An der Aiguille du Dru (Bonattiweg)
VON HUGO WEBER, LA HEUTTE
Mit 3 Illustrationen ( 38-40 ) Der Himmel zeigte das charakteristische Blau eines heissen Sommertages. Wie schon die vorhergehenden Tage setzte ich mich auch an diesem Morgen wohl an die Arbeit, aber mit den Gedanken war ich nicht dabei.
Plötzlich entschliesse ich mich: weg mit den Büchern! Ich eile zu Willy. Er kann weder meiner Begeisterung noch dem verführerischen Programm, das ich ihm vorlege, widerstehen. Noch am gleichen Abend beladen wir meinen alten Opel, um anderntags loszufahren.
Am Morgen kann ich es fast nicht glauben, dass wir im Begriffe sind, zur Besteigung des Dru aufzubrechen. Wird sich der Traum erfüllen, der noch so weit schien?... So weit, dass ich bereit war, mich noch lange zu gedulden! Vielleicht wird es ein vergeblicher Aufbruch, wie schon so oft. Doch schon die Aussicht, den Berg zu sehen, vielleicht zu berühren, erfüllt uns mit Freude und zugleich mit Unruhe. Im Hinblick auf diese Fahrt haben wir, Willy und ich, seit dem Frühjahr jeden Sonntag und bei jeder Witterung trainiert. Der Körper ist beweglich geworden, der Geist für grosse Schwierigkeiten gerüstet. Auch vorsichtig werden wir sein, wie es eine so schwierige Besteigung erfordert. Das « Spiel » besteht nicht darin, die Gefahr zu riskieren, sondern eine den Spielregeln gemässe Lösung zu finden. In den Kalkbergen des Juras hatten wir ein so nahe gelegenes Klettergelände zur Verfügung. Es bot uns mit seiner Weite und seinen Schwierigkeiten genau das, was wir für unsere Vorbereitung brauchten, und die Freude, hier neue Wege zu öffnen, genügte, um unsern Eifer wachzuhalten.
Für die Hinfahrt schliesst sich uns im letzten Augenblick Claude an. Auch ein Besessener, dessen Bergsteigerherz nur schon beim Gedanken daran, nach Chamonix zu fahren, höher schlägt. Dort wird er wohl einen Kameraden finden, um mit ihm die frische Luft der Aiguilles zu atmen und einen Blick zu unserm Berg hinüber zu werfen.
In Chamonix bleibt uns eine knappe Viertelstunde, um unsern Proviant einzukaufen, wenn wir den Zug nach Montenvers erreichen wollen. In den Läden ist nicht alles, was auf meiner Liste steht, erhältlich; so kaufe ich ein ungefähres Durcheinander dessen, was wir brauchen können, zusammen, wobei ich mich in den Mengen natürlich täusche. Willy traut der Sache nicht: aber ich mache ihn darauf aufmerksam, dass, wie ich schon oft erfahren habe, der Appetit mit der Höhe abnimmt. Da er noch wenig Bergerfahrung hat, verlässt er sich für seine erste Hochtour auf mich. Heute, da wir die Tour hinter uns haben, weiss ich, wie sehr ich auf ihn zählen kann; er hat sich als prächtiger Bergkamerad bewährt, der die für unser Unternehmen nötigen physischen und moralischen Qualitäten besitzt.
Als wir, bei unserem Wagen zurück, die Säcke und die Ausrüstung bereitmachen, merke ich bestürzt, dass ich die Kletterhose nicht eingepackt habe. Unser überstürzter Aufbruch ist beschämend unseriös.
Am Fusse des Berges verteilen wir unsern Proviant auf acht Mahlzeiten für vier Tage. Die Portionen sind mager, und am Abend vor dem Einschlafen bemühen wir uns, davon satt zu werden. Das heisst, Willy lacht liebenswürdig über unsern « Überfluss », während ich meine Beschämung schlecht verbergen kann. Ich wusste noch nicht, dass für eine solche Besteigung die Nahrungs-mengen wie für eine kleine Expedition berechnet werden müssen.
