Beim Anblick des Rhonegletschers
Robert Hänni, Bern
In aller Frühe bin ich von der Grimselpasshöhe durch Schneefelder gegen Süden der Kreuzegg entgegengestapft, wo sich der einstige Saumweg dem Goms entgegenwendet. Ich fasse Posto zum Zeichnen in diesem eiszeitlichen Rundhöckerge-lände, das mit seinen begrünten heimlichen Mulden zwischen den Granitbuckeln, seinen Seelein, seinen raunenden Schmelzwasseräderchen an eine zierlich verkleinerte Urlandschaft gemahnt. Hinter mir, ausser Rufweite, spiegeln sich die Häuser der Passhöhe im kühlgrünen Totensee. Aus den wildfelsigen Tiefen des Hasli kriechen die letzten Schatten der Nacht.
Hoch über dem Talkessel von Gletsch hüllen sich der Galenstock und seine mit spitzer Feder ans Firmament gekritzelten Grattrabanten in zarte Morgenschleier. Mit der steigenden Sonne treten aus den Steilflanken lichte Grate neben dunkle Runsen. Zu ihren Füssen gleisst der flache Rhonefirn in der Morgensonne. Aus dem bislang dunklen, kaum beachteten Eisabsturz zacken jetzt wilde Türme blendend auf, und in den blauschattigen Hängen rechts treten wie weisse Fäden die weitausholenden Kehren zur Furkahöhe aus dem Dämmer. Der blasse Himmel hat sich zum jubelnden Blau eines Sommertages gewandelt.
Auch der Kessel von Gletsch, auf dessen hohem Rand ich sitze, steht im Licht. Ringsum schieben sich die Bergriesen an den geröllübersäten Boden heran, ein ungeheures Amphitheater bildend, wo sich die paar grauen Dächer von Gletsch winzig ausnehmen. Mir gegenüber, auf seiner hohen Loge über blankgescheuerter, blinkendgelber Felswand, thront mit blaugrüner Zackenkrone seine Majestät, der Rhonegletscher. Sein schimmerndes Licht zieht die Blicke aller Vorüberziehenden an.
Beim gestrigen Bummel durch den Talboden hat auch mich das Eis in seinen Bann gezogen. Wieder schreite ich in Gedanken dort unten dem Rotten entlang aufwärts, vorbei an Felsbrocken, verkrüppelten Lärchen, über Moränenwälle hinweg. Fortwährend wird mein Blick wie von magnetischer Kraft in die smaragdgrünen Tiefen des Eiskataraktes gezogen, und ich vermeine, in abgrundtiefe Augen zu sehen, in denen das Geheimnis von der Geburtsstunde eines Stroms geschrieben steht.
Je näher ich der Felswand rücke, desto höher hebt sich das Eis ins Licht. Überall rauscht und tost es. Aus versteckten Gletschertoren quellen die Wasser, rasen durch verborgene Runsen, Schleiern über Felsglätten und sammeln sich im Boden. Dann mäandern die Milchwasser durch den Grund, Verstärkung erhaltend aus ungezählten Rinnsalen von Süd und Nord. Sie verästeln sich, vereinigen sich und eilen dem Rotten zu. Dieser setzt an seichten Ufern den wolkengleich mittreibenden weissen Gletscherschlamm zu Bänken ab; ich lasse den puderfeinen Satz durch die Finger gleiten, diesen Nährstoff für die Wäs-serfelder des Wallis.
Doch ich sitze ja oben, am Rande des Kessels, und bemerke bloss, wie die gesammelten Wasser als jugendkräftiger Strom bei den Häusern von Gletsch vorüberziehen, den Menschen entgegen. Ihnen hat er ein unabsehbares Tal geschenkt voller Weinberge und Fruchthaine; er hat ihnen mit der Hilfe des Gletschers eine grossartige Kerbe gegraben, durch die hinauf sie die Berge zu bezwingen vermögen. Für eine Weile verliert er sich dann in der Weite des Genfersees, durchströmt gemächlich französisches Land und vermählt sich endlich als weite Flut mit den Salzwogen des Mittelmeers.
