Bergfahrt durch Nepal
VON COLIN WYATT
Mit 6 Illustrationen ( 23-28 ) Im Frühjahr 1958 widmete ich zehn Wochen einer Erkundungsfahrt in die Berge Nepals, wobei ich das Land kreuz und quer durchstreifte. Ich reiste sehr bescheiden mit drei bis fünf Kulis, je nach der Länge der einzelnen Etappen und der Menge an Lebensmitteln, die sie erforderten. Von Kathmandu aus begab ich mich mit dem Flugzeug nach Pokhara. Dann stieg ich das Kali-Gandaki-Tal ( zwischen Dhaulagiri und Annapurna ) hinauf, wo ich nach einem Zehntagemarsch Mustang, am Eingang zum Tibet, erreichte. Nach meiner Rückkehr nach Kathmandu führte mich der Weg zuerst sechzehn Tage in östlicher Richtung gegen Namche Bazar, von wo ich bis zu den Everest-Gletschern hinaufstieg. Das macht im ganzen eine Marschleistung von ungefähr 750 km auf Höhen von 800 m bis 5000 m. Die Verpflegung nahm ich vom Ausgangsort mit; aber, ausser in den höchsten Regionen, konnte ich unterwegs immer Hühner und Eier kaufen und in den höher gelegenen Dörfern noch Kartoffeln und Schwarzbrotfladen auftreiben. Meistens nahm ich mir nicht die Mühe, mein Zelt aufzustellen, und übernachtete bei einem Bauern, wo ich meinen Schlafsack auf dem sauberen Boden der Wohnstube, alias Küche, ausbreitete.
Nepal lässt sich gut mit der Schweiz vergleichen, aber so, wie sie im 16. Jahrhundert ausgesehen haben mag. Dabei ist natürlich der Gebirgsteil Nepals gemeint, der drei Viertel des Landes ausmacht, nicht aber der Saumstreifen gegen Indien mit seinem Tropenklima, noch das Tal von Kathmandu. Letzteres liesse sich mit Luzern und dem Vierwaldstättersee vergleichen, wenn an Stelle des Sees eine fruchtbare Fläche wäre. Das Tal von Kathmandu stellt die einzige für den Ackerbau geeignete, ebene Fläche dar. Ein Europäer kann sich die Gebirgsgegend Nepals am besten vorstellen, wenn er sich einen Weg vom Lac Champex bis Visp in gerader Linie quer durch die Vorketten der Penninischen Alpen denkt: ein Gewirr von hohen Graten und tiefen Schluchten, wo unmöglich ein Fahrzeug durchkommt Ein Paradies für den Fusswanderer.
Es ist das gastfreundlichste Land, das ich kenne. Wohin man kommt, überall ist man mit freundlichem Lächeln aufgenommen In den Dörfern schätzen sich die Leute glücklich, einem ihre bescheidene Gastfreundschaft anbieten zu können. Und dabei führen sie ein ausserordentlich einfaches, hartes Leben verglichen mit unserem Lebensstandard. Sie entbehren aber nichts und sind glücklich, wenn sie in Frieden ihr kleines Stück Erde bebauen, ihre Kinder grossziehen und mindestens zweimal in der Woche ihr kleines « Gelage » haben können. Jeder Vorwand ist recht, um ein solches Fest zu starten, und wer die Berge und Täler Nepals durchstreift, begegnet überall dem fröhlichen Lachen dieser Menschen.
