Artesonraju (6025 m) - Curicashajana (5500 m). Peru
Peru
VON ERNST REISS, BASEL
Mit 5 Bildern ( 14-18 ) Wenn wir die wahrhaften Werte der bergsteigerischen Tat von der messbaren Leistung am Berg unterscheiden können, dann sind wir Bergsteiger.
Die Fülle der Ereignisse während der letzten Dezennien lässt uns nur allzu leicht vergessen, dass erst nach der letzten Jahrhundertwende die Pole der Welt erstmals von Menschen betreten wurden. Auch die höchsten Berge der Erde, die vierzehn Achttausender des Himalaya, büssten erst in den Jahren 1950 bis 1965 den Ruhm des Unerreichbaren ein. Die Epoche der grossen ausseralpinen Unternehmen mit ihrem nationalen Prestige ist gewissermassen überschritten, und jener Nimbus des Einmaligen und Aussergewöhnlichen hat in der Öffentlichkeit an Interesse verloren. Unaufhaltsam geht diese Entwicklung auf vielen Gebieten weiter.
Wir Bergsteiger können uns fragen, was wir jetzt tun werden und was jene, die nach uns kommen. Trotzdem, Tausende werden weiterhin in die Berge und auf Expeditionen ausziehen, weil es sie lockt, weil es ihnen Genugtuung schenkt. Jeder wird das auf seine Art und seinen Möglichkeiten entsprechend tun. Ungezählte strahlende Weltberge über 5000 Meter erhielten noch nie einen Besuch, kein Mensch ist seit Jahren in ihre Einsamkeit gedrungen. Die von Privaten, teils von Vereinen und Gönnern unterstützten ausseralpinen Unternehmen sind in den politisch ruhigen Gebieten sogar recht zahlreich geworden. Nicht zuletzt erhalten dadurch auch Menschen in wirtschaftlich gänzlich zurückstehenden Gebirgstälern willkommene Einkünfte.
Leider liegt es in der Natur der Sachlage, dass sich daher jede diesbezügliche Berichterstattung und Bilddokumentation in vielen Wiederholungen ergeht. Nun, man kann nach aussen, also publizistisch, aus wenig viel und aus viel wenig machen. Man darf sich fragen, ob das expeditioneile Erlebnis und die Leistung innerhalb eines Monsterunternehmens oder jene Ein- oder Vier-Mann-Expedition zum Everest grösser war. Alles ist relativ; eine Antwort ist insofern unmöglich, als jede bergsteigerische Kundfahrt nicht nur aus messbaren Daten besteht, sondern viel mehr mit andern, höhern Werten verbunden sein soll.
Wir Expeditionsveteranen vom Dhaulagiri, vom Everest und von den peruanischen Anden glaubten in dieser Erkenntnis mit unserm privaten Unternehmen das Richtige zu tun. Weit entfernt von der Zivilisation, ganz auf uns selbst angewiesen, wollten wir einfach nochmals ein paar Wochen im fremden Bergland verbringen. Unser Hauptinitiant und Leiter, Dr. Ruedi Schatz, ging sogar weiter, indem er fand, unsern nicht allzu jugendlichen Jahrgängen würde es gut anstehen, den sonst immer getreulich daheim wartenden Ehefrauen dieselbe Weltreise zu ermöglichen. Damit war den sonst oft recht egoistischen Beweggründen der Bergsteigerei eine Aufwertung geschehen. Es gesellten sich noch weitere Gleichgesinnte zu uns, welche schon seit Jahren von einer solchen Ausland-bergfahrt träumten. Nach gründlicher Überprüfung unserer beruflichen Urlaubsmöglichkeiten und der Umsicht nach geeigneten Ferienplätzen für unsere Kinder war noch eine günstige Gebietswahl zu treffen. Im Hinblick auf kurze Anmarschrouten und sicheres Wetter fiel unsere Wahl auf die nördliche Cordillera Blanca. Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass einige von uns schon einzelne Teile der peruanischen Anden kannten. Dazu war es einmal mehr die Schweizerische Stiftung für alpine Forschungen, welche uns mit ihrem Patronat nützlich zur Seite stand.
