend in die Steilwände der Cinque Frati, 2003 m, der Kreuzberge Korsikas, überzugehen.
Zu viert durchqueren wir in kühnen Sprüngen die im nächtlichen Dunkel der Waldpartie von moosbewachsenen Uferstellen oft kaum zu unterscheiden- den Wasser des Viro, biegen ins oberste, rechte Seitental dieses Nebenflusses des Golo und erreichen den kaum ausgetretenen Hirtenpfad, der zur Linken des Talbaches, erst in widerspenstigem Erlengebüsch und dann in rauhen Felspartien fast gänzlich sich verlierend, zur Höhe des Col de Foggiale, 1963 m, hinanführt. Hundegebell verkündet die Nähe einer Bergerie. Langsam weicht die Dämmerung, und an die scharfen Spitzen, an Wände und Gräte, an Türme und Zacken schmiegen schüchtern sich die ersten rosafarbenen Strahlen der aufgehenden Sonne, der Sonne, die glühend dem Tyrrhenischen Meere entsteigt.
Rast am Col, zu Füssen der steil sich auftürmenden Gipfelpartie der königlichen Paglia Orba. Mit der Durchkletterung einer etwa 4 m hohen schrägen Platte beginnt hier der übliche Südwestanstieg. Doch locken weiter rechts liegende Kamine in der zerrissenen flechtenbewachsenen Südwand zu interessanteren Aufstiegsversuchen, die, wenn Eis und Schnee gewichen, da und dort mit Erfolg gekrönt wurden. Wir entledigen uns der Säcke, vertauschen die nägelbespickten mit den hanfgeflochtenen Sohlen und gehen ans Seil. Michaud, der gewandte und zuverlässige Klosterser Führer, packt an. In exponierter, doch leichter Kletterei erreicht er knapp vor einem jähen Abbruch der Wand ein schmales Band, stemmt in engem Kamin sich wenige Meter höher und gewinnt sichern Stand vor einer höhlenartigen Vertiefung, darin Schneereste langsamer Auflösung durch spärliche Sonnenstrahlen harren. Umsonst suchen wir hier nach Spuren früherer Begehung, nach einem auch hierzulande nicht seltenen Steinmann, obschon die nähere « Umgebung » uns mit aller Deutlichkeit nahelegt, dass der Berg hier manchem Angriff trotzen mochte. Denn steil und grifflos türmt dicht vor uns ein mehrere Meter hoher Felsvorsprung sich auf, der weder zur einen noch zur andern Seite eine auch nur annähernd ihren Namen verdienende Kaminbildung aufkommen lässt und dessen oberer Teil nur geringste Aussicht auf einen einigermassen sichern Stützpunkt zulässt. Wir verbinden die beiden Seile und « gehen » einzelgesichert. Behende greift Michaud in die Felsen. Adhäsion und seitliche Verklemmung auf der einen Seite des Blockes bieten Aussicht auf langsames, mühsames Vorwärtskommen. Aber die tastenden Hände suchen umsonst nach einem sichern Griff. Aussichtslos. Der Versuch muss hier aufgegeben werden, wenngleich die andere Seite des Felskopfes keine grössem Möglichkeiten des Vorrückens verspricht, den Führer aber gleichwohl zu einem letzten Versuche reiz. Und schon schmiegt sich sein Körper elastisch in die Rinne, zieht langsam, langsam sich empor, stemmt sichernd sich gegen die eine, um im nächsten Momente nach rascher und geschickter Drehung an winzigem Griffe der andern Flanke vorsichtig sich hinaus- und hinaufzuarbeiten. Als sähen sie die Nutzlosigkeit des Widerstandes gegen den Tatendrang begeisterter Bergfahrer ein, verlieren die Steilformen des Berges mit einem Male ihre Kühnheit, um allmählich in sanft ansteigenden Linien in der fast ebenen Gipfelpartie zu kulminieren. Erschaudernd ist der Tiefblick von den leicht überhängenden Felsen in die jäh abstürzende Ostwand, ins stille Vallone di Calasima, in das von der einheimischen Bevölkerung so benannte obere Virotal; über den mehr als 500 Meter hohen, fast senkrecht abfallenden Ostgrat, dessen erste Bezwingung am 15. April 1909 den Engländern A. Bryn und G. und M. Finch 1 ) nach mehr als siebenstündiger schwerster Kletterei gelang und woran selbst ansässige Hirten immer noch nicht glauben wollen; in die tiefen nördlichen Taleinschnitte, aus denen zahlreiche Bergwasser dem Fangoflüsschen zuströmen.
In ungewohnten Formen steht mit weitem Felsenfenster westwärts der sagenumwobene Capo Tafonato, 2343 m, mit dem stolzen Capo Scaffone, 1948 m, verbunden, dessen Riesenkuppel über waldreichen Anhöhen sich wölbt. Von der zerrissenen Südwand führen kahle Höhenzüge südwestlich hinüber zum Col de Capronale, 1730 m, von dem grünende Hügel mählich zur Küste sich senken. Eine südliche Kette verläuft über den Capo Guagnerola, 1952 m, bis zum einsamen Col de Vergio, 1464 m, der die mächtigen Waldgebiete von Valdo-Niello und Aitone scheidet. Im Süden, an zentralster Lage der Insel, leuchtet mit schneebedeckten Schultern der formschöne Monte Rotondo, 2625 m, der bis vor wenigen Jahrzehnten den Titel des höchsten Berges Korsikas führte. Zur Rechten, scheinbar flankiert von dem weit südlicher liegenden scharf gezackten Mantellucciogebirge, zur Linken über den Capo alla Metà, 1986 m, mit der Monte d' Oro- und Monte Renoso-Gruppe verbunden, beherrscht die Rotondokette mit wahrhaft majestätischer Pracht die südliche Inselhälfte. Und weiter südlich, umflort von zartem Dunste, ragen die scharfen Spitzen der einsamen Bavellagruppe zum Firmament, wo unvermerkt der Horizont die fernglitzernden Wasser des Meeres berührt, des Meeres, das Korsika, das einstige Cyrnos, die « Insel der Schönheit », mit ewig rauschender Brandung säumt.