Alpiner Mensch und alpines Leben in der Krise der Gegenwart
VON RICHARD WEISS, KÜSNACHT ( Zh )
Es ist so, wie André Siegfried in seinem auch für Schweizer sehr lehrreichen Buch « La Suisse démocratie-témoin » ( 1948 ) gesagt hat: « Economiquement c' est la plaine qui est essentielle, mais psychologiquement c' est la montagne. » Nicht nur Ausländer zeigen sich immer wieder erstaunt über die Feststellung, dass nur ein Viertel der Schweizer ihren Wohnsitz höher als 700 m haben und dass von diesem alpinen Viertel der schweizerischen Bevölkerung wiederum nur ein kleiner Teil zu den eigentlichen « Berglern » und « Hirten » gehört. Da nur noch jeder fünfte Schweizer Bauer ist, so kann man höchstens jeden zwanzigsten zu den Bergbauern rechnen. Bekanntlich verschiebt sich das Verhältnis auch weiterhin zuungunsten des bäuerlichen und insbesondere des bergbäuerlichen Bevölkerungsanteils.
14 Die Alpen - 1957 - Les Alpes209 Statistisch und ökonomisch gesehen, ist das « Volk der Hirten » heute eine verschwindende Minderheit geworden. Wie aber ist es mit der « psychologischen Bedeutung » der Bergler und der Berge?
Otto von Greyerz hat gesagt, dass jeder Schweizer, also auch der in den Städten des Tieflandes -und gerade dieser - « einen Jodler im Herzen und ein Paar Bergschuhe im Kasten » habe, was ein Wort von Sainte-Beuve aufnimmt: « Tout vrai Suisse a un ranz éternel ( einen unaufhörlichen Kuhreihen ) au fond du cœur. » Jedenfalls sind in den Städten, fern von den Alpen, die besonders auch im Ausland so beliebten Jodelchörli verbreitet, die, in Kühermutz und Sennenkäppeli auf europäischen Bühnen mit Erfolg auftretend, sich ihre Stars gegenseitig mit günstigen Stellenangeboten abjagen, genau wie in andern « Sportarten »... Nicht nur die Ausländer wollen die Schweizer jodeln hören, sondern auch in der Schweiz selber geht das Bedürfnis nach « volkstümlicher Musik », das in der Kritik am Radioprogramm immer wieder angemeldet wird, zu einem guten Teil auf Jodelvorträge - trotz jugendlicher Jazz-Begeisterung und trotz der Erziehung zu klassischer Musik und besserem Geschmack. Genau so wird uns übrigens schon vom grossen Sängerfest von 1843 berichtet, dass die Appenzeller Jodler « den fühlendsten Kern der eidgenössischen Versammlung getroffen hatten ».
Es ist eine volkspsychologisch bedeutsame und charakteristische Tatsache, über die alle Ge-schmackspädagogik und alle Ironie der Gebildeten gegenüber diesem « Volk der Hirten » nicht hinwegtäuschen kann, dass das Jodeln dem Schweizer und besonders dem nichtalpinen Schweizer ans Herz rührt. Obwohl das Jodeln keineswegs nur in den Alpen und erst recht nicht ausschliesslich in der Schweiz vorkommt, so wird es doch als echt alpin und schweizerisch empfunden, ganz ähnlich wie der Klang des Alphorns, das an sich auch eine viel weitere Verbreitung hat. Gefühlsmässig aber wurde es seit der Romantik zu einem nationalen Symbol, so wie neuerdings das imi-tierte Sennenkäpplein seit dem IV.Pfadfinder-Jamboree in Gödöllö ( Ungarn ) 1933 zu einem international bekannten schweizerischen Abzeichen geworden ist. In den gleichen Gefühlszusammen-hang gehört die Edelweißsymbolik - von Edelweiss am Hut und im Rucksack bis zum Edelweiss am geschnitzten Federhalter und im volkstümlichen Lied oder Film - einem Genre, in dem die Schweiz nur noch von Tirol übertroffen wird.
Man mag das alles als geschmacklos abtun; aber vom ständig wechselnden Standpunkt der zeitgenössischen Ästhetik oder des modischen Geschmacks aus wird man derartigen Erscheinungen nicht gerecht. Man muss sie vielmehr in ihrer volkstümlichen Bedeutung und in ihrem geschichtlichen Zusammenhang betrachten. Dann wird man sie nicht trennen von einer althergebrachten, tiefeingewurzelten und für Eigenart und Bestand der Schweiz sehr bedeutungsvollen Hochschätzung alpiner Landschaft, alpiner Kultur und alpinen Menschentums, vor allem des alpinen Hirtentums, über dessen geschichtliche Bedeutung H. G. Wackernagel 1 einer gegenwärtigen Histo-rikergeneration von neuem die Augen geöffnet hat.
Man vergegenwärtige sich nur die Tatsache, dass die Gestalt des Teil ins Volksbewusstsein eingegangen ist als die des Gemsjägers und Älplers im Hirthemd 2, wie ihn das Telldenkmal Richard Kisslings in Altdorf darstellt - vom heutigen ästhetischen Standpunkt aus zweifelhaft und kostüm-geschichtlich sicher unrichtig; aber das ändert nichts daran, dass man das Urbild des Schweizers eben gerade in dieser Tracht des Urner Älplers sehen will.