7. Juli 1965. Die Flugzeugtriebwerke dröhnen. Die vielen tausend Lichter unseres dichtbevölkerten Heimatlandes werden immer kleiner und entschwinden bald unsern Blicken. Lissabon—Dakar - ein Wochenende in Rio de Janeiro. Ich hätte nie geglaubt, dass man in der Tropenzone so kaltes Wetter antreffen kann. Allein die Farbbilder vom Sonnenaufgang über der Bucht der Copa-cabana schenken diesem kurzen Aufenthalt etwas Ungewöhnliches. In Limas grösstem Hotel, bei dem zuvorkommenden Herrn Bezzola, findet sich unsere Equipe aus verschiedenen Anflugrich-tungen zusammen. Nicht nur die besondere Gastfreundschaft der Firma Sulzer, sondern vor allem ihre speditive Weiterbeförderung unseres Gepäcks erlauben uns schon nach wenigen Tagen, oben im herrlichen Callejon de Huaylas, auf fast 3000 Meter, unsere Lungen an die Höhe zu gewöhnen. Dass wir dank einem lokalen Kenner auf dem Kilometer 200 nördlich von Lima, nahe der Pazifikküste ( zwischen unzähligen Totenköpfen und Mumien ) selber ein paar der schönsten Inkatöpfe ausgraben dürfen, sei nur nebenbei erwähnt. Die Überquerung der Küsten-Cordillere von Casma durch die Punta Callan im Licht der scheidenden Abendsonne wird für uns zu einem einzigartigen Erlebnis.
Nur wenig unterhalb des 4500 Meter hohen, schwarzbraunen Hügelmeeres breiten sich im bunten Muster die unzähligen goldgelben Korn- und Maisäcker der Bergindios bis hinab zur silbernen Schlangenlinie des Rio Santa aus. Wenn kurz vor Einbruch der langen Tropennacht die kühlen Höhenwinde übers Land streichen, eilen die barfüssigen Indios in schnellen Schritten ihren abgelegenen Erd- und Steinhütten entgegen. Kauernd, in ihren Poncho gehüllt, verbringen sie im engen Raum zu ebener Erde die kalte Nacht. Niemand sollte ihnen ihre Scheu, zuweilen auch ihre Verachtung gegenüber uns « Gringos » ( Ausländern ) verargen. Fern vom grossen Strom der Welt lebt hier wie auf der gegenüberliegenden Talseite die Bergbevölkerung, wo aus der dürren Puna rund zwanzig Sechstausender in den wolkenschweren Abendhimmel ragen. Mit dem Aufblitzen der Lichter im Hauptort Huaraz sinkt die Nacht über das weite Tal. Noch fast eine Stunde später sieht man über den niedern Dächern und den dichten Dattelpalmenkronen des Dorfplatzes die Gipfel des fast 7000 Meter hohen Massivs des Huascarän in feinem Rotgold nachglühen. Um dieses Mekka der Cordilleren zu erreichen, unterzieht sich mit Ausnahme weniger Fluggäste jedermann einer unwahrscheinlich staubigen Autofahrt von gut zehn Stunden.
In den letzten Jahrzehnten sind von hier aus schon viele kleine und grosse Expeditionen dem lockenden Ruf dieser schimmernden Eisburgen gefolgt. Deshalb wurden im Laufe der Zeit auch alle umliegenden Sechstausender bestiegen, jedoch ist jeder vierte dieser Gipfel erst einmal oder nur von einer Seite her und nach längerer Belagerung erreicht worden. Da und dort befinden sich noch einige selbständige Gipfel von 5300 bis 5900 Metern Höhe, welche auf ihren ersten Besucher warten. Allein diese beiden Tatsachen bewogen uns, in dem sehr selten begangenen Seitental von Santa Cruz unser Basislager aufzustellen. Wir haben recht gute Informationen, eine einfache Karte und etwelche Skizzen Also brauchen wir nur mutig ans Werk zu gehen!
In Wirklichkeit ist es anders. Im besondern gilt für jeden Tiefländer immer noch das Gesetz, dass er sich an Höhen über 4000 und 5000 Meter erst ein paar Tage lang angewöhnen muss. Georges aber, unser Arzt, erdreistet sich, mit mir in den späten Morgenstunden von Huaräz aus noch die Erstbesteigung des Yanamarey ( etwa 5115 m ) zu riskieren. Obwohl wir den Ausgangspunkt oben vor dem Scheiteltunnel der Punta Cahuish nehmen, verlangen die nahezu 1000 Meter Auf- und Abstieg in teils schwierigem Gelände unsere volle Energie. Mit letzter Kraft gelingt es uns, bei Nacht noch auf das Hochdeck eines überladenen Viehtransportwagens zu klettern. Bis zum Eintreffen des privaten Autos werden wir mit « Companieros der peruanischen Hochlandstrasse » betitelt.