Den Ursprungsort des Stromes aber verstecken die umstehenden Berge. Und seine Geburtsstätte verlässt der junge Rotten seitwärts und ungesehen; scheu stiehlt er sich durch einen tosenden Engpass vom Ort seines Werdens weg. Indessen gestattet er den Menschen gnädig, dort einzudringen. Sie mögen die hohe Eiszunge von Gletsch aus bewundern, diesen saubersten aller Gletscher, den unsere romantischen Ahnen auf ihren Stichen als gewaltig-unfassbaren, drohenden Eislindwurm darstellten. Ein Hauch von Ewigkeit mag auch die heutigen Menschen hier berühren. Dann entlässt er sie freundlich zu seiner Rechten und zu seiner Linken, wobei er ihnen zu ihrer Bequemlichkeit die Sättel der Grimsel und der Furka bereithält zum Übergang in ein anderes Tal.
Dort unten zahnrädeln die roten Wagen der Furka-Oberalp-Bahn die Ränfte-Seite hinan, und die ersten Autos kriechen zum Belvédère. Auch an der Meienwang unter der Grimsel zick-zacken Vehikel bergauf und -ab. Auf meiner Kanzel, den Menschen entrückt und in Gesellschaft einsamer Berge, des Gerstenhorns über dem Hasli, des Galenstocks über dem Rhonefirn und der Muttenhörner über dem Tälligrat, in dieser beredten Stille überkommt mich ein Gefühl der Zeitlosigkeit. Ich gerate ins Sinnieren, wobei sich vor meinem innern Auge Jahrhunderte zu Augenblicken zusammendrängen. Unerwartet überblicke ich die unablässigen Bemühungen des Menschengeschlechts zur Überwindung der Berge in berückender Zeitraffung. In wunderbarer, theatralischer Verdichtung beginnen sich die Epochen der Geschichte pausenlos aneinanderzureihen, und unablässig ziehen Menschen über die listig angelegten Passwege in die Herzkammer hinunter oder darum herum, angestachelt vom Wandertrieb, vom gewinnver-sprechenden Handel oder gar aus Eroberungsgelüsten. In traumhafter Zeitenballung wächst der Gletscher sekundenschnell zur Riesenzunge, beleckt die Siedlung, schrumpft bis zum Absturz, steigt wieder hernieder, schwindet erneut, Schnee fällt, die Sonne brennt, Nebel wallen...
Über die Einsattelungen dringen rauhe Kelten vor, die wehenden Mäntel mit mächtigen Fibeln zusammengehalten. Welterobernde Römer mar- schieren in straffer Ordnung über die Furka, befehligt vom Prokurator über Rätien und Wallis. Es wird lebendig an der Grimsel. Alemannische Sippen keuchen aus dem Hasli herauf, jubeln beim Anblick des lichten Goms und eilen die Südrampe hinab, um es in Besitz zu nehmen. Doch schon brechen ihre unternehmungslustigen Nachfahren wieder auf. Mit Scharen von Kindern, mit Hausrat und Vieh erklimmen sie in langen Kolonnen die Furka auf der Suche nach neuem Land; in dünnbesiedelten Hochtälern Bündens und darüber hinaus gründen sie Walserkolonien. Und dort: Ein Grüppchen Kuttenmän-ner, man schreibt das Jahr 1200, bezwingt die Furka. Zurückkehrende Wanderer wissen, aus ihren Reihen seien Äbte zu Disentis hervorgegangen.
