© Tommy Dätwyler
An der Kletterwand gesund werden Klettern als Therapie
In der Lenzburger Kletterhalle Kraftreaktor hat sich in den letzten Monaten ein für die Schweiz neuartiges Angebot etabliert: therapeutisches Klettern nach Hajo Friederich. Eine ganzheitliche und effiziente Methode, findet Initiantin Roseline Bestler.
In Deutschland ist das noch junge therapeutische Klettern nach Hajo Friederich (TKHF) (siehe Kasten) weitverbreitet. In der Schweiz dagegen ist die vor rund 25 Jahren entwickelte Methode noch weitgehend unbekannt. Das will Roseline Bestler ändern. Sie führt in Aarau eine Praxis für Craniosacral-Therapie und ist überzeugt, dass die Koordination, die Körperkraft und die Körperspannung, die es beim Klettern braucht, bei unzähligen Beschwerden therapeutisch wirken können. Sie arbeitet in der Kletterhalle Kraftreaktor in Lenzburg mit der Methode. Dabei nutzt sie die Kletterwand nur nahe am Boden. Vor unsanften Stürzen schützt kein Seil, sondern Matten. «Wir klettern von rechts nach links und wieder zurück, konzentriert, intensiv und mit Spannung, von der Haarspitze bis zu den Zehen. Alles wird gebraucht, sogar das Hirn», lacht Roseline Bestler einer ihrer ersten Patientinnen zu.
Jeder klettert anders
Roseline Bestler hat als Zusatzausbildung die berufsbegleitende zweijährige TKHF-Ausbildung absolviert, die nur in Deutschland angeboten wird. Vorgängig hat sie sich eingehend in die Geheimnisse des Sportkletterns einweihen lassen und auch privat Freude daran bekommen. Die Idee, die Kletterfähigkeiten, die dem Menschen in die Wiege gelegt werden, für Therapiezwecke zu nutzen, hat sie sofort überzeugt: «Greifen, lösen, schauen, den Schwerpunkt verlagern, sich in der Vertikalen bewegen und dabei gleichzeitig seinen Körper unter therapeutischer Anleitung spielerisch trainieren, das sprengt die bisherigen Therapiedimensionen.» Zudem habe die Methode auch einen diagnostischen Nutzen: Die Art und Weise, wie jemand klettere, könne Hinweise dafür geben, dass zum Beispiel die Ursache für Rückenprobleme woanders liegt als ursprünglich angenommen.
Training kann Spass machen
«Fitness und Therapie an der Kletterwand machen Spass und fördern die Regeneration nach Operationen, Unfällen oder mühsamen Beschwerden», sagt Roseline Bestler. Sie weiss aus langjähriger Praxis, welche Gefahren in herkömmlichen Fitnessstudios lauern: «Dort werden Übungen trotz anfänglicher Anleitung nicht selten falsch oder sogar kontraproduktiv ausgeführt.» An der Kletterwand dagegen könnten Gelenke, Muskeln, Bänder, Sehnen und Nerven im natürlichen Bewegungsablauf und unter Anleitung trainiert und stimuliert werden. «Ich kann meinen Kunden nicht nur Rehabilitation und Linderung bei Beschwerden bieten, sondern sie auch beim Entdecken einer neuen Aktivität unterstützen», sagt die Therapeutin. Schon jetzt, rund sechs Monate nach der Lancierung des neuen Therapieangebotes im «Kraftreaktor», sei absehbar, dass Kunden, die einmal mit ihr zusammen an der Kletterwand unterwegs gewesen seien, sich später mit grosser Wahrscheinlichkeit auch fürs Bouldern oder Sportklettern in den anderen Hallenbereichen interessieren würden.
Ein Glücksfall für alle
«Ich habe schon immer gewusst, dass Klettern Spass macht, aber zu beobachten, wie die Kunden nach einer Einheit mit Roseline Bestler die Kletterhalle verlassen, ist doch ein besonderes Erlebnis», sagt Marco Toretti, der Geschäftsführer des «Kraftreaktors»: «Die Leute sind zwar nach einer Stunde augenscheinlich müde und aufgrund der vielen neuen Bewegungen sogar eine Spur abgekämpft, aber gleichzeitig machen sie einen ungemein zufriedenen und entspannten Eindruck.» Marco Toretti ist bereits 15 Jahre im «Kraftreaktor» engagiert, und seit zwei Jahren betreibt er die Kletterhalle in Lenzburg zusammen mit seiner Frau als Eigentümer. Er sieht viel Potenzial im neuen Angebot. «Wir sind Bewegungsspezialisten. Massage und Therapie auf der Liege sind gut, sich selbst bewegen aber fast immer besser», sagt er. Das neue Therapieangebot passe deshalb hervorragend ins Kletterhallenkonzept und sei eine Win-win-Situation. «Therapeutin, Patienten und das Team der Kletterhalle sind vom neuen Angebot begeistert. Da steckt Herzblut drin, und das spüren alle Beteiligten!»
Der neue, nicht ganz herkömmliche Therapieweg in Lenzburg richtet sich an Personen mit und ohne Beschwerden, an Kinder und Erwachsene bis ins höhere Alter. Sportliche oder (noch) nicht Sportliche sind genauso angesprochen wie Menschen, die Höhenangst haben und nicht schwindelfrei sind. «Profitieren können alle, egal ob sie ‹nur› unter Verkrampfungen oder unter den Folgen von gravierenden Sportverletzungen leiden», sagt Roseline Bestler. Eine Limite setze nur das Körpergewicht, weil sie als eher kleine Person zu schwere Kunden nicht genügend sichern könne. Dass diese Therapie in der Schweiz vorläufig noch nicht von der Krankenkasse abgerechnet wird, ist für die innovative Therapeutin und ihre ersten Kunden zwar ein Wermutstropfen, aber kein Grund, aufzugeben.