Höhenangewöhnt - oder « höhenangeschlagen » - folgen wir zwei Tage später mit unsern Kameraden von der Hazienda Cullashpampa der Maultierkolonne nach dem entfernten Quebrada Santa Cruz. In demtiefeingeschnittenen«Camino»quälenwirunsinbrütenderSonneüberdiesteile Rampe zum gleichnamigen Bergdorf. Zum Glück ist dieser idyllische Erdenfleck durch ein paar riesige Eukalyptushaine beschattet. Der Eingang zu unserm Tal zeigt sich so eng wie die Viamalaschlucht. So nötigen uns die Arrieros unmittelbar davor, nahe am Wasser, zu campieren, wobei uns die Moskitos ganz bös zusetzen.
Der Weg in die Schlucht ist wild, lang und schön, aber er steigt ganze 1000 Meter. Am engen Eingang befindet sich ein verschliessbares, schweres Tor aus uralten Holzstämmen. Beim Beginn dieses neuen Bergabenteuers darf man sich im stillen wohl fragen, ob alle nach drei Wochen wieder heil und froh durch diese Pforte treten werden. Weit oben, auf fast 3800 Metern Höhe, gibt es noch eine Anzahl einfacher Indiosiedlungen, welche von ein paar goldgelben Roggenäckerlein umgeben sind. An den verwachsenen Granitfluchten zur Linken und Rechten ist kaum ein Aufstieg zu erspähen, und nur selten erblickt man durch eine Senke oder ein grosses Wolkenfenster einen der umliegenden Sechstausender. Der erste See im Talboden gleicht mehr einem verzweigten Wasserlauf, wo sich eine Anzahl gänseartiger Reiher aufhalten. Die eigentliche Laguna Atuncocha liegt weiter hinten. Trotz ihrer verlockend tiefblauen Farbe lassen wir uns nicht verleiten, schon hier unser Basislager aufzustellen.
Der Abend naht. Ein grosser Teil unserer Mulas hat sich noch nicht eingestellt. Da, wo sich der erstmals offene Talboden wieder zu schliessen scheint, auf der freien Matte, inmitten eines verlassenen Rinderpferches, betrachten wir unsern Lagerplatz als geeignet. Aus Hunderten von blauen Lupinen ragen neben struppigen Sträuchern eine Anzahl knorriger Quisuar-Bäume empor. In Quisuarpampa, zwischen der steilen, turmartigen Pyramide des Artesonraju und dem mächtigen Massiv des Quitoraju und Alpamayo, steht bald ein wohnliches Zeltlager. Nach kurzer Akklimatisation wollen wir uns hier die lohnendsten Gipfelziele aussuchen.
Artesonraju, 6025 m ( zweite Begehung ) Vier Tage später, nachdem wir uns trotz der tief hängenden Wolkendecke mit den vorgelagerten Bergkämmen vertraut gemacht haben, errichten wir am Südfuss des Artesonraju in rund 5000 Metern Höhe unser vorgeschobenes Lager. Von hier aus können wir den ganzen Bergkranz des südlichen Zweigtales vor dem Übergang zur Punta Union zu Erkundungen und Besteigungen benützen. Es gelingen uns in der Folge auch die Erstbegehungen zweier felsiger Sporngipfel des Artesonraju sowie des 5500 Meter hohen Doppelgipfels Millishraju durch Ruedi Schatz, Georges Hartmann, Bruno Boiler, Friedl Comtesse und H. H. Spoerry. Weil Geny Steiger mit mir auf der Kundfahrt in das oberste Parrontal im tiefen Pulverschnee der Südseite steckenbleibt, drängt es besonders uns, möglichst bald die dominierende Pyramide des Artesonraju anzugehen. Erwin Schneider, der namhafteste Erschliesser vieler hoher Andengipfel, betrat diesen Sechstausender mit Hein erstmals vor 32 Jahren vom entgegengesetzten Taltrog aus.