Ich sehe Saumtierkolonnen mit Warenballen bei Wind und Wetter angeschwollene Bergwasser durchwaten, im Schneegestöber vorwärts stapfen, vom Steinschlag und vom Sturm bedroht. Die Säumer befördern Waren für Handelsherren aus Nord und Süd, basten kostbare Lasten von Nürnberger Kaufleuten über die Grimsel, den Griesspass oder den Albrun, aber auch von Ge-nuesern und Florentinern. Denn der Gotthard ist des Schöllenenhindernisses wegen lange nicht begehbar. Unablässig schreiten die Maultiere hoch über dem kraterähnlichen Kessel von Gletsch, der gefüllt ist mit grünem, eisigem Licht. Dann schneit es vorzeitig, stürmt, die Maultiere bleiben weg. Dafür buckeln stämmige Lägelträger bis zu fünfzig und mehr Kilogramm kostbarer Ware. Aber auch Pilger in langen Bussgewändern sehe ich herabwandeln; viele davon drängt es nach Rom. Jetzt ein Grüppchen Reiter: Gomser Gesandte eilen nach Urseren, Disentis und Chur, schliessen i 288 einen antihabsburgischen Vertrag gegen den ländergierigen Rudolf. Hinüber und herüber schreiten bewaffnete Hilfstruppen, haben doch 1403 Luzern, Uri und Unterwaiden mit dem Wallis ein Landrecht geschlossen.
Und dort, auf der Grimsel, schleichen nicht rahne Walliser sichernd ins Hasli? Was führen sie im Schild? Da - sie kehren frohlockend zurück, vor sich Hunderte von gestohlenen Schafen treibend. Mehrmals wiederholen sich die Raubzüge, hinüber und herüber. Man scheint sich nicht am besten zu leiden. Anno 1419 taucht ein langer Zug untersetzter, weitausgreifender Berner, es mögen an die 13000 sein, mit siegesbewusster Miene hinter dem Totensee auf. Die Bewaffneten eilen Obergestein zu, um dem verbündeten Grafen Witschard von Raron zu helfen; er ist mit den Wallisern uneins. Doch schon hasten sie wieder zur Passhöhe hinan, mit blutigen Köpfen, von den Wallisern bei Ulrichen in die Schranken gewiesen und diese, siegestrunken, den Fliehenden auf den Fersen.
Sechs Jahre später, es ist Frühwinter und sehr hilb — die Berner und die Walliser haben sich mittlerweile versöhnt -, eilt nochmals ein bernisches Heer heran, strebt im Sturmschritt talwärts und über den Albrun, denn es gilt die eingeschlossenen Freischärler von Schwyz und Unterwaiden in Domodossola befreien zu helfen. Nach drei Wochen tauchen sie frohlockend wieder an der hintern Grimsel auf, voller Jubel darüber, keinen Mann verloren zu haben bei der siegreichen Ent-setzung der Verbündeten. Und wieder hochbeladene Maultiere mit ihren Säumern, zwei Ameisenwege voller Gekrabbel links und rechts des Rhonegletschers, bis in den Frühwinter. Es ist November - man schreibt das Jahr 1779 -, die Furka eingeschneit und verlassen. Doch wer mag das sein? Fünf einsame Fussgänger stapfen im Gänsemarsch den Berg hinan. Der breitschultrige Spurmacher schreitet wacker aus, sinkt oft bis zum Gürtel in den Schnee, die andern unverdrossen nach; einige scheinen hochdeutsch zu sprechen: Goethe mit seinem Freund, dem Herzog Karl August. Heute werden sie neun Stunden unterwegs sein von Münster bis Realp. Trotzdem findet der Dichter Zeit, dem ewigen Eis seine Aufmerksamkeit zu schenken, diesem « ungeheuren Gletscher », dem Mittelpunkt des Grimsel- und Furkagebiets. « Obgleich alles voll Schnee lag », hält er fest, « so waren doch die schroffen Eisklippen, wo der Wind so leicht