1 G. Wackernagel, Die geschichtliche Bedeutung des Hirtentums, in: Altes Volkstum der Schweiz. Gesammelte Schriften zur historischen Volkskunde, Basel 1956, S.30 ff.
* « Hirthemd » bezeichnet übrigens nicht das Kleid des Hirten, sondern das Kleid, in dem man « hirtet », d.h. das Vieh füttert.
Wir brauchen die Bedeutung der Tellensage oder des Tellenmythus für die schweizerische Geschichte und für das schweizerische Bewusstsein hier nicht darzulegen. Bedeutungsvoll ist uns in diesem Zusammenhang nur, dass überall dort, wo man etwas eigenartig Schweizerisches oder etwas allgemein Schweizerisches sucht, dieses die Gestalt des Alpinen annimmt.
Die geistesgeschichtlichen Wurzeln des alpinen Urbildes der Schweiz reichen zwar weiter und tiefer als in die Zeit der Naturromantik Rousseauscher Prägung. Sicher aber sind durch diesen geistesgeschichtlich so wichtigen Impuls die Alpenreisen des 18. Jahrhunderts 1 angeregt worden, welche als Vorstufe des klassischen Alpinismus im 19. Jahrhundert anzusprechen sind. Man suchte die unverdorbene zivilisationsferne « Natur », und wo konnte man diese eher finden als in den menschenfeindlichen, bisher gemiedenen Alpen! Hier glaubte man auch das natürliche, unverdorbene Menschentum in Harmonie mit der grossen Alpennatur zu finden, wie der Dichter Graf Friedrich von Stolberg im Rückblick auf seine Schweizer Reise 1775 schrieb 2: « Ich durchreise noch einmal dieses Land der grossen Natur und der reinen Menschheit. Ich höre den Gotthard rauschen mit hundert Katarakten, sehe die unbestiegnen von ewigem Schnee bedeckten Alpen, besuche die Schlachtfelder, wo eine Hand voll Helden ganze Heere vertilgte, höre in fruchtbaren Tälern das Geläute der Herden, von welchen sich nähren die glücklichsten und besten Menschen, Menschen frei wie die Adler Gottes und einfältig wie die Tauben. » Solche Idealisierung wirkte weiter. Sie fand ihren Niederschlag nicht nur in Schillers Teil ( trotz Goethes realistischen Bedenken ), sondern beispielsweise auch noch im seelenvoll-biedermeierlichen, 1833 von Josef Anton Henne gedichteten Abendlied der Wehrliknaben in Hofwil: « Lueged vo Bergen und Tal... » mit dem Vers: « Chüejerglüt üseri Lust tuet is so wohl i der Brust ». Solche bewusste und idealisierende Interpretation der Kühergefühle ist niemals einem ursprünglichen Älpler in den Sinn gekommen, sondern ist herausgewachsen aus der Distanz städtisch bestimmter Natursehnsucht. Erst durch die Küher- und Sennenlieder, wie sie 1818 J. Kuhn in seinen « Kuhreihen und Volksliedern » veröffentlichte, wurde allmählich auch dem Bergler die poetische Betrachtung von Herdengeläute, Alpenglühen, Edelweiss und Alpenrosen, Jauchzen und Alphornklängen geläufig als eine unrealistische, aber wohltätige Selbstverklärung der eigenen harten Existenz.
Das Alphorn selber mit dem eigenartigen Alphorn-fa ist von J. Rousseau im « Dictionnaire de Musique » ( Paris 1768 ) für die Wissenschaft entdeckt worden. Als romantisches Motiv wurde es in dem Lied « Zu Strassburg auf der Schanz... » durch Clemens Brentano mit dem schweizerischen Söldner und seinem Heimweh in effektvollen Zusammenhang gebracht, und daher hat es seine Gefühlsbedeutung bekommen, die bis heute nachklingt in den volkstümlich gewordenen Attributen alpiner Romantik.
Aber es wäre wie gesagt geschichtlich falsch, die ganze Alpenverehrung auf romantische Ursprünge zurückzuführen, wie es ebenso falsch ist, mit dem sentimentalen und ästhetisch zweifelhaften Niederschlag der Alpenromantik als gesunkenem Kulturgut die ganze Hochschätzung der Berge und des Volkes der Hirten abzutun.
Schon längst vor der Zeit Rousseaus, auch vor Albrecht von Hallers berühmtem Gedicht über « Die Alpen », schreibt 1705 der Zürcher Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer in seinen « Naturgeschichten des Schweizerlandes »: « Es ist der Senn ins gemein ein ehrlicher und aufrichtiger Mann, ja ein Abtruck der alten schweizerischen und redlichen Einfalt, sowohl in seinem Leben 1 R. Weiss, Das Alpenerlebnis in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Horgen-Zürich/Leipzig 1933.
2 R. Weiss, Die Entdeckung der Alpen. Eine Sammlung schweizerischer und deutscher Alpenliteratur bis zum Jahr 1800, Frauenfeld und Leipzig 1934, S.93 ff.
als Thun; bekleidet mit einem rauchen ehrbaren Kittel, beschuhet mit Holzschuhen... gleich den alten Teutschen. » Von hier führt eine wissenschaftliche Tradition der aufmerksamen Beobachtung und der vaterländischen Hochschätzung des alpinen Menschen und der alpinen Urschweiz zurück bis zu den Humanisten. Es wäre vor allem an Gilg Tschudy zu erinnern. Die Landes- und Volksbeschrei-bungen und Kosmographien der Humanisten legten den Grund für das historisch-vaterländische Selbstbewusstsein des Menschen der Neuzeit. Bei ihnen sind auch die Anfänge einer bewussten Verehrung der Alpen und des alpinen Menschen zu suchen.