Als es tagt nach dem ersten Biwak, macht ein guter warmer Kaffee uns junge Leute nur noch hungriger. Die Portion ist rasch verschlungen, und mit knurrendem Magen brechen wir auf und suchen im Halbdunkel den Weg. Aber unsere Phantasie irrt sich am Fuss dieser ungeheuren, dunklen, phantastisch wilden Silhouetten. Über gefrornen Schnee stapfend, kommt mir unsere Fahrt über die Ostflanke des Capucin in den Sinn: es waren mehrere Annäherungen an den Berg nötig vor dem endgültigen Gelingen, und ich habe den Eindruck, dass der Bonattipfeiler die gleichen Formalitäten von uns fordern wird. Vielleicht heute schon, vielleicht morgen heisst es umkehren und darum beschäftigt mich der knappe Proviant nicht allzusehr.
Es ist nun heller Tag, und wir haben die Höhe des Schneekegels am Beginn des tief eingegrabenen Couloirs, durch das wir aufsteigen müssen, erreicht. In diesem Couloir scheinen sich die objektiven Gefahren zu häufen, so dass wir uns unangenehm bedrückt fühlen. Nach einem gutartigen Bergschrund nimmt die Steigung zu. Aber die Bedingungen sind ausgezeichnet. Ein guter Fusstritt genügt, um drei Viertel des Schuhes auf eine sichere Stufe zu setzen. Ohne uns anseilen zu müssen, steigen wir aufwärts, quer über die Verschneidungen, die zur Westfassade hinüber führen. Werden wir eines Tages der Lockung dieser Fassade folgen? Für heute halten wir uns ans Couloir.
Ein durchscheinender, fast senkrechter Eisvorsprung hält unsern Elan auf. Wir legen unsere schweren Bürden ab, nehmen die Seile aus dem Sack, und mit noch grösserer Sorgfalt als gewöhn- 7 Die Alpen - 1959 - Les Alpes97 lieh seilen wir uns an. Plötzlich wird vom oberen Teil des Pfeilers her die Stille von Stimmen durchbrochen. Es sind also schon andere am Berg; die Bedingungen müssen gut sein.
Willy schafft sich schon vorsichtig über den Vorsprung empor, und wir erreichen den oberen Teil des Couloirs, wo die Verhältnisse noch ärger sind. Rings um uns hohe, fast senkrechte vereiste Wände, wie ein ungeheurer, gegen die Talseite aufgerissener Schacht. Links oben muss der Fuss des Pfeilers sein. Um dahin zu gelangen, heisst es, diesen dunklen Eiswänden entlang, in denen man ohne die reine, belebende Bergluft zu ersticken glaubte, geduldig in einer Spirale emporzusteigen. Es ist 10 Uhr, als wir die Felsen des Pfeilers erreichen. Ganz oben sind sie von der Sonne beleuchtet, und wir freuen uns auf die Wärme.
Wir kauen ein paar Dörrfrüchte und passen die Verteilung des Klettermaterials den neuen Verhältnissen an. Ich gehe voraus, um den Weg zu suchen. Da wir keine technischen Angaben besitzen, heisst es wie bei einer Erstbesteigung die Passagen zu suchen und abzuschätzen. Hie und da stossen wir auf eine alte Ringschraube; ein misshandelter Holzkeil erzählt uns seine Geschichte.
Langsam reiht sich eine Seillänge an die andere, immer sehr schwierig und exponiert. Aber der Humor verlässt uns trotz der Schwierigkeit dieser heikelsten Passagen nicht, die unsere ganze Kraft und Selbstbeherrschung ununterbrochen in Anspruch nehmen. Technisch geht alles gut, auch das lachende Gesicht meines Kameraden bestätigt es. So erreichen wir gegen 8 Uhr abends eine vom Tal aus gut sichtbare Terrasse auf dem Grat des Vorsprungs. Aber dieser Teil der Kletterei hat mich erschöpft. Im letzten, engen Kamin störte der Sack mein Gleichgewicht und behinderte jede Bewegung. Mit seinem viel schwereren Sack wird Willy, trotz gutem Willen, unmöglich durchkommen. Mit letzter Kraft ziehe ich seine Last herauf und frage mich hinterher, wie es meinem Gefährten möglich war, mit diesem Gewicht am Rücken so glänzend bis dahin zu klettern. Schade, dass er noch keine Erfahrung im Führen hat, unsere Seilschaft wäre noch homogener.