Die günstigste Zeit, um dieses Land zu besuchen, ist zwischen Anfang Mai und Mitte Juni, wenn die Täler ergrünen, oder von Ende September bis Ende November, wenn die Monsunregen die Atmosphäre vom Staube reingewaschen haben und die hohen Bergspitzen des Himalaya in einen unglaublich klarblauen Himmel ragen. In dieser Nachsaison überwiegen in der Natur die Goldtöne: das Gold der reifen Kornfelder, das Gold der Dreschplätze und der Ährenhaufen, während die höher gelegenen Weiden wie mit einem rostroten Schleier überzogen sind. Ich selbst habe aber den Frühling noch lieber, wenn auch zu dieser Jahreszeit die Gipfel erst richtig sichtbar werden, wenn man am Fuss der Berge steht. Es ist die Zeit der Rhododendren, und ich kenne nichts Packenderes als einen Rhododendronwald im Himalaya, wenn er in voller Blüte steht. Es sind hier nicht die bescheidenen Büsche, wie wir sie in Europa kennen, sondern zehn bis fünfzehn Meter hohe Bäume, deren ganze Krone eine einzige Masse von rosa- oder scharlachroten Blüten bildet. Ein ungeheures, 300 m hohes Rosaband umgürtet die Bergflanken, auf Kilometer weit zu sehen. Der Anmarschweg zum Himalaya geht durch diesen Wald, den ich drei Tage nach meinem Aufbruch von Pokhara zum erstenmal betrat.
Pokhara ist ein Städtchen mit alten Häusern und mit steinplattengepflasterten Strassen. Man sieht sich ins Mittelalter zurückversetzt. Über dem dreistöckigen Dach der Pagode ragt die dünne, funkelnde Spitze des Machapuchare zum Himmel, 5000 m höher. Hier dingte ich meine Kulis und kaufte den Proviant ein. Am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg nordwärts durchs Tal. Die Luft war heiss und staubig, und bald verblasste die Silhouette des Machapuchare im Dunst. Der Weg führte durch viele kleine Dörfer, die im Schatten von Bäumen liegen. In einem dieser Weiler begegnete ich einem fröhlichen Hochzeitszug, von Tambouren und Musikanten begleitet. Wasserbüffel schauten ruhig dem Treiben zu 1.
Bald wandte sich der Weg nach Osten in ein Seitental und kletterte dann zum schmalen Grat empor, der das tief eingeschnittene Tal überragt. Die meisten Dörfer sind auf die Gratrücken 1 Im ganzen Orient verbringen die Büffel die heissen Stunden des Tages im Wasser der Flüsse und Teiche; nur ihre Köpfe mit den schweren Hörnern ragen heraus.
gebaut; denn die Täler sind so eng und die Seitenhänge so steil, dass sie keinen Platz für die Siedlungen bieten, und überdies wären diese während der Monsunregen und bei der Schneeschmelze zu sehr von Überschwemmungen bedroht. Diese Dörfer sind von Gurung bewohnt, einem Gurkha-stamm. Die Steinmauern der ovalen Häuser sind ockerfarbig getüncht und mit spitzen Strohdächern gedeckt. Die in Terrassen gestaffelten Gerstenäcker an den Hügelflanken wogen wie grüne Wellen, und auf den Höhen weiden die Büffel und vereinzelte magere Kühe.