In der Tat sind und bleiben die Alpen, wie André Siegfried es ausdrückt, psychologisch wichtig. Sie sind nicht nur das geographische, sondern sozusagen das seelische Rückgrat der Schweiz. Dem echten Alpinisten sind die Berge nicht nur Klettergarten und sportlicher Tummelplatz, sondern eine innere Heimat und eine schweizerische Verpflichtung, in die er auch die Bevölkerung der Berge einschliesst. Der alpine Teil als Schöpfer der Freiheit, das in den Bergen eingebettete Rütli als Geburtort der Eidgenossenschaft, der Gedanke des alpinen Réduit als Konzeption einer Landesverteidigung vom Alpenraum aus ( ein Gedanke, der zwar seine strategische Aktualität, nicht aber seine zündende Popularität eingebüsst hat ), das alles sind geistige Kernstücke schweizerischer Existenz, welche ihren Wurzelgrund in der Alpenverehrung haben. Doch dürfen wir davon das « gesunkene Kulturgut » der Alphorn-, Edelweiss- und Jodelromantik, das zum gleichen Gefühls-komplex gehört, nicht völlig trennen. Im Volksbewusstsein weiter Kreise fliesst beides zusammen.
Wenn wir uns somit die grosse psychologische Bedeutung vergegenwärtigen, welche die Alpen und die Alpenbevölkerung bei Alpinisten und Nichtalpinisten noch immer haben, so dürfen wir doch über diesen ideellen Werten die praktische Bedeutung der Alpen und die gegenwärtige Situation der Alpenbevölkerung nicht übersehen. Wir dürfen über der Verklärung, von der Berge und Bergler immer noch erhellt und bestrahlt werden, die reale Existenz des Bergbewohners und zumal des Bergbauern in der Gegenwart nicht vergessen.
Das Idealbild des starken, kühnen, freien und glücklichen Älplers, wie es uns frühere Zeiten überliefert haben, wird durch den im folgenden unternommenen Versuch einer realistischen Betrachtung alpinen Lebens beträchtlich gestört. Man kommt nicht um die Feststellung herum, dass die Alpen auch in der Zeit der Hochkonjunktur ein eigentliches Krisengebiet sind, dass sich der Bergbauer in einer äussern und in einer innern, in einer wirtschaftlichen und in einer seelischen Krise befindet, dass man das Proletariat und die Slums heute nicht mehr in den Städten, sondern in den Bergtälern suchen muss. Nicht nur nach Einkommen und Lebensstandard sind die Bergbauern Proletarier. Das Wort bezeichnet sinngemäss zugleich eine innere Haltung, nämlich die der grundsätzlichen Unzufriedenheit und Bindungslosigkeit. Auch wenn uns dadurch manche Ferien-illusion zerstört wird, müssen wir doch versuchen, die kulturelle Situation der Bergbevölkerung ohne idealisierende Brille zu sehen.
Statistisch ist, wie gesagt, festzustellen, dass die bergbäuerliche Bevölkerung im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung immer mehr abnimmt, dass es sich um einen im Schwinden begriffenen Stand handelt. Man muss dabei scheiden zwischen der vielzitierten « Landflucht » und der « Höhenflucht ». Bei der sogenannten Landflucht handelt es sich zu einem guten Teil um das notwendige Abwandern arbeitstechnisch überflüssiger Bevölkerung zu besseren Verdienstmöglichkeiten; die Intensität der Bearbeitung des bäuerlichen Bodens im schweizerischen Mittelland leidet darunter nicht, im Gegenteil, sie nimmt zu, indem die Betriebe rationalisiert und mechanisiert werden. Anders ist es bei der Höhenflucht. Hier wird in Berggebieten, besonders an der obern Grenze der menschlichen Siedlung, ständig Boden preisgegeben oder nicht mehr so intensiv wie früher bewirtschaftet. Hier geht mit dem absoluten und nicht nur relativen Bevölkerungsverlust auch ein Verlust an Boden und an Ertrag Hand in Hand. Die obere Grenze des produktiven Bodens und auch die der menschlichen Siedlung ist in ständigem Sinken begriffen. Zerfallende Gebäude und abgehende oder schon verlassene Höfe, Weiler und Dörfer gehören zu den charakteristischen Erscheinungen, denen der Alpenwanderer am Rande der Ökumene in abgelegenen oder hochgelegenen Tälern immer wieder begegnet. Auch wenn es sich in manchen Fällen nur um Siedlungskonzentration handelt, d.h. um ein Zurücknehmen von einsamen Einzelhöfen und Weilern in die Hauptsiedlung mit ihren lockenden « zentralen Diensten » ( Schule, Kirche, Verwaltung, Kaufläden, Elektrizitätsversorgung u.a. ), so ist der Substanzverlust doch nicht zu übersehen; ebenso bei Wiesen und Äckern - vergraste oder bewaldete Ackerterrassen im Oberengadin und anderswo im inner- und südalpinen Gebiet sind Zeugen des Rückganges - und besonders bei verlassenen oder nur noch als Schafweide genutzten Kuhalpen, wobei allerdings zum Teil die anspruchsvolleren und schwereren Viehschläge von heute in Betracht gezogen werden müssen als Grund für das Sinken der oberen Weidgrenze.