Am Abend des 31. Juli ist der Himmel ausnahmsweise klar. Die Sternbilder der tropischen Breitengrade wachen über den drei kleinen Zelten am Berg. Unser Leiter sowie der Expeditionsarzt teilen mit uns die grosse Erwartung für den neuen Tag. Durch die am Abend vorgetriebene Spur lassen wir uns verleiten, erst bei Tageshelle aufzusteigen. Genys Drang zum Gipfel ist so sprichwörtlich, dass Georges und ich kaum zu folgen vermögen. Einige Spaltenkorridore und ein letzter Steilauf- schwung führen uns auf die fast horizontale Gratschulter, die aus einer einzigen gewaltigen Wäch-tenraupe besteht. Die Entscheidung, ob wir in der pickelharten Aufstiegsflanke oder fünf Meter weit draussen auf der weissen Wächtenrolle aufsteigen wollen, fällt mehrheitlich zugunsten der Flanke aus. Bis wir den nächsten senkrechten Wächtenkopf überklettert haben, steht die erste Seilschaft bereits ein gutes Stück oben in der 60 Grad steilen Gipfelwand. Die Wabeneisschicht mit dem teilweise losen Grund lässt uns die Zeit und damit auch die Mittagsstunden rasch vergehen. In einer Flucht fällt hier die Nordostwand des Artesonraju etwa 1000 Meter auf eine flachere Gletscherterrasse ab.
Wieder zieht eine dunkle Hochwolkendecke von den verzweigten Urwaldflussläufen des Amazonas bis an die umliegenden wilden Sechstausender. Die Gipfelhäupter über dem hintern Parrontal, der gigantische Nevado Santa Cruz, der Quitoraju, der stolze Alpamayo und die unwahrscheinlichen Eiskronen der erst einmal begangenen Pucahircas samt dem jähen Taulliraju, bleiben heute einmal frei und blicken ernst in die Runde.
Eine einzige Felskanzel aus gelblich-weissem Granit schenkt uns trotz ihrer ungewöhnlichen Ausgesetztheit durch einen soliden Haken Zuversicht und Gipfelnähe. Obwohl der harte « Montez » mit Stirnrunzeln auf den vorgerückten Uhrzeiger blickt, darf ich im tiefen Schnee noch wenige Seillängen zum höchsten Gratrücken spuren. Gemeinsam betreten wir die höchste Wächtenkuppe des Artesonraju. Ein schönes Geschenk zum Geburtstag unseres fernen Heimatlandes! 1. August 1965.
" Vom Fusse des mächtigen Huandoy grüsst uns die vertraute, grünblaue Laguna Parron. Vor sechs Jahren konnte ich jenen hohen Andengipfel mit denselben Bergkameraden erstmals über seine Nordabdachung begehen. Geny schaut zu Ruedi hinüber, fährt mit seinen roten Sturmhand-schuhen durch die Luft und weist zu der bodenlosen, schattigen Tiefe. Ich knipse noch rasch ein paar Photos und folge als letzter am Seil.
Das Abseilen mit der 200 Meter langen Reepschnur von der luftigen Felskanzel aus ist höllisch, und wenn sich die elastische Nylonschnur beim Ausziehen nicht immer wieder vielfach verdreht hätte, wäre uns der frühe Abend nicht so unerwartet nahegerückt. Die folgende lange Abseilpartie mit einer zweifachen Verankerung im Firn scheint besser vor sich zu gehen, solange ich auf den Aluminiumschwirren stehe. Die Gefährten sind meinen Blicken entschwunden, als ich feststelle, dass die Verankerung infolge meiner Belastung nachrutscht. Um dieses ungute Gefühl loszuwerden, stampfe ich die Schwirren und das Seilwerk so lange in den Schnee, bis ich weiter unten auch Abseilsitz nehmen kann. Am Ende der dritten und letzten « Abfahrt » am Seil pendeln wir halbschräg über einem schwarzgähnenden Spalt von blankem Eis. Nun heisst es, schnell das Seilwerk einnehmen, um das Rennen vor der Nacht zu gewinnen. Noch ehe wir richtig in Bewegung gekommen sind, bringen die andern beiden Kameraden den ersten Absatz bereits hinter sich. Ihre letzten Spuren haben wir in dem unübersichtlichen Gelände und bei zunehmender Dunkelheit bald verloren. Der Fehlgang an einem äusserst steilen Durchschlupf bringt uns in erhebliche Schwierigkeiten. Ohne zu eilen, müssen wir jetzt alles daran setzen, einem Biwak zu entgehen.
