Alpinismus der Zukunft: zwischen Tradition und Trend.
Alle zwei Jahre organisiert die Evangelische Akademie Bad Boll (D) eine Tagung, die sich mit einem für den Deutschen Alpenverein (DAV) besonders aktuellen Thema befasst. Mit Hilfe von Referaten, Diskussionen in Arbeitskreisen und informellen Gesprächen werden im Verlauf der zweieinhalbtägigen Veranstaltung jeweils Stellungnahmen erarbeitet, die der DAV-Führung Anhaltspunkte für ihr zukünftiges Vorgehen geben sollen.
Mit der vom 26. bis 28. November 1999 dauernden Tagung mit dem Titel «Alpinismus der Zukunft: zwischen Tradition und Trend» bezweckte man, im DAV einen Überblick über die zukünftigen Entwicklungen des Bergsports zu erhalten. Gleichzeitig galt es, die Basis für den im Oktober 2000 stattfindenden Kongress «Berg Sport21» zu schaffen. Dort sollen die Entwicklungen im modernen Bergsport diskutiert, gegebenenfalls neu definiert und das neue Jahrhundert mit einer für die zukünftige Arbeit des DAV richtungsweisenden Standortbestimmung in Angriff genommen werden. Das für 1999 gewählte Thema widerspiegelt aber auch das im DAV zunehmend spürbar werdende Spannungsfeld der Zielvorstellungen zwischen Tradition («Gesinnungsver-ein»?) und Trend («Serviceclub»?). Dies entstand nicht zuletzt aus dem inneren Widerspruch zwischen dem in Deutschland stark verbreiteten -und gepflegten -, heroisch überhöhten Bergsteigerverständnis und der Notwendigkeit, den grössten Bergsteigerverein der Welt1 nach den Prinzipien einer Grossorganisation zu führen.
Wer sich mit dem Bergsport der Zukunft beschäftigt, muss sich zuerst mit den Entwicklungen im Sport ganz allgemein auseinander setzen. Dies tat Prof. Dr. Rittner, Leiter des Instituts für Sportsoziologie in Köln, in seinem grundlegenden Referat « Sportentwicklung zwischen Tradition und Trend ». Dabei wurden der gewaltige Strukturwandel im Sport, sein starker Einfluss auf den Bergsport und die daraus entstehenden Konsequenzen für die alpinen Verbände ersichtlich.
Basis bildet ein einheitliches, allgemein anerkanntes, auf die Begrenzung der Subjektivität ausgerichtetes Verständnis. Entsprechend ist es durch die soziale Ein- und Unterordnung des Sportlers in das vorgegebene Umfeld hierarchisch organisierter und von («ethischen») Verhaltensregeln bestimmter sportlicher Kollek-tive (unter denen der Sportverein einen wichtigen Bestandteil bildete) definiert. Im Rahmen dieser, eine klassische Männerdomäne bildenden Welt sind vor allem Askese, Körperkontrolle, Härte und Disziplin als herausragende Eigenschaften gefragt.
Dabei handelt es sich um ein auf Individualismus ausgerichtetes Sportverständnis, das das Ich und dementsprechend die eigene Gesundheit, das Wohlbefinden, die Freude an der Bewegung ins Zentrum stellt. Die Selbstdarstellung, das persönliche Körpergefühl, das Interesse am und der Dialog mit dem Körper erhalten hier einen besonderen Stellenwert, dessen neue gesellschaftliche Bedeutung sich in Slogans wie « Erfolg durch Fitness » oder « Fit for Fun » niederschlägt. Ästhetisierung und Erotisie-rung des Sports, seine Verbindung mit der Mode, die Ausbildung von « Szenen », « Milieus » und die Tendenz des Sport-Konsums sind weitere Merkmale dieser auf das Subjekt ausgerichteten trendigen Entwicklung.
Das heutige ichbezogene (durch die Freigabe der Subjektivität entstandene) Sportverständnis hat zu drei unterschiedlichen Sportmodellen mit jeweils eigenständigen Zielsetzungen geführt, die ihrerseits wieder ganz andere Strukturen erfordern.
Hier erfüllt Sport einen Unterhaltungszweck, soll Vergnügen und Freude bringen. Der Sportausübende ist auf der Suche, was ihm diesbezüglich am meisten bringt. Dazu gehört auch die Selbstdarstellung. Mode und Trends üben einen entsprechend grossen Einfluss aus. Übungsleiter und Sportlehrer übernehmen hier die Rolle von Animatoren. Sportausübende, die den Freizeitspass suchen, lassen sich nur schwer längere Zeit bei der Stange halten. Wenn der Unterhaltungswert, die Attraktivität nicht mehr ihren Vorstellungen entsprechen, wenden sie sich bald einmal neuen Sportarten zu.