Die Zeichen des Rückganges sind im bergbäuerlichen Bereich allenthalben deutlich genug, sowohl im Schwund des bewirtschafteten Bodens wie auch im Zerfall von Siedlungen und in der Entvölkerung.
Die aus den Hochtälern und eigentlichen Krisengebieten abwandernde bergbäuerliche Bevölkerung findet grossenteils kein Unterkommen in Industrie und Gewerbe des alpinen Heimatkantons; denn unsere Alpenkantone sind industriell schwach. Das Wallis bildet hier bis zu einem gewissen Grad eine günstige Ausnahme: Erstens konnte es die Anpassung an industrielle Formen der Landwirtschaft vollziehen mit seinen für den Export bestimmten Edelobst-, Frucht- und Gemüsepflanzungen, die, begünstigt durch das Klima, aus der Schwemmebene des breiten Rhonetals da und dort - z.B. mit Erdbeerpfianzungen - bis in die Alpzone der Seitentäler hinaufreichen *.
Die elektrochemische und elektrometallurgische Industrie vermochte im Wallis ähnlich wie in den Tälern der französischen Hochalpen Fuss zu fassen, soweit durchgehende Eisenbahnlinien reichen. Der Arbeiterbauer oder « Rucksackbauer » im Wallis tritt immer mehr in Erscheinung 2. In Graubünden, dem andern grossen inneralpinen Kanton, sind schon aus Verkehrsgründen ( hohe Tarife und Schmalspur der « Rätischen Bahn » ) die Möglichkeiten für die Ansiedlung von Industrien viel ungünstiger. Die industrielle Verwertung der einzigen Rohstoffe, welche in unsern Alpentälern reichlich vorhanden sind, nämlich von Steinen, Holz, Wasser und Luft, hängt überhaupt - vor allem, was Steine und Holz betrifft - von guten Eisenbahnverbindungen ab. Steine werden darum fast nur in den grossen Granitsteinbrüchen an der Gotthardstrecke nutzbar gemacht, und industrielle Holzverarbeitung im grossen geht in Graubünden gerade bis Landquart und Ems, d.h. so weit wie Anschlüsse der Schweizerischen Bundesbahn reichen.
Wirtschaftlich am wichtigsten ist die Wasserkraft; aber ihrer Nutzbarmachung haben sich Schwierigkeiten entgegengestellt, die gerade in den oft an Bergbauern gerühmten Eigenschaften bestehen, nämlich in seinem konservativen Sinn, in seinem Festhalten an der Scholle und in seinem engräumigen föderalistischen Denken. Darin ist zwar neuerdings eine Wandlung eingetreten, indem einerseits die projektierenden Kraftwerkunternehmungen sich der Eigenart der Bevölkerung taktisch angepasst haben, während andrerseits die betroffenen Kantone, Gemeinden und Bodeneigentümer selber mehr und mehr die Vorteile der Kraftwerke für ihre sanierungsbedürftigen Finanzen in Betracht ziehen. Abgesehen von der erwähnten elektrochemischen Industrie und andern 1 K. Suter, Bevölkerungsbewegung und wirtschaftliche Wandlungen im Wallis, Brig 1947.
2 A. Niederer, Das Gemeinwerk im Wallis, Basel 1956.
durch die Kraftgewinnung geförderten Industrien vermögen die Kraftwerke allerdings nach der Bauzeit den Einheimischen wenig dauernde Verdienstmöglichkeiten an Ort und Stelle zu geben. Auch dort, wo kein Kulturland und keine Bauerngüter unter Wasser gesetzt wurden, verändert sich das ganze soziale und geistige Gefüge dieser Täler revolutionär, keineswegs nur im schlechten Sinn, aber doch immer mit den schmerzlichen und unharmonischen Begleitumständen jeder Revolution.
Als vierter Rohstoff- neben Stein, Wasser, Holz - darf die Luft bezeichnet werden, in dem Sinn, dass sie zusammen mit andern natürlichen Gegebenheiten der Berglandschaft eine der wichtigsten nichtbäuerlichen und ortseinheimischen Erwerbsmöglichkeiten begünstigt, nämlich die sogenannte Fremdenindustrie. Sie ist die älteste und wichtigste der alpinen « Industrien », welche dem Bergbauern eine notwendige wirtschaftliche Ergänzung verschafft, zugleich aber auch die harmonische Einheit der Alpenlandschaft und der ursprünglichen alpinen Kultur in zunehmendem Masse stört, ganz ähnlich wie die andern Industrien auch.
Auf die Schattenseiten der Fremdenindustrie ist schon genug hingewiesen worden. Während äussere Einrichtungen, wie Hotels, Bahnen, Skilifts u.a., die Ursprünglichkeit und Eigenart der Landschaft verändern, ist der Kontakt mit den Feriengästen für die innere Einstellung des Berglers bedeutungsvoll. Besonders durch das neuere System des Einlogierens von Fremden in Ferienwohnungen entstehen engere persönliche Beziehungen mit den « Unterländern ». Manches schöne menschliche Verhältnis ergibt sich daraus: zwischen Mittelland und Alpengebiet, zwischen Stadt und Land werden willkommene Brücken geschlagen. Andrerseits beginnen die Bergbewohner auch Vergleiche anzustellen über die Verschiedenheit des Lebensstandards und der Lebensmühsal, wobei sie den Städter nur in den Ferien sehen, während für sie selber in den Sommer die strengste Arbeitszeit fällt.