Um das Kali-Gandaki-Tal zu erreichen, waren zwei Nord-Süd orientierte mächtige Bergvorsprünge und die dazwischen liegende Schlucht zu überwinden. Ich brauchte dazu drei Tage. Die zweite Nacht verbrachte ich in einem Dorfe am Rande des Rhododendronwaldes. Am folgenden Tag führte mich der Weg stundenlag durch diese Farbenpracht. Der Fussweg schlängelte sich zwischen den Stämmen dieser wohlriechenden Bäume hindurch. Die Stille wurde nur vom Vogelgezwitscher unterbrochen. Das Murmeln des Wassers in den Schluchten drang kaum zu uns herauf. Es war wie das Bühnenbild für ein romantisches Ballett. Dann plötzlich belebte sich die Szene. Man hörte silbernes Glockengebimmel, und bei einer Wegbiegung erschien zwischen den Baumstämmen hindurch eine Karawane von tibetischen Ponys. Die langen, karmesinroten Federn, die ihre Köpfe und die Brustriemen ihrer Führer schmückten, harmonierten aufs schönste mit dem Rot der Rhododendronblüten. Es folgte - in gestickten roten Filzstiefeln fast lautlos einher-schreitend - eine Gruppe von Männern und Frauen, geschmückt mit silbernen Armspangen und Korallen- oder Türkishalsbändern. Ein Augenblick - und schon war der Spuk vorbei, und der Ton der Glöcklein verklang in der Tiefe des Waldes. Der Weg stieg bis zu einem 2800 m hohen Übergang an, von wo ich, zwischen der scharlachroten Blütenfülle hindurch, auf der andern Seite die blendende Silhouette des Dhaulagiri erblickte. Für die Nacht hielt ich in einem kleinen Dorf zwei Wegstunden vom Fluss entfernt. Hier waren die Steinhäuser rechteckig, mit einem Dach aus Steinplatten. Der Wohnraum der Familie, in dem ich schlief, war tadellos sauber, der Boden sorgfältig gewischt. An der Mauer über der Herdnische glänzten die Kupfergeräte. In einem Winkel des Raumes war der Familienaltar, mit Vasen voll weisser Orchideen geschmückt und von Öllampen erhellt. Um meine Müdigkeit zu verscheuchen, schenkte mir der Gastgeber ein Glas « Rakshi » ein, den ausgezeichneten Branntwein dieser Gegend, den man für 90 Rappen den Liter kauft. Wie mir später ein offizieller Funktionär erklärte, sind weder Alkohol noch Hausbrennerei mit Steuer belastet, da die Leute in diesem rauhen Klima den Alkohol nötig haben.
Nachdem er den Fluss überschritten hat, steigt der Autor durchs Kali-Gandaki-Tal hinauf Am zweiten Tag weitet sich die Schlucht aus, und er setzt seinen Marsch zwei Tage weiter fort, zur Rechten das Eis des Annapurna und zur Linken die ungeheure Ostwand des Dhaulagiri.
Das Tibet machte sich schon bemerkbar durch das Auftauchen von Dzokarawanen, geführt von Tibetern oder Bhotia mit ihren zu Zöpfen geflochtenen Haaren. Auf der Höhe von 2400 m verbreitert sich das Tal beträchtlich. Es ist mit lichten Föhrenwäldchen und schönen Dörfern übersät. Mit ihren Steinhäusern mit Plattendächem und den sonnegebräunten Holzläden erinnern mich diese unwiderstehlich an Walliser Dörfer, nur sind sie - meine Walliser Freunde mögen mir verzeihen - sogar sauberer. Die bewegte Luft riecht nach dem Harz der Föhren. Sie ist so durchsichtig, dass man jeden Maßstab für Grössenverhältnisse und Entfernungen verliert. Der Annapurna, der im Osten hervorragt, erscheint mir nicht höher als der Mont Blanc, und doch überragt er meinen Standort um 5600 m.
An diesem Abend errichtete ich mein Zelt in einer Grasmulde unter einem Steilhang, dessen oberste Partie mit Föhren besetzt war. Vor meinen Augen der Dhaulagiri. Die Schneefahne an seinem Gipfel rötete sich im Licht der untergehenden Sonne. Auf einem runden Hügel am gegen- überliegenden Ufer des Flusses, etwa einen Kilometer entfernt, stand ein Lamatempel im tibetischen Stil.
Ich verliess nun die Monsunzone und drang in eine trockene Landschaft von ausgesprochen tibetischem Charakter ein. Am Mittag des nächsten Tages hatte ich die letzte Föhre weit hinter mir. Ich traf nur noch Weiden mit zartgrünen Blättern und Mandelbäume, die die Dörfer wie Rosawolken umgaben. Auch die Bewohner waren nun Tibeter, die Männer mit langen Zöpfen und einem Goldring und Türkisen am einen Ohr. Die Dörfer gleichen Festungen und erinnerten mich - wie auch die Landschaft - an Berberdörfer und an die Landschaft des Hohen Atlas in Marokko: steinige Hänge mit dornigen Sträuchern besprenkelt.