Der schmale Sichelmond und viel Glück helfen uns, dem kleinen Lichtpünktlein des Lagers immer näherzukommen. Den nächtlichen Kriechgang über die « gläsernen Tablare », wo in einem unbekannten Hohlraum unter uns immer wieder fallende Eisstücke aufschlagen, werden wir nie mehr vergessen. Wie durch ein Wunder finden wir die Passage durch die letzten Séracs. Unser treuer Hochträger Martin Fernandez wartet mit einer Laterne auf der Moräne, um uns zum Lager zu begleiten.
Eine Wärme umfängt mein Herz, die nur der Bergsteiger kennt, wenn er aus Kampf und Gefahr mit einemmal in ein wohnliches Heim eintritt.
Curicashajana ( 5500 m ) Unser Basislager im offenen Bergurwald von Quisuarpampa ist ein Ort der Erholung, obwohl der eiskalte Bergbach auch nur sehr kurze Vollbäder zulässt. Die Küche wird vorzüglich von unsern vier Expeditionsamazonen und den Trägern betreut. Bei einem Schafsragout oder bei Forellen blau aus der nahen Lagune erhält unser Verpflegungschef weit grösseres Lob, als wenn er des öftern Studentenfutter und Kaugummi verteilt. Die frohen Lachsalven des wohl besten Hochträgers der Anden, Emilio Angeles, bringen an jedem Ruhetag zusätzliche Zerstreuung.
Was uns ein wenig fehlt, ist die direkte Aussicht nach den umliegenden Eiskuppen der Sechstausender. Nur im Osten ragt aus steilen Hängen eine vergletscherte Pyramide 1500 Meter über das Tal. Wir wähnen, es sei der vor einem Jahr erstmals bestiegene Nevado di Bergamo. In Wirklichkeit steht dieser in der zweiten Kulisse.Vor allem scheint mir aber die Besteigung dieses nahen Berges mit seinem abweisenden Gipfelaufbau lohnend.
In der Morgendämmerung des 5. August steigen wir zu fünft entlang der weissgescheuerten Eisschlagrinne auf direktem Weg diesem neuen Ziel zu. Unterhalb des gewaltigen schwarzen Gratgendarmen verbinden wir uns mit den Seilen. Zuerst führt unsere Spur durch tiefen, steilen Schnee, dann unter einen frisch ausgebrochenen Hängegletscher und weiter in einer Mulde an den Fuss der imponierenden Gipfelwand.
Nach kurzer Mittagspause gehen wir voller Erwartungen diese gut 200 Meter hohe Wandflucht an. Als erster Sicherungsplatz dient die blanke Unterlippe der Randspalte. In einem Quergang und über einen fast senkrechten Schneebauch hinweg gelangen wir in das exponierte zentrale Couloir. Wie gewünscht, erlauben höher oben ein paar feine Risse in einem Granitvorsprung ausgezeichnete Hakensicherung. Diese Voraussetzung mag mich verleitet haben, am losen 40-Meter-Seil unbeobachtet unter den pilzförmigen Aufbau des Gipfels vorzustossen. Im morschen Wabeneis der leicht überhängenden Rampe bricht mir beim Hinauslehnen plötzlich eine ganze Eisrippe unter dem rechten Arm weg. Ohne die eingesteckte Aluminiumschwirre in meiner Linken wäre ich gestürzt. Kurz darauf finde ich im tiefen Schnee der Südseite einen kleinen Gratrücken, welcher zum Gipfel führt. Die Wahl des Standplatzes auf dieser gewaltigen « Schlagrahmrolle » erheischt trotz ihrer Geräumigkeit Vorsicht, denn drei Seiten davon sind leicht überhängend. Um 2 Uhr nachmittags stehen wir zu fünft vereint erstmals auf dem jungfräulichen Haupt des Curicashajana.