In der Hotellerie sind die umwälzenden Wirkungen auf die innere und äussere Haltung des Berglers wohl noch grösser. Eine charakteristische Berufsprägung ist die Portiermentalität, d.h. jene zwei Gesichter, zwei Haltungen, zwei Maßstäbe, von denen der eine für den Fremden, der andere für den Hausgebrauch bestimmt ist. Doch diese berufsbedingte Spaltung der Persönlichkeit darf nicht nur negativ bewertet werden, findet man doch gerade unter Hotelangestellten und Kurdirektoren echt bodenständige Leute, bewusste Vertreter lokaler Eigenart, welche eben aus der Berührung mit den Fremden das Eigene im Reden, Brauch und Benehmen besonders erkennen und pflegen.
Man wird die Fremdenindustrie als einen Teil der alpinen Kulturlandschaft zum mindesten als ein notwendiges Übel gelten lassen müssen, so gut wie in ostalpinen Gegenden das Bauerntum sich von alters her auseinanderzusetzen hatte mit dem Bergbau, von dem übrigens schon früh starke kulturelle Anregungen auf die bäuerliche Bevölkerung ausgegangen sind, gerade im Bereich des Volksschauspiels und des Volksliedes. Jede Industrie bedeutet zuerst einen als unharmonisch empfundenen Eingriff in den « Naturzustand ».
In der Schweiz wird man sich hauptsächlich vor Augen halten müssen, dass die Entdeckung der landschaftlichen Schönheit der Alpen und in der Folge ihre industrielle Verwertbarkeit gerade zur rechten Zeit kam, um den Ausfall einer andern zusätzlichen Erwerbsquelle zu ersetzen, nämlich den Menschenexport in Form der militärischen Solddienste bei fremden Mächten. Verglichen mit den moralischen und körperlichen Schäden des militärischen Soldatendienstes - der in der historischen Rückschau ganz unrealistisch verklärt erscheint - sind die Nachteile der Fremdenindustrie gering. Auch bleiben die in der Fremdenindustrie Beschäftigten grossenteils im Lande; sie kehren saisonweise wieder in die Bauernbetriebe zurück.
Die Fremdenindustrie ist, wie schon Hans Bernhard, der verdiente Förderer der Innenkolonisa-tion, festgestellt hat, bei den beschränkten Möglichkeiten anderer Industrien das wichtigste Mittel, um den Bevölkerungsrückgang in den alpinen Gebieten aufzuhalten. Wenn ein Bergkanton wie Graubünden in den letzten 100 Jahren bei dem gewaltigen Anwachsen der Gesamtbevölkerung der Schweiz noch eine schwache Zunahme zu verzeichnen hat, so geht diese ganz auf das Konto der nichtbäuerlichen Bevölkerung. Dem Schwund der bäuerlich gebliebenen hochgelegenen Siedlungen steht das amerikanische Wachstum einiger Fremdenorte gegenüber. So hat Arosa in diesen 100 Jahren seine Wohnbevölkerung um 6000 %, St. Moritz die seine um 1600 % vermehrt. Während vor 100 Jahren noch zwei Drittel der Bewohner Graubündens Bauern waren, sind heute noch ein Drittel der Einwohner dieses relativ industrieannen, bergbäuerlichen Kantons Bauern.
Bedeutungsvoll aber ist, dass diese Minderheit auch wirtschaftlich und politisch immer mehr zurückgedrängt und seelisch erschüttert ist. Die finanzielle Lage des Bergbauern, dessen Jahreseinkommen jeweilen am Thusisner Markt mit den Zuchtviehpreisen bestimmt wird, ist denkbar schlecht, und die Verschuldung in manchen Tälern hoffnungslos - in der Zeit der Hochkonjunktur! Um diesen Gegensatz weiss der Bergbauer, und er empfindet ihn. In seiner Brust kämpft der bäuerliche Stolz mit den Gefühlen der Hoffnungslosigkeit und des Klassenhasses des Proletariers.
Sicher findet man in manchem armen Bergbauern noch etwas vom « pur suveran », vom freien Bauern, dessen Idealbild der Dichter der romanischen Surselva, Anton Huonder ( 1825-1867 ), in die gültige Form gebracht hat:
Quei ei miu grepp, quei ei miu crap, Cheu tschentel jeu miu pei; Artau hai jeu vus da miu bab, Sai a negin marschei.
Das ist mein Fels, das ist mein Stein, Drauf setz ich meinen Fuss; Was mir mein Vater gab, ist mein, Wer fordert Dank und Gruss?
Von der « libra paupradad » der freien Armut des pur suveran flammt hie und da noch ein Funke auf so etwa, wenn ein Sanierungsvorschlag aus Bern abgelehnt wird, weil seine Bedingungen der Würde eines bündnerischen Bauern widersprächen, oder wenn Subventionen für Lawinen-bauten oder Angebote für Wasserkraftausnützung mit dem Stolz des freien Bettlers in den Wind geschlagen werden.