Jede Siedlung hat ihren öffentlichen Platz, gegen Norden offen, aber gegen die heftigen Südwinde geschützt, welche jeden Morgen um halb 11 Uhr aus dem heissen Kessel der Indischen Ebene zu den eisigen Hochebenen Tibets aufsteigen. Vor den Häusern sind in lebhaften Farben gekleidete Frauen beschäftigt, in grossen Steinmörsern das Korn zu zerstossen. Oder sie spinnen die Wolle, die sie zu Stoffen weben. Das Korn wird auf dieser Höhe ( mehr als 3200 m ) nur 10 cm hoch. Die Dörfer liegen inmitten von Oasen leuchtend grüner, schachbrettartig angeordneter Felder, die durch niedere Trockenmauern voneinander getrennt sind.
Nach einigen Tagen verliess ich das Haupttal, um zum Tempel von Muktinath hinaufzusteigen, einem der heiligsten Wallfahrtsorte im Himalaya. Er liegt über 4000 m hoch in einem einzigartigen Pappelwäldchen verborgen, welches von einer reichfliessenden Warmwasserquelle, die der Bergflanke entspringt, bewässert wird. Ich kampierte während zweier Nächte in einem kleinen tibetischen Tempel, einem « Gompa », der von der Flamme eines natürlichen Gases erwärmt wurde, das einem Spalt unter dem Altar entströmte. Jeweils um 6 Uhr, abends wie morgens, trat ein alter Lama ein, schlug die grosse Trommel, blies in eine Hohlmuschel und kauerte dann nieder, um seine Gebete zu murmeln.
Das benachbarte Dorf Bhotia empfing in diesen Tagen den Besuch eines wichtigen Lamas. Es war die Zeit des Vollmondes. Im Patio, unter dem Dach des « Gompa », leitete die Eminenz eine Zeremonie. Während er mit einer Hand die Doppeltrommel und mit der andern eine Glocke bediente, psalmodierten die Priester die heiligen Texte zur Begleitung des tibetischen Orchesters: Trommeln, Kupfer- und Silberklarinetten, Zimbalen, Muscheln und drei Meter lange Kupfer-trompeten, deren Ton ganz an das Alphorn erinnert. Am Nachmittag, als der Gesangsgottes-dienst zu Ende war, stiegen alle auf das Dach des « Gompa », wo sechs von ihnen, in bunten Seiden-roben und mit fürchterlichen Teufelsmasken angetan, langsam die rituellen Tänze zu den Klängen dieser fremdartigen, unheimlichen Musik ausführten.
Zwei Tage später war ich wieder unterwegs durch eine furchtbare Schlucht, deren Wände 1000 m emporstiegen. Diese gelben, braunen und lilafarbenen Sandsteinfelsen, vom Wind zu ungeheuren Säulen und Türmen erodiert und kanneliert, erinnern an den Grand Canon von Arizona. Es ist eine steinige, wüstenartige Landschaft. Nur da, wo in den Hauptfluss ein Nebenfluss mündet, trifft man in Oasen von grünen Kulturen freundliche Dörfchen. Sie standen eben im Schmucke ihrer blühenden Mandelbäume. Als ich gegen Abend in einem solchen Weiler ankam, waren die Leute gerade mit der Zubereitung des « Chang », ihres Biers, in einem enorm grossen Holzbottich beschäftigt. Am folgenden Tag sollte eine Bogenschiesskonkurrenz mit Mannschaften aus fünf Dörfern stattfinden. Die « Champions » waren von weit her gekommen, eine Equipe sogar von jenseits der tibetischen Grenze.