Zu unserer grossen Erleichterung bleibt das Wetter schön und sicher. Wenn sich die Verhältnisse verschlechtern sollten, wäre ein Rückzug hier, und besonders weiter unten, im Couloir, sehr mühsam und sogar gefährlich. Unser Biwak ist bequem, und die Nacht wird uns nicht lang. Ich denke an den anstrengenden Tag, den wir hinter uns haben, an die unvergleichliche Kletterei, die uns auf diesen Balkon geführt hat aber auch an die spärliche Nahrung, die uns von nun an bis zum Gipfel genügen muss. Ich versuche mir vorzustellen, was morgen sein wird. Und natürlich denke ich auch an Bonatti, der hier als Alleingänger seinen Weg suchte, und Meter um Meter vorrückend, genötigt war, für jede Etappe aufwärts und wieder abwärts zu klettern. Diese Bergsteigertat ist für alle, die seine Fahrt wiederholen, etwas Unglaubliches.
Eine Stunde vor Sonnenaufgang bereiten wir schon unsern Kaffee, das einzige « Nahrungsmittel », von dem wir für die ganze Fahrt genügend haben, dank unserem Vorrat und den Schneeresten, die vom letzten Schneefall vor der Schönwetterperiode übriggeblieben sind. Sobald es hell genug ist, machen wir uns auf den Weg.
Beim ersten Schritt fühle ich mich so schwach wie nach einer schweren Krankheit, und einen Augenblick zweifle ich an meinen Kräften. Aber die Schwierigkeiten sind bald so gross, dass sie meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen und mich Hunger und Schwäche vergessen lassen. So erreichen wir die « roten Platten ». Die Fortsetzung spielt sich auf sehr kompaktem, hellrotem Granit ab. Ich schlage weiter Ringhaken um Ringhaken ein. Nach mir bemüht sich Willi, von diesem Eisen so viel als möglich wieder einzusammeln. Eine langweilige Arbeit! Aber er macht es mit ausserordentlicher Gewandtheit. Nichtsdestoweniger steht unser Vorrücken in keinem Verhältnis zur Höhe des Berges, und sein Schatten auf der Moräne wächst in die Länge. Bei jedem Halt messe ich mein Vorrücken an der Umgebung ab. Wir befinden uns kaum hundert Meter über unserm Biwak, und der Nachmittag ist schon weit vorgeschritten. Ich glaube, dass Willy dasselbe denkt wie ich; denn er beeilt sich offensichtlich. Endlich führt mich ein schräger Riss in die rechte Seite der Platten hinüber, und bei einer Gratwendung ändert sich das Bild. Noch ein paar Meter, und ich kann mich auf einer verhältnismässig geräumigen Terrasse beim Beginn einer grossen Verschneidung, die von einem gigantischen Felssturz herrührt, erholen. Hier ist der Fels grau und rauh und scharf. In einem Winkel finde ich noch Schnee, der mir erlaubt, einen guten Kaffee zu brauen.
Während des « Kochens » sichere ich meinen Kameraden. Sehen können wir uns nicht, aber durch das verbindende Seil kann jeder die Bewegungen des andern spüren. Aber was Willy nicht ahnt, das ist mein behaglicher Rastplatz und der warme Kaffee, der ihn erwartet. Unter dessen Einwirkung erscheinen uns nachher die paar Meter freier Kletterei wie eine Liftfahrt.
Aber schon werde ich durch einen ausgeprägten Überhang aufgehalten. Wenn der technische Fortschritt in allen sonstigen Bereichen unseres Lebens eine Beschleunigung gebracht hat: beim Klettern sind wir wieder auf die Geduld eines prähistorischen Handwerkers angewiesen. Über dem Hindernis erwartet mich noch einmal ein guter Rastplatz, und Willi folgt nach mit seinem unverwüstlichen Humor, der ihm alle Schwierigkeiten erleichtert. Zwei Stunden später blieb ich 35 Meter über der letzten Terrasse stecken, und wir mussten zu derselben zurück für unser Biwak. In einem breiten, unendlich langen Riss, der noch nie durchstiegen worden ist, musste ich ratlos aufgeben. Es hätte mindestens 25 Holzkeile gebraucht, um durchzukommen. Offensichtlich hatten es andere vor mir vergeblich versucht, und ihre zurückgelassenen Ringschrauben dienten uns nun zum Abseilen.
Die Nacht steigt herauf. Wir müssen die Morgendämmerung abwarten, um uns über einen möglichen Weiterweg klar zu werden. Es war auf dieser Höhe, wo Bonatti eine Reihe von Seilquerungen ausführte, aber was wir darüber wissen, macht uns die Fortsetzung nur noch schleierhafter.
