Auf Herbstreise
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Auf Herbstreise Beringungsstation auf dem Col de Bretolet

Seit über 100 Jahren werden in der Schweiz Vögel beringt, damit mehr über ihr Leben in Erfahrung gebracht werden kann. Auf dem Col de Bretolet betreibt die Schweizerische Vogelwarte eine Forschungsstation für Zugvögel. Dort wird fast rund um die Uhr gearbeitet.

Vorsichtig löst Guido Kunz einen kleinen Vogel aus dem Netz. «Schon wieder eine Tannenmeise», sagt er. Der Gartenbauingenieur aus Siebnen im Kanton Schwyz arbeitet fast jedes Jahr zwei Wochen lang als freiwilliger Helfer auf dem Col de Bretolet, so auch im August 2021. Auf dem Walliser Pass an der Grenze zu Frankreich auf 1900 Metern über Meer beringt die Schweizerische Vogelwarte seit 1958 im Schnitt rund 15 000 Vögel pro Jahr.

Behutsam legt Guido Kunz die Meise in ein kleines Stoffsäckchen und verschliesst dieses. Dann trägt er sie zusammen mit fünf Artgenossinnen ins Büro der Forschungsstation. «Es würde mich nicht wundern, wenn das ein Einflugjahr gibt», meint er.

14 497 Vögel gefangen

Die Zahl der herbstlichen Durchzügler in der Schweiz variiert bei einigen Arten von Jahr zu Jahr extrem. In unregelmässigen Abständen kommt es zu sogenannten Einflügen, wobei deutlich mehr Vögel in Richtung Süden ziehen als in einem durchschnittlichen Jahr. Dieses Verhalten zeigen insbesondere Vogelarten, deren Nahrungsangebot nicht nur zwischen den Jahreszeiten, sondern auch von Jahr zu Jahr schwankt.

Buchen, Tannen, Eichen und Fichten werfen in sogenannten Mastjahren überdurchschnittlich viele Samen ab; das hohe Nahrungsangebot erhöht den Bruterfolg von Samenfressern. Erlenzeisig, Tannen-, Kohl- und Blaumeise sowie Eichelhäher gehören daher zu den typischen Einflugarten. Das bedeutet, dass in manchen Jahren auch Vogelarten, die normalerweise nicht zu den Zugvögeln zählen, in den Süden fliegen, um zu überwintern.

Der begeisterte Hobbyornithologe Guido Kunz sollte recht behalten: Bis zum Ende der Saison 2021, die von Mitte Juli bis Ende Oktober dauert, wird das Bretolet-Team unter der Leitung der Biologin Sophie Marti insgesamt 14 497 Vögel gefangen haben, darunter 994 Blau-, 2925 Tannen- und 175 Kohlmeisen. Ausserdem auffallend viele Eichelhäher, Erlenzeisige und Sperlingskäuze.

Pro Saison werden auf dem Col de Bretolet durchschnittlich 13 Eichelhäher markiert. Im Jahr 2021 waren es 154 Individuen - so viele wie noch nie zuvor. Ein solcher Einflug komme nur in Jahren vor, in denen es in nordischen Ländern wenige Eicheln und einen frühen Wintereinbruch gebe, aber auch dann nur, wenn der Bruterfolg im Vorjahr hoch gewesen sei und es viele Eicheln gegeben habe. Auch «Mäusejahre», also Massenvermehrungen von Kleinnagern, sind in der Biologie ein bekanntes Phänomen. Die Fangzahlen von Sperlings- und Raufusskauz deuten darauf hin, dass den nächtlichen Jägern viele Beutetiere zur Verfügung standen.

Das Gewicht verdoppeln

Der kleine Büroraum der Forschungsstation bietet Platz für zwei Pulte und ein paar Tablare. Guido Kunz hängt die Stoffsäckchen an Haken, die an der Wand befestigt sind. Sophie Marti macht sich sofort an die Arbeit. Sie wiegt die Tannenmeisen, misst die Länge der Schwungfedern und bestimmt Alter und Geschlecht. Zusätzlich bläst sie jedem Tier sanft die Brustfedern zur Seite. Der Blick auf die Haut zeigt ihr, ob sich ein Piepmatz Fettpolster hat anfressen können. Vögel brauchen für ihre Wanderung Treibstoffreserven. Um das zu erreichen, steigern sie ihre Nahrungsaufnahme vor der Zugsaison. Manche Arten wie der Steinschmätzer oder die Rauchschwalbe verdoppeln ihr Gewicht sogar.

Mitarbeiterin Julia Wildi tippt die Informationen in die ornithologische Datenbank. Ab und an ist ein Vogel darunter, der bereits beringt ist. Die Unberingten erhalten jetzt einen Ring. Jeder Ring trägt eine individuelle Nummer und den Namen der nationalen Beringungszentrale - in der Schweiz lautet dieser «Sempach Helvetia».