Um halb 3 Uhr versammelten sich die Wettkämpfer und die Dorfvorsteher, und der « Chang » begann zu fliessen. Gegen halb 5 Uhr endlich, als sie sich schon in sehr « gehobener » Stimmung befanden, begaben sich die Leute, angeführt von drei Tambouren, im Umzug auf den grossen, hartgestampften Dorfplatz, stolz ihre Bogen schwingend. Kleine Buben trugen die Pfeile. Zwei Bretter, etwa 2 m hoch und 25 cm breit, wurden in 25 m Distanz aufgerichtet. Die beiden gegnerischen Mannschaften setzten sich in zwei Reihen einander gegenüber, und die Silberpokale begannen wieder zu zirkulieren. Endlich stellten sie sich, nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, ins Glied, und jeder Mann schoss zwei Pfeile ab. Unnötig zu sagen, dass bei dem Zustand, in welchem sie sich befanden, vielleicht ein Pfeil von fünfzig sein Ziel erreichte. Der glückliche Schütze wurde dann mit einem mit weissem Wacholderzweig geschmückten Turban gekrönt, und der « Sieg » wurde mit neuen Bechern Changs begossen. Als alle Pfeile abgeschossen waren, begab man sich auf die andere Seite des Platzes, und das Schiessen begann von neuem, diesmal in umgekehrter Richtung. Die Gesellschaft wurde immer lärmiger; alles schien sich toll zu amüsieren. Aber ich konnte nicht herausbringen, wer am Ende gewonnen hatte und ob es überhaupt einen Sieger gab!
Eine alte Frau bereitete für mich und meine Träger auf ihrem Heuboden ein bequemes Nachtlager. Durch ein Tor betraten wir den ummauerten Hof, wo die Yaks wiederkäuten. Über einen Balken mit Kerben, eine richtige Hühnerleiter, gelangten wir in den oberen Stock, der den schwarzen, gelockten Tibetziegen als Stall diente. Eine zweite Leiter führte uns durch eine Decken-öffnung aufs Dach, von wo man das Dorf und das Tal überblickte. Hier befand sich der Heuboden. Die gute Frau brachte mir einen Haufen kleiner Fladen, die sie eben gebacken hatte, und ihr Sohn kam mit einem Armvoll Wacholderästen für ein Feuer. Während ich mein Abendessen bereitete, versammelte sich die ganze Familie um mich, lachte und überhäufte mich mit Fragen. Meine Ausrüstung wurde bewundert und die Konservenbüchsen als Schätze gesammelt.
Die Zeit des Aufbruchs von Mustangbhot war gekommen Ich kehrte Tibet den Rücken und stieg wieder durch die grossen Schluchten talwärts. Oft musste ich den Fluss durchwaten, in welchem sich die weisse Wand des Annapurna spiegelte, von hohen braunen Steilhängen umrahmt. Von Stunde zu Stunde kam ich der mächtigen Silhouette näher, und zwei Tage später führte mich der Weg wieder zwischen ihr und dem Dhaulagiri hindurch. Die ersten Föhren zeigten sich, die trockene Landschaft Tibets tauchte hinter mir in den Dunst der Vorberge. Es ist eine andere Welt: Klima, Bevölkerung, ihr Wohnen, ihre Lebensweise, alles ist hier anders. Während die Bhotia, ähnlich wie die Tibeter, zwar gastfreundlich, aber von stiller Wesensart sind, fand ich mich hier wieder unter den lebhaft fröhlichen, allzeit zum Lachen bereiten Gurkha. Es war ein köstlicher Gegensatz.
In Kathmandu zurück, ruhte ich mich eine Woche aus und machte mich dann mit fünf Kulis wieder auf den Marsch dem Everest entgegen. Ich brauchte sechzehn Tage, um alle Nord-Süd-Ketten dieses Teiles des Himalaya mit den tiefen Tälern, von denen sie durchschnitten sind, zu durchqueren. Zuerst kommt man durch eine fruchtbare Gegend von warmen Farben: roter Boden, rote Felsen, ockerrote Häuser. Einige grosse Affen spielten, ohne sich vor uns zu fürchten, dem Weg entlang. Eines Tages aber erschreckte mich ein Bauer mit der Meldung, dass Tiger in der Nacht seine Hühner getötet hätten. Er hatte auf sie geschossen und glaubte, eine der Bestien getroffen zu haben. Er hoffte, das Tier zeige sich nicht wieder. Aber während der nächsten zehn Kilometer sprang ich jedesmal entsetzt auf, wenn sich ein Busch im Wind bewegte!