Inwieweit Sport als Abenteuererlebnis diesem Sportmodell zuzuordnen ist, oder ob sich hier bereits ein weiterer neuer Strang abzeichnet, lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen.
Es ist dies die Welt des Wettkampfsports, die vom Ziel bestimmt wird, die eigene Leistung zu maximieren. Der Weg führt hier zum Berufssport-ler, der vom Berufstrainer und eines, gleichermassen professionalisierten Umfelds begleitet, ebenfalls seine persönlichen Zielsetzungen zu verwirklichen sucht.
Eine der Ursachen ist der Wandel des Krankheits- bzw. Gesundheitsbil-des. Die Abnützungskrankheiten haben die klassischen Krankheiten abgelöst, wodurch das Gesundheitsmotiv einen neuen Stellenwert erhält: Jeder ist für seine Gesundheit selbst verantwortlich. Die Besorgtheit um die Gesundheit, die Erhaltung eines intakten Körpers werden immer wichtiger. Gleichzeitig erwartet die Gesellschaft, dass man etwas für seine Gesundheit tut. Auf die Frage «Was tun Sie für Ihre Gesundheit?» wird mit «Sport» an erster Stelle geantwortet (Sport als Selbstmedikation).
Weiter besteht in der globalisierten Gesellschaft, in der die traditionellen Werte nicht mehr dieselbe Bindungskraft haben, das Bedürfnis, die eigene Identität und Individualität zu pflegen und hervorzuheben. Hier bietet sich - in einer ohnehin körperorientierten Welt - der eigene Körper an. An ihm lassen sich der Erfolg nachvollziehen und gleichzeitig gesellschaftliche Anerkennung erringen (Magie der Fitness).
Mit der Individualisierung geht eine Desorientierung einher, die ihrerseits nach haltfördernder Selbstwahrnehmung ruft. Hier rückt erneut der eigene Körper in den Mittelpunkt, da er einerseits (gegen innen) die Möglichkeit gibt, sich interessant zu erleben, andererseits sich (gegen aussen) interessant darzustellen. Damit wird der Bogen zum Trendsport geschlagen, der die dazu geeignete Bühne (die Szene, das Milieu) bietet. Diese Entwicklung wird noch weiter an Bedeutung zunehmen.
Die Aufspaltung in unterschiedliche Sportmodelle verstärkt den Zug zum Professionalismus. Nur wer die Entwicklung als Experte ständig verfolgt, kann die Funktion als Gesundheitsberater, Animator oder Trainer erfüllen und sich in den verschiedenen sportlichen Umfeldern glaubhaft (und effizient) behaupten. Aus dem Sportverband als Selbsthilfeorganisation wird der Sportanbieter im Spannungsfeld von Nachfrage- und Ange-botsstrukturen. Aus einer wirtschafts-fernen Aktivität wandelt sich Sport zum ökonomischen Interessenobjekt. Die einheitliche Sportvorstellung hat sich in eine pluralistische mit immer neuen Herausforderungen entwickelt. Entsprechend müssen die heutigen Sportorganisationen ihre Arbeit neu definieren. Sie werden ihre Kompetenz nur halten, wenn sie mit diesem Wandel umgehen können und ein konstruktives Verhältnis zu den Trends finden, die Ausdruck der heutigen Gesellschaft und ihrer Probleme sind. Die Sportanbieter müssen lernen, die Elemente ihres Leistungs-pakets in den aktuellen « Lifestyle»-Gesamtrahmen zu bringen (Framing). Für die Sportverbände ergibt sich daraus das Problem, die Trends zu erfassen, sie gemäss ihrer Bedeutung zu integrieren (Trendmanagement), damit kompetent zu bleiben und trotzdem die eigenen Zielsetzungen zu erhalten. Dies erfordert eine Neu-positionierung zwischen Tradition, Trend und Zukunft.