Die Tannenmeisen lassen die Prozedur relativ gelassen über sich ergehen. «Grössere Arten, insbesondere Greifvögel, wehren sich heftiger», erklärt Sophie Marti. Als Beringerin - dazu braucht es ein eidgenössisches Diplom - lerne man jedoch, die Vögel geschickt und ruhig festzuhalten. Am giftigsten reagierten jeweils die Blaumeisen. Die sähen zwar herzig aus, beim Beringen sei mit ihnen aber nicht zu spassen.

Im unteren Bereich des Bürofensters ist eine spezielle Öffnung mit Schiebetür eingebaut. Sie ist gerade gross genug, dass Sophie Marti ihre Hand hindurchschieben und kleinere Vögel so direkt wieder ins Freie entlassen kann. Grössere trägt sie auf die kleine Terrasse hinter der Hütte.

Dort sitzt von morgens bis abends jemand aus dem Freiwilligenteam und notiert auf einer Strichliste Vogelarten, die den Bretolet in höheren Luftlagen überqueren. An diesem kalten, bisigen Augusttag zeigen sich nicht nur mindestens ein halbes Dutzend Gänsegeier, sondern auch Steinadler sowie Bart- und Mönchsgeier. Kleinere Vogelarten wie Stare, Kleiber, Bergfinken oder Schwalben sind an diesem Standort ebenfalls gut zu erkennen - sei es einzeln oder in ganzen Schwärmen. Von einem solchen hat Julia Wildi ein Video gedreht, das die Vogelwarte auf Social Media verbreitete: «Die Mauersegler ziehen bereits in ihre Winterquartiere. Allein heute sind fast 18 000 Mauersegler über den Col de Bretolet gezogen. Ein eindrückliches Erlebnis!»

Nagellack für die Fledermäuse

Am Abend drängen sich fast ein Dutzend Personen um den Küchentisch. Das Menü: Gemüsecurry. Beim Anstossen mit Sirup aus lokaler Produktion kommt gemütliche Hüttenstimmung auf. Florian Schwaller, der seinen Zivildienst absolviert, bäckt ein Brot. Die anderen schwärmen gegen 21 Uhr aus, um die Hochnetze auf die höchste Position zu stellen, denn die Vogelarten, die in der Nacht ziehen, fliegen etwas höher als Tagzieher.

Zu den Nachtziehern gehören etwa das Rotkehlchen, der Gartenrotschwanz und die Gartengrasmücke. Der häufigste - mit rund 600 gefangenen Exemplaren pro Saison - ist jedoch der Trauerschnäpper.

Kurz vor 22 Uhr poltert es an der Tür: «Florian! Jetz musch d Händsche aalegge!» Der Zivi amtet nicht nur als Handwerker und Koch; er muss auch Fledermäuse aus dem Netz holen. Gleich drei verschiedene Arten sind soeben ins Netz gegangen: ein Grosser Abendsegler, ein Braunes Langohr und eine Nordfledermaus.

Julia Wildi notiert die Merkmale der Tiere für den Walliser Fledermausschutz und markiert deren Zehennägel mit farbigem Nagellack, damit man sie wiedererkennt, sollten sie nochmals ins Netz gehen. Die Erfassung dieser Daten soll dazu beitragen, ein besseres Bild über den Zustand der Fledermauspopulation im Kanton zu erhalten.

In der Zwischenzeit hat Audrey Niederer die Netze fertig kontrolliert. Vögel fand sie keine. Diese gehen eher bei Wind aus südwestlicher Richtung ins Netz. Dennoch kehrt sie nicht mit leeren Händen zurück. Sie hat zwei Windenschwärmer - fast handtellergrosse Nachtfalter - aus dem Netz befreit. Auch diese überwintern in südlichen Gefilden und überqueren deshalb zu Tausenden die Alpen. Wie auch die meisten Vogelarten gehen sie dabei recht opportunistisch vor und nutzen windige, möglichst tief gelegene Pässe für ihre Reise.

Nutzen der Forschung

Auf dem Col de Bretolet wird jeweils nur die Herbstreise der Tiere dokumentiert. Im Frühling, wenn sie zurückkehren, ist die Forschungsstation meist noch tief eingeschneit. In der Vogelkunde werden bereits seit Jahrzehnten noch weitere Methoden zur Erforschung des Vogelzugs angewendet. Dazu gehören etwa Radar oder die Überwachung von besenderten Vögeln mithilfe von Funkantennen, Satelliten und Handynetz. Das Fangen und Beringen von Vögeln bleibt jedoch von grosser Bedeutung. Mithilfe von wiedergefundenen Ringen lassen sich Angaben zu Zugrouten, Ortstreue, Lebenserwartung, Todesursachen oder Verwandtschaftsverhältnissen der Vögel ableiten.

Dank der langen Datenreihe der Forschungsstation auf dem Col de Bretolet konnte die Vogelwarte zeigen, dass sich der «Fahrplan» des Herbstzugs bei einigen Vogelarten deutlich verändert hat - zweifellos eine Folge des Klimawandels. Vögel, die im Mittelmeerraum überwintern, bleiben länger bei uns und ziehen später über die Alpen. Arten, die den Winter südlich der Sahara verbringen, ziehen hingegen einige Tage früher weg. So können sie Dürreperioden in der Sahelzone besser ausweichen.

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