Der Marsch war mühsam, aber wundervoll. Die Gegend ist hier dicht bevölkert, und die Abhänge der Hügel sind, wo immer möglich, terrassiert und angebaut. Nach und nach wurde die Landschaft rauher, die Flüsse breiter, und die Passübergänge stiegen bis auf 3600 m an. Am zwölften Tag erreichte ich wieder Rhododendronwald, deren Blüten hier eher rosa bis weiss sind, auf den höchsten Punkten heliotropfarbig. Als ich einen dieser Vorberge überschritt, kam ich in steilem Abstieg zwischen mächtigen Koniferen in eine völlig andere Landschaft. An Stelle der in Terrassen gestaffelten Felder traten Wiesen mit weidenden Kuh- und Dzoherden. Die Bewohner sind Sherpa, ihre Dörfer könnten Schweizer Dörfer sein. Die Wiesen sind mit rosaroten Primeln und winzig kleinen Enzianen übersät.
Am siebzehnten Tage erreichte ich endlich Namche Bazar. In diesen siebzehn Tagen hatte ich ungefähr 230 km zurückgelegt bei 11 800 m Höhenunterschied. Aber der Traum meines Lebens war erfüllt: Im Nordosten, scheinbar ganz nahe, standen die ungeheuren grauen Wände von Everest und Lhotse, umgeben von ihren Trabanten, an deren Flanken Gletscher an Gletscher hing, alles über 7000 m hohe Berge, an Grosse und erregender Schönheit einer imponierender als der andere.
Der Sherpa Gyalzen empfing mich in seinem Hause und behandelte mich als Ehrengast. Hier gönnte ich mir zwei Tage Ruhe; aber dann wurde der Ruf des Everest gebieterisch. Also Aufbruch nach dem Kloster Thangpoche! Dieses Heiligtum hat eine Lage, wie sie wohl auf der ganzen Welt einzig dasteht. Es liegt 3850 m hoch, auf dem grünen Sattel eines von Rhododendren um-wachsenen Bergvorsprungs über zwei tiefen Schluchten. Darüber ragen zwei schön geformte 7000 m hohe Eisgipfel. Im Norden, kaum sechzehn Kilometer entfernt, versperren die enormen Massen von Everest und Lhotse den Talhintergrund, während etwas nach rechts der imposante Eisturm des Ama Dablam noch unberührt in den Himmel ragt.
Der Ort ist von solch grandioser Schönheit, dass ich beschloss, einen Halt einzuschieben. Der « re-inkarnierte » Lama, ein gewinnender junger Mann, bestand darauf, dass ich seine Gastfreundschaft annehme. Am Abend genoss ich, mit ihm und den älteren Lamas beim Feuer sitzend, die Mahlzeit, Kartoffeln mit Gewürzen und tibetischem Tee, und wir plauderten über das Weltgeschehen, über das gegenwärtige Schicksal Tibets und über alles, was heute den Frieden der Menschheit gefährdet. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren zeigte der Lama die Ausgeglichenheit und Reife eines fünfundvierzigjährigen Mannes. Auf seine Einladung hin nahm ich an manchen Zeremonien im « Gompa » teil.