Wir freuen uns, als ganze Mannschaft im ersten Anlauf den richtigen Weg hieher gefunden zu haben. Lotty Spoerry, auf welche daheim vier Kinder warten, aber auch unserm 54jährigen Expeditionsveteranen Friedl Comtesse gebührt unsere Anerkennung. Die kleinen Wimpel des Gastlandes und der Heimat flattern vereint an einer unserer Eisäxte. Mit etwelcher Spannung erleben wir die kurze Gipfelstunde, denn es ist noch ungewiss, wo wir einen leichten Abstieg finden.
Wieder schieben sich schwere Wolken aus dem tropischen Landesinnern gegen die Cordilleren. Unerhört wild zeichnen die vielen Riffeleisgrate die gewaltige Pyramide des zunächst gelegenen Nevado di Bergamo. Die dunkelblaue Lagune unter den abweisenden, vereisten Pfeilern des Taulliraju erscheint recht klein, während sich der Taltrog bis zum turmartigen Artesonraju von hier aus unerwartet weit ausdehnt. Wir denken an unsere Kameraden, welche heute mit drei Trägern eine Route für ein vorgeschobenes Lager gegen die westlichen Gipfel des Carasmassivs suchen.
An einem mitgebrachten alten Pickelstiel können wir unsere Reepschnur verankern und so auf der entgegengesetzten Seite der Aufstiegsroute nach luftiger Fahrt einen Ankerplatz anlaufen.
Die zusammenfallenden Eiszapfen klirren unter den Steigeisen, ehe wir in einer Pendeltraverse einen kleinen Wächtenbalkon erreichen. Hier leitet ein steiler Eisgrat auf die erste nördliche Gratschulter, von welcher wir, ebenso ausgesetzt, wieder in das Aufstiegstrasse queren können.
Die tiefe Spur auf dem Gletscher, eine gute Spürnase während der Dämmerung, aber nicht zuletzt der milde Glanz des wachsenden Mondes bringen uns wohlbehalten an die Lagerfeuerstelle zu den dampfenden Teetöpfen. Wir sind höchst erstaunt, sämtliche Expeditionskameraden hier vorzufinden. Ihr zweimaliges Vordringen über dem grossen See soll in verwachsenen, halsbrecherischen Granitfluchten geendet haben. Ja, Neuland bringt immer Überraschungen! Erfolg oder Niederlage, was macht es aus! Unsere Kameraden und Gaby Steiger werden schon am andern Tag den schönen Berg mit dem pilzförmigen Gipfel aufsuchen. Sie sind ebenso müde und glücklich wie wir zurückgekehrt.
Schon zwei Tage später erscheint der zuverlässige Emilio Angeles mit den Eseln, um dieses Tal für die verbleibende kurze Zeit mit dem Quebrada Ishinca zu tauschen. Bis morgens 2 Uhr sitzen Friedl, Georges, Geny und ich in der kalten, sternklaren Nacht vor dem Lagerfeuer, um mit dem Verglimmen eines knorrigen Kengualbaums von diesem uns lieb gewordenen Platz Abschied zu nehmen.
Ich muss gestehen: die Rückmarschetappe bis Cullashpampa war für uns alle eine respektable Tagesleistung. Während ich hundemüde in einem Strassengraben sitze, reicht mir eine unserer Bergsteigerfrauen lächelnd ihre Flasche mit dem restlichen Marschtee.
Zum Abschluss gehen wir gemeinsam den hinter dem wildromantischen Ishinca-Tal gelegenen, etwas leichter zugänglichen, 6000 Meter hohen Ranrapalca an. Zu acht, mit zwei Damen und unserm besten Träger, stehen wir am frühen Abend des 13. August auf dessen Nordgipfel.
Nach vierwöchigem Aufenthalt in den Bergen trennen wir uns in Lima zur Heimreise auf verschiedenen Rückflugrouten. In Mexiko, in unmittelbarer Nähe der berühmten Silberminen-stadt Taxco, im idyllischen Seebecken eines ehemaligen Vulkans, gerate ich beim Wasserski-fahren wohl in die gefährlichste Situation auf meiner vierten Weltreise. Neben einigen grossen Luftblasen war es nur noch der rotbraune Bart, welcher einige Male an der Oberfläche auftauchte und damit zu meiner Rettung beitrug.
Dem treffenden Ausdruck der französischen Sprache « partir, c' est mourir un peu » möchte ich beifügen: gesunde Heimkehr nach ereignisreichen Tagen, heisst leben!