Die Reaktion mancher Teilnehmer in Bad Boll auf dieses neue Sportbild (oder «Sportpanorama») war durch emotionale Abwehrhaltung gekennzeichnet. Statt auf die neuen Entwicklungen und ihre möglichen Konsequenzen für die Positionierung eines alpinen Verbands einzugehen, wurde mit viel Aufwand zu begründen versucht, dass der Bergsport eben anders sei als alle andern Sportarten und somit den dargelegten Gesetzmässigkeiten nicht unterliege. Der alpine Verein solle der Pflege des gemeinsamen Erbes dienen. Sein Hauptziel sei und bleibe, die richtige bergsteigerische Gesinnung in Form einer Vereinigung «Gleichgesinnter» zu erhalten, sich nach «ethischen» Gesichtspunkten auszurichten und die grossen alpinistischen Leistungen der Vergangenheit unter «Denkmalschutz» zu stellen. Dabei wurde die Absicht spürbar, die breitensportlichen, «Fun»-ausgerichteten Entwicklungen (wie z.B. das Plaisirklettern) möglichst auszugrenzen und sie gleichzeitig mit einem auf die eigenen Traditionsbedürfnisse zugeschnittenen «ethischen» Regelwerk niederzuhalten. Überhaupt wurde viel und undifferenziert über «Ethik» und die «ethischen Dimensionen des Bergsteigens» gesprochen. Daraus entstand auch der Eindruck, dass unter Zuhilfenahme des wohlklingenden Ethik-Begriffs vor allem versucht wurde, sich der Auseinandersetzung mit den neuen Herausforderungen möglichst zu entziehen. Das lieb gewordene traditionelle abenteuerlich-heroische und zünftisch-abgeschlossene2 Bergsteigerbild könnte dadurch in Frage gestellt werden. Entsprechend wurde dann auch die aus dem Referat von Prof. Dr. Rittner hervorgehende grundlegende Neuorientierung des Sportverständnisses im Verlauf der ganzen Tagung kaum noch zur Kenntnis genommen.
In fünf Arbeitskreisen3 wurden zu den entsprechenden bergsportlichen Aktivitäten jeweils eine Art Bestandesaufnahme und daraus resultierende Forderungskataloge an den DAV erstellt. So verlangte man z.B. im Bereich des Kletterns Erhalt des Pluralismus, naturverträgliche Nutzung, Förderung des Klettersports in Form von «sanftem Tourismus», Priorität für das Prinzip der Nachhaltigkeit.
Die grosse Schwäche solcher Erklärungen besteht darin, dass sie im Wesentlichen nur die (in diesem Fall stark traditionsverhafteten) Zielsetzungen der Anwesenden repräsentieren, die in Form einer möglichst bindenden Standortbestimmung niedergelegt werden. Die Fragen zu den neuen Herausforderungen wurden vielfach gar nicht - oder zumindest nicht grundsätzlich - angegangen und die Auflösung der teils in sich wi-dersprüchlichen Forderungen an den alpinen Verband (DAV) delegiert.
Naturgemäss sind an einer solchen Tagung diejenigen, die mit den Trends gehen und somit auf die neuen Sportmodelle ausgerichtet sind, kaum vertreten. Entsprechend überwogen in Bad Boll die beharrenden Kräfte, wozu auch einige Vertreter der jüngeren Generation gehörten. Dessen war sich die DAV-Leitung durchaus bewusst. Josef Kienner, der Erste Vorsitzende des DAV, wies in seinem Abschlussreferat sehr klar auf die Begrenztheit dieser von den fünf Arbeitskreisen vorgelegten Papiere hin. Er stellte fest, dass Tradition als programmatische Aussage nur noch für den Stammtisch, nicht aber für den DAV ausreiche. Wandel sei zwingend und dazu gehöre auch der Mut zur Umsetzung von der Theorie in die Praxis. Dabei müsse man etwas ganz annehmen und dazu stehen und könne nicht auf halbem Weg stehen bleiben.
Bei der Tagung von Bad Boll lag die Tradition noch eindeutig vor dem Trend. Inwiefern dies auch für den DAV als Ganzes und für seine Führungsgremien zutrifft, lässt sich nicht sagen. Allerdings ist in Deutschland das heroisch überhöhte Bergsteigerverständnis noch viel stärker verankert als anderswo. Entsprechend wurden seit je « ethische » Grundsatzdiskussionen über alpinistische Fragen4 geführt, als sie durch die bergsportliche Praxis bereits längst überholt waren.
Insgesamt ergab sich ein überaus interessanter Einblick in einen alpinen Verband, der von seiner Grosse und seiner gegenüber dem SAC noch wesentlich unterschiedlicheren Mitgliederstruktur her in nächster Zeit von den neuen bergsportlichen Entwicklungen besonders stark gefordert sein wird.