Ich drang noch weiter in das Gebirgsmassiv vor, bis zum eigentlichen Fuss des Everest, zum Khumbu- und zum Nuptsegletscher. Unter ihren unermesslich grossen Moränen liegen die höchsten Weideplätze, wo die Bauern eben ihre Yakherden hingebracht hatten. Es sind richtige Maiensässe auf 4800 m, die nur in den Sommermonaten bewohnt sind, welche gerade für eine Kartoffel-und eine Buchweizenernte ausreichen. Dann kehrte ich nach Namche Bazar zurück, um das andere Tal, in Richtung des Cho Oyu, zu erforschen. Mit einer Gruppe Sherpa nahm ich dort am Begräbnis eines jungen Mädchens teil, der Schwester Tensings, wie man mir sagte. Es war im letzten Weiler unter den Gletschern. Das Wohnzimmer eines Hauses war zur Totenkapelle hergerichtet worden, wo zwanzig Lamas - einige waren aus Tibet über den Nangpa La gekommen -seit fünf Tagen unter Musikbegleitung das Totenamt sangen. Es war der letzte Tag der Bestattungszeremonie, und der Vater des Mädchens gab den Leuten aus den Nachbardörfern eine Reis-mahlzeit mit Tee. Auch ich war geladen. Den ganzen Abend strömten Gäste herbei; wir waren im ganzen über 800 Personen, die in langen Reihen ums Haus herum sassen. Beim Sonnenuntergang eilten zwanzig Männer mit grossen Platten voll Reiskugeln und mit Kupferkrügen voll Tee hin und her, während auf der Dachterrasse zwei Lamas ihre langen Trompeten bliesen. Im Laufe der Nacht gelang es mir, mich in die Kapelle zu schmuggeln, wo ich auf dem Boden kauernd der Totenmusik und den Litaneien der Lamas lauschte, bis ich mich in eine andere Welt versetzt glaubte.
Es war Zeit für meine Rückreise, wenn ich nicht riskieren wollte, vom Monsun überrascht und in diesem Lande der Sherpa hinter den grossen Schluchten blockiert zu werden. Mit Bedauern verabschiedete ich mich von Gyalzen, von seiner Gattin Pemba Lakii und von allen meinen Freunden und begann mit drei Sherpa den langen Marsch zurück nach Kathmandu. Das Hochwasser der Schneeschmelze hatte einen der Stege, den ich auf dem Hinweg benützt hatte, fortgerissen. So war ich zu einem sehr mühsamen Umweg über den langen Tanka-Pass gezwungen, um Ringmo zu erreichen. Aber die Natur war zu dieser Zeit so schön, die Blumen von so bezauberndem Farbenspiel - das Gelb und Rosa der Primeln, das Rosa und Lila der Rhododendren, der dunkle Purpur der Alpenzwergrhododendren -, dass die zwölf zusätzlichen Wegstunden gut zu ertragen waren.
Aus dem Land der Sherpa gelangte ich durchs Sun-Kosi-Tal nach Kathmandu zurück, um die Bevölkerung der südlichen Region Nepals kennenzulernen. Aber nach der reinen, belebenden Luft von Khumbu war die Temperatur von 40° C, die ich hier antraf, für mich kaum zu ertragen. Die Hitze war so gross, dass ich schon morgens 4 Uhr aufbrach und mich dann jeweils von halb 11 bis halb 5 Uhr in den Schatten eines Baumes legte - wenn ich einen fandund am Abend bis in die Nacht den Weg fortsetzte. So brachte ich schliesslich das Rosi-Khola-Tal hinter mich und erreichte die Hochebene von Nepal, und nach weiteren zwei Tagen war ich in Kathmandu.
Ich liebe die Schweiz mit ihren vier Sprachen und ihren alten Gemeinwesen, mit ihrer abwechslungsreichen Landschaft, den hohen Bergen und den warmen südlichen Tälern. Aber die unglaubliche Verschiedenheit von Rassen und Landschaften, wie sie das kleine Land Nepal vereinigt, findet man sonst nirgends auf der Welt. Für mich ist es das schönste Land auf der Erde.
( Nach franz. Fassung von L. S. übersetzt: F. Oe. )