Dass gegenüber den Kraftwerkprojekten eine realistischere Gesinnung um sich zu greifen beginnt, haben wir schon erwähnt. Aber es ist deutlich genug, dass der stolze und oft querköpfige Widerstand heute vielfach von einer gewissen Heimatlosigkeit und Bindungslosigkeit, von den Grundzügen proletarischen Wesens also, abgelöst wird. Es gibt Bergbauern, bei denen das Verharren auf dem heimatlichen Boden nur noch in der Entschlusslosigkeit und in der Resignation seinen Grund hat. Eine dumpfe Verzweiflung oder eine verantwortungslose Gleichgültigkeit legt sich über ganze Ortschaften, die man eigentlich als « kranke Täler » bezeichnen kann.
Das herkömmliche Schlagwort vom Bauerntum und speziell vom Bergbauerntum als Kraft-quell der Nation - im Sinn eines Vorrates an Gesundheit und kraftvollem Bevölkerungsnachwuchs -bedarf einer kritischen Nachprüfung. Es gibt zwar noch relativ kinderreiche Berggebiete, wie etwa das katholische Wallis; aber in den Krisengebieten geht die Geburtenhäufigkeit stark zurück, schon wegen der Überalterung der Bevölkerung, wie sie besonders in den Tessiner Tälern mit starker saisonmässiger oder dauernder Abwanderung auffallend ist, sodann infolge der wirtschaftlichen und psychischen Depression, aber auch aus andern, oft recht komplexen Gründen. So stellte O. Wettstein in seiner « Anthropogeographie des Safientales » 1910 für Safien-Thalkirch im Durchschnitt 1,5 Kinder pro Familie fest, also gerade in einem relativ wohlhabenden Bergtal mit arron-dierten Einzelhöfen einen besonders tiefen Wert, der zweifellos nicht nur aus der alpinen Krise, sondern auch aus erbrechtlichen Gepflogenheiten und konfessionellen Hintergründen ( ähnlich wie bei den ebenfalls protestantischen Emmentaler Hof bauern ) erklärt werden muss. Man darf hier wie sonst die alpinen Verhältnisse nicht schematisieren.
Was aber den Gesundheitszustand betrifft, so zeigen die Ergebnisse bei den Rekrutierungen und ebenso medizinische Untersuchungen in einzelnen Orten und Tälern, sogar in klimatisch sehr begünstigten Lagen wie im Val d' Anniviers, eine Verbreitung von Krankheiten, insbesondere Tuberkulose und Geisteskrankheiten, wie sie in unsern Großstädten längst nicht mehr vorkommt.
Unsere Stadtbevölkerung ist im Gegenteil heute gesund im Vergleich zu derjenigen mancher Bergtäler. Auch die städtischen Umweltsverhältnisse sind in mancher Hinsicht hygienisch besser. In der Stadt kommt es nicht mehr vor, dass ein grosser Teil der Familien, wie im Wallis, in einen Raum zusammengedrängt schlafen, oft in einer Stube mit Ausziehbetten, die zugleich Wohnraum und Schlafraum ist und kaum gelüftet werden kann. Dazu kommt dort, wo die althergebrachte Selbstversorgungswirtschaft zerfällt, eine einseitige und ungesunde Ernährung, in der Früchte und Gemüse von jeher fehlen. Wo das selbstgebackene Schwarzbrot durch weisses Bäckerbrot und die Frischmilch durch ein kaffeeähnliches Getränk ersetzt wurden, da nehmen Mangelkrankheiten überhand. Dass in genauer Beziehung zum Rückgang der eigenen Brotversorgung die Zahnkaries überhandnimmt, ist für das Goms, die oberste Talstufe des Rhonetals, statistisch einwandfrei festgestellt \ In diesem, medizinisch gesehen, recht düsteren Bild vom Gesundheitszustand und von den hygienischen Verhältnissen der Alpenbevölkerung wollen wir doch die seelische Resistenz gegenüber Leiden und Krankheiten nicht unerwähnt lassen. Die ärztliche Betreuung der Bergbevölkerung ist zwar, an modernen Maßstäben gemessen, ungenügend geblieben, wegen schwieriger Verkehrsverhältnisse, wegen der Scheu der Ärzte vor einer Bergpraxis und wegen der Armut und der konservativen Zurückhaltung der Patienten. Aber gerade darum hat sich eine Leidensfähigkeit erhalten, von welcher der ärztlich betreute und überbetreute Stadtmensch keine Ahnung mehr hat. Ich denke an einen älteren alleinstehenden Mann, der sich mit einem durch eine Mistgabel verletzten und völlig vereiterten Bein wochenlang selber « pflegte ». Ich denke an einen wegen Knochentuberkulose mili-tärdienstuntauglichen Jüngling, der einer der Verwegensten und Unentwegtesten war beim Flössen von Holz, das im April geschieht, im eiskalten Schmelzwasser des Wildbaches, in das der Flösser hineinsteigen muss und wieder hinaus in den bissigen Wind, und das den ganzen Tag, ohne einen trockenen Faden am Leib, und zum Wärmen nichts als hie und da einen Schluck Schnaps...