keinen Schnee haften lässt, mit ihren vitriolblauen Spalten sichtbar, und man konnte deutlich sehen, wo der Gletscher aufhört und der beschneite Felsen anhebt. » Sie waten zur Passhöhe, zum Kreuz, wo sich Wallis und Uri scheiden. « Es war ein seltsamer Anblick », schreibt er, « in der ödesten Gegend der Welt und in einer ungeheuren, einförmigen schneebedeckten Gebirgswüste, wo man rückwärts und vorwärts auf drei Stunden keine lebendige Seele weiss, wo man auf beiden Seiten die weiten Tiefen verschlungener Gebirge hat, eine Reihe Menschen zu sehen, deren einer in des andern tiefe Fussstapfen tritt, und wo in der ganzen glatt überzogenen Weite nichts in die Augen fällt als die Furche, die man gezogen hat. Die Tiefen, aus denen man herkommt, liegen grau und endlos im Nebel hinter einem... » - Jetzt widerhallt Waffenlärm an den Wänden. Der Koalitionskrieg gegen Frankreich ist im Gang. Österreicher tauchen auf der Grimsel auf, dann heranpirschende Franzosen auf einem Um-gehungspfad vom Nägelisgrätli her. Schüsse peitschen durch die Luft, hohles Echo - Stille. Ein siegreicher Heereszug Franzosen zieht am 17. August 1799 der Furka zu.
Und wiederum Säumerkolonnen, Lägelträger, unaufhaltsam, durch keinen Murgang, durch kein Regenwetter abzuhalten. Und dort, beim Gletscher, kraxeln nicht Gestalten mit langen Bergstöcken auf den Felsen umher? Sie beraten, turnen über die Gletscherzunge, die weit in den Boden hinabreicht, bringen Marken an, messen, notieren, diese ersten wissbegierigen Gletscherforscher, wollen den Fluss des Eises errechnen, die Verdichtung des Wasserdampfes in der Luft herausbekommen.
Nun dröhnen Hammer- und Pickelschläge. Sprengladungen knallen. Die weitausladende Zickzackroute zur Furkahöhe beginnt sich abzuzeichnen. 1866 ist sie eröffnet. Darauf werken Arbeiter an der Meienwang. Der alte Grimselweg hat ausgedient. Schlagartig bleiben auch die Saumtierkolonnen aus: Die Gotthardbahn über- nimmt den Warentransport. Dafür rollen auf der neuen Strasse die Wagen, worunter eine mächtige gelbe Kutsche, der Postillon vom schwindel-hohen Bock aus die Pferde leitend, ein abenteuerliches Gefährt mit Hochsitzen, an der Mitteltür das rote Täfelchen « Grimsel—Gletsch—Furka ». Jetzt ratternde, stinkende, pferdelose Wagen. 1921 pustet der erste Postcar über den Pass. Mehr und mehr Motorwagen rücken an. Wenig später kriecht der erste Zahnradzug der Furka zu...
Ein Donnerschlag schreckt mich in die Gegenwart zurück - der Überschallknall einer Mirage. Ihr Kondensstreifen schneidet den Himmel über dem Gletschboden entzwei. Unablässig spulen Autos beidseitig des Kessels die Kehren hinauf und hinab, eilige Menschen auf der Ferienreise, in Gletsch oder auf den Passhöhen eine Photopause einlegend: seltsamer Kontrast, die buntge-scheckten Menschlein zwischen Granithöckern und Schnee. Über dem Kühbodenhorn kreisen zwei silberne Segelflugzeuge. Goethe vermerkte als einziges Lebewesen einen Lämmergeier...
Ich schicke mich zum Abstieg an, folge dem verlassenen alten Grimselweg nach Obergesteln. Vor mir öffnet sich das helle, weite Goms, das der junge Rotten durchzieht, darüber, gegen Süden, die höhersteigende Gipfelflur bis zum Matterhorn. Nochmals heftet sich mein Blick auf das Silberband des Rottens, der ein Stück Welt gestaltet hat.