Unser Biwak ist äusserst luftig. Willi hat sich in der Vertiefung bei einem von der Wand gelösten Block eingerichtet, während ich mir am äussersten Rand eine kleine Plattform in Körpergrösse anlege. So brauche ich im Liegen nur den Kopf zu drehen, um mit den Augen die ganze Tiefe des Abgrundes abschätzen zu können. Wir schlafen ein wenig. Die Morgendämmerung erscheint und hält, was der Abend versprochen hat. Das schöne Wetter bleibt uns treu, und wir sind für diese Chance dankbar. Der Hunger hingegen wird zum Albdruck. Zudem ist mein Hals entzündet; ich kann kaum schlucken. Das Morgenessen besteht zur Hauptsache aus ungezuckertem Kaffee. Erst die Kletterei lässt mich diese Misère vergessen.
Nach systematischer Rekognoszierung entdecke ich einen Ausweg. Indem ich den Grat zu unserer Rechten umgehe, gelange ich zum oberen Teil der eingestürzten Verschneidung. Der Zugang ist durch einen enormen Überhang versperrt, wo uns zurückgelassene Ringhaken den Weg weisen. Wir befinden uns also unter dem berüchtigten grossen Dach, das Cesare Giudici bei seiner zweiten Besteigung so zu schaffen machte. Die Turnerei wird für uns kein Vergnügen werden. Wir werden jede Bewegung gut überlegen müssen, um unsere ernstlich zusammengeschmolzenen Kraftreserven nicht zu erschöpfen.
Das « Dach » sieht gar nicht so aus, wie ich es mir vorgestellt habe, noch entspricht es dem, was man sich gewöhnlich unter einem solchen vorstellt. Es ist ein langer, mühsamer Überhang von 45°. Bei dieser letzten Schwierigkeit warte ich mit Ungeduld, bis sie auch mein Kamerad hinter sich gebracht hat. Dann ruhen wir uns in einer Nische aus, wo das fünfte Biwak Bonattis gewesen sein muss. Von da unternehme ich eine schwierige Passage nach rechts und erreiche 20 m höher eine grössere schneebedeckte Terrasse. Willy kommt nach.
Während wir Kaffee bereiten, prüfen wir aufmerksam den Weiterweg. Wir vermuten, dass wir die Route verfehlt haben. Aber eine Kombination von leichten Rissen zu unserer Rechten, dann ein Kamin und möglicherweise eine Abseillänge werden uns ganz nahe an die normale Route des Dru heranbringen. Erst jetzt, bei der Aussicht, dass wir die Fahrt hier abbrechen und über die normale Route absteigen können, kommt mir meine ungeheure Müdigkeit zum Bewusstsein, die ich mir bis dahin nicht eingestehen durfte, da ich einfach durchhalten musste. Willy, den die Natur mit unerschöpflichen Kräften versehen zu haben scheint, ist offensichtlich noch in guter Form...
Glücklicherweise! Denn der Abstieg sollte lang werden... Spät in der Nacht kamen wir in Chamonix an. Die Welt hatte uns wieder.
Dieser erste Kontakt mit dem Dru hinterliess mir einen nachhaltigen Eindruck. Die Lehre war hart, aber nach und nach zeitigte sie ein positives Ergebnis. Ich habe vielerlei gelernt, und über die Klettertechnik hinaus sind mir neue Dimensionen aufgegangen - und wäre es nur die Erinnerung an eine Freundschaft und an ein Vertrauen, das jeder Belastung standhielt.
Vom Tal aus und auf unsern Fotos haben wir unseren Aufstieg verfolgt und wiedererlebt. Aber dieses Aufgeben 250 m vor dem Gipfel störte die faszinierende Harmonie einer Aufstiegsroute, die in fast gerader Linie vom Mer de Glace zum Gipfel führt. Nach und nach erwachte der Wunsch, mit unsern erworbenen reichen Erfahrungen zum Berg zurückzukehren. Auf einer Frühlingsfahrt auf die Aiguille du Midi hatte ich Gelegenheit, den Dru wiederzusehen. Und wieder erschien sie mir als Königin aller Spitzen, die das Mer de Glace überragen. Sein Pfeiler erscheint so kühn, dass man sich daran nicht einmal in der Phantasie eine Aufstiegsroute auszudenken wagt. Es hatte im allgemeinen wenig Schnee auf den Aiguilles, und der Pfeiler war sozusagen schneefrei. Bei gutem Wetter wäre die Tour sogar in dieser Jahreszeit durchführbar. Von diesem Augenblick an fühlte ich mich bereit, das grosse Abenteuer nochmals zu erleben.Übers.: F.Oe. )