Obwohl wir uns keineswegs aus einer falschen Verherrlichung des Ursprünglichen und Primitiven gegen eine bessere soziale, hygienische und medizinische Betreuung der Bergbevölkerung aussprechen möchten, müssen wir doch feststellen, dass in diesen medizinisch « rückständigen » Gebieten eine Unempfindlichkeit gegenüber Krankheiten und Schmerzen, eine Leidensfähigkeit und Ergebenheit ins Schicksal erhalten geblieben sind, welche unmittelbar an mittelalterliche Bilder gemahnen, auf denen die Gemarterten unter grössten Qualen lächeln, weil ja das Leiden den Men- 1 A. Roos, Die Zahnkaries der Gomser Kinder ( 1930-1935 ), in: Schweizerische Monatsschrift für Zahnheil-kunde 47 ( 1937 ) 329 ff.
sehen zu seiner höheren Bestimmung führt. Es herrscht noch - wenn auch wenig mehr in bewusstem Zusammenhang mit dem christlichen Glauben - eine duldende Einstellung zu Krankheit und Leiden, welche beim modernen Menschen und somit vor allem auch beim städtischen Menschen verdrängt und verloren ist durch das Vertrauen auf Arzt und Wissenschaft, durch den vitalistischen und optimistischen Glauben, dass der Mensch zu irdischer Kraft und Freude bestimmt sei und dass Leiden und Krankheit als ein Irrtum früherer Zeiten durch immer fortschrittlichere medizinische und hygienische Mittel beseitigt werden müssten.
Der Bergbewohner zeigt in der geschilderten Einstellung zu Leiden und Krankheit wie in vielen andern nicht an der Oberfläche liegenden Zügen seiner seelischen Struktur noch die Merkmale einer vergangenen Welt. Das fügt sich ein in das geläufige Bild von der Rückständigkeit und vom konservativen Wesen des Berglers. Aber wir dürfen auch diese geläufige Betrachtungsweise des alpinen Menschen und der alpinen Kultur nicht unbesehen hinnehmen, vor allem sollen wir uns nicht in der Illusion wiegen, dass in den Berglern alles unverändert erhalten bleibe, sozusagen zeitlos unwandelbar sei. Solche Anschauungsweise gehört ebenfalls zu der altherkömmlichen Idealisierung des Berglers als des ursprünglichen und naturhaften Menschen; sie ist dem alpenbegeisterten und zivilisationssatten Touristen und Feriengast, der sich nicht von Schwierigkeiten in seiner Ruhe stören lassen möchte, noch immer bequem und geläufig. Gern sieht er die Alpen als eine Art Nationalmuseum und Erholungsstätte, und die Bergbevölkerung hat dann darin ungefähr die Rolle der letzten Rothäute in den Indianerreservaten der Neuen Welt zu übernehmen.
Wir dürfen die Anschauung von der konservativen Alpenkultur und vom beharrenden Bergler nicht ohne weiteres ablehnen, denn auch vom Standpunkte der Wissenschaft aus scheint vieles für die unveränderliche Altertümlichkeit alpiner Kultur zu sprechen. Die eindrucksvollste wissenschaftliche Dokumentation der archaischen Züge alpiner Sachkultur gibt Leopold Rütimeyer in seiner « Urethnographie der Schweiz » ( Basel 1924 ). Folgen wir ein Stück weit diesem berühmten Werk. « Der leitende Gesichtspunkt dabei war, in diesen durch den ergologischen Konservatismus der Bergbewohner bekannten Gebieten denjenigen im wahrsten Sinne des Wortes bodenständigen Objekten der materiellen Kultur nachzugehen, die in der Gegenwart in raschester Weise und für immer in der Nacht der Vergangenheit verschwinden... », so sagt der Verfasser in der Einleitung. Er beginnt mit dem Brotstempeln, mit Eigentums- und Hauszeichen, mit Kerbhölzern oder sogenannten Tesseln; dabei werden bis in die Gegenwart verwendete Knochentesseln formal entsprechenden paläolithischen oder samojedischen Fundstücken gegenübergestellt ( was von unserm heutigen Standpunkt aus methodisch nicht unbedenklich ist ). Ein weiteres Kapitel betrifft - immer mit Illustrationen und genauen Herkunftsnachweisen der Objekte - die Steinlampen, einfache Gefässe aus Lavez- oder Speckstein, in welchen mit Butter und einem Docht ein Flämmchen unterhalten wird. Eine solche steinerne Butterlampe brennt noch jetzt vor dem Altar der kleinen Kapelle von Weissenried im Lötschental. Früher wurde der grünliche, fettig anzufühlende « Topfstein », wie man ihn auch nennt, noch zu andern Gefässen, insbesondere zu Kochgefässen, sodann auch zu Ofenplatten ( Specksteinöfen im Bündner Oberland, in Uri, im Tessin und im Oberwallis ) verarbeitet. Eine der letzten Werkstätten ist in Hospental noch in Betrieb. Zu den alpinen Steinlampen und Steintöpfen bringt Rütimeyer prähistorische Parallelen bei. Als altertümliche alpine Sachgüter werden sodann Kerzen aus Birkenrinde ( in Tessiner Alphütten ), Messer, Schaber und Scheren ( in der Form der Schafschere ) in Bild und Beschreibung vorgeführt. Es folgt ein Kapitel über Kinderspielzeug, vor allem über die primitiven und volkskünstlerisch interessanten Spielzeugkühe aus Knochen ( die bündnerischen « Beinechüe », mit denen jetzt noch da und dort Kinder spielen ), die in ihrer Form fast ebensosehr abstrahierten Holzkühe aus Aststücken, von denen einzelne unten eine kleine Schub- lade haben mit einem Kalb darin, so dass sie kalbern können wie eine rechte Kuh. Viel Archaisches bietet sodann der aus natürlichen und andern Gründen nicht entwicklungsfähige alpine Getreidebau: mit Dreschstöcken, primitiven Tennen, Garbengestellen ( sogenannten Histen oder « Rascane » in der Leventina oder « Chischnè » im Tavetsch ), mit « Stadeln » oder « Raccards » auf Pfosten und Mäuseplatten - einem der beliebtesten alpinen Photomotive. Es kann geschehen, wie Niederer bezeugt, dass man einen Bauern mit dem primitivsten Dreschgerät, dem Stock, dreschen sieht; aber es ist ein Walliser Arbeiterbauer, der in der Fabrik arbeitet und der darum nicht Zeit und Sorgfalt aufwendet, um einen neuen Dreschflegel zu machen: es handelt sich also nicht um altertümliche Primitivität, sondern um moderne Reprimitivierung. Ein anderer absterbender und darum primitiv oder altertümlich gebliebener Wirtschaftszweig ist die im südalpinen Gebiet heimische Ka-stanienverwertung mit ihren Dörrmethoden und Dörrhäuschen ( « Grà » im Tessin ), mit den Arbeiten und Geräten zum Enthülsen und dem weiteren Verarbeiten der Früchte bis zum Backen des Ka-stanienbreis in Fladenform auf den gegen das Kaminfeuer gewendeten Backplatten, sozusagen eine primitive Vorstufe des Brotbackens, welche sich im Val Bavona bis in die letzten Jahre erhalten hat.Primitive Pflüge, Wagen mit rohen Scheibenrädern und Schleifen bilden eine weitere Sachgruppe, bei der sich besonders gut beobachten liesse, wie altertümliche Transportarten - Tragen, Säumen, Schleifen - in manchen Alpentälern plötzlich, ohne die Zwischenstufe des Wagens, durch moderne Vehikel, vor allem durch den für die Alpen so wichtigen und geeigneten Jeep oder dann - an den granitenen Steilflanken der Gotthardtäler - durch Seilbahnen verdrängt werden.
Unter dem zwiespältigen und unklaren Stichwort « geistige Ergologie » - d.h. Dinge, die mit geistiger Kultur zu tun haben, was man von allen Dingen sagen kann, die der Mensch herstellt oder braucht - führt Rütimeyer die Masken an, die bekannten « Roitschäggeten » ( Rauchgescheckten ) des Lötschentales, die heute leider schon fast zu einem Handelsartikel geworden sind und deren expressionistische Wildheit an sich noch kein Zeichen der Altertümlichkeit zu sein braucht Stumme Zeugen von verschwundenen religiösen und anderen Vorstellungen sind die an verschiedenen Orten von Rütimeyer nachgewiesenen Schalensteine, an die sich noch in der Neuzeit abergläubische Vorstellungen knüpfen können, welche Ausdruck finden in Namen wie « plattas dallas strias » ( Hexen-platten ): so heissen z.B. die Schalensteine bei Boscha im Engadin an dem herrlichen Höhenweg von Guarda nach Ardez.
Viele andere Zeugen sonst verschwundener Vorstellungen oder Verhältnisse wären dem Rüti-meyerschen Bilde hinzuzufügen, etwa die von Stoffel in seinem schönen Buch über « Das Hochtal von Avers » ( 1. Auflage Zofingen 1938 ) zum erstenmal beschriebenen « Seelapalgga », dem Seelenfenster also, einer kleinen, mit einem Pflock oder Brett verschliessbaren Öffnung neben dem normalen Stuben- oder Kammerfenster, welche nur nach dem Abscheiden eines Hausbewohners geöffnet wurde, um die Seele hinauszulassen. Solche Seelenfenster sind seither auch in andern unserer Alpentäler, hauptsächlich Walsertälern, nachgewiesen worden.
Erinnern wir zuletzt noch an die Rechtsaltertümer der Alpen, zuerst an die Alp- und Allmend-korporationen, über deren grösste und politisch wichtigste uns Max Oechslins schönes Buch: « Die Markgenossenschaften der Urschweiz » Auskunft gibt, sodann über die Einrichtung der Gemeinatzung \ wobei zeitweilig im Frühling und Herbst für den Weidgang des Viehs die Grenzen des Privateigentums aufgehoben sind, und schliesslich das Gemeinwerk 2, bei dem jeder Ansässige zur unentgeltlichen Arbeitsleistung im Dienste der Gemeinde oder der Genossenschaft verpflichtet ist.
11. M. Curschellas, die Gemeinatzung, Ilanz 1926. * Niederer, a.a.O.
Das Gemeinwerk ist unter dem Einfluss des geldwirtschaftlichen Denkens in rascher Auflösung begriffen, die Gemeinatzung durch rationellere Landwirtschaftsmethoden und durch die individua-listischere Gesinnung überhaupt verdrängt. Nur die Alpgenossenschaften, bei denen Realteilung des Bodens oder private Bewirtschaftung nicht möglich ist, widerstehen der allmächtigen Tendenz zur Individualisierung und Rationalisierung. Wir haben es sonst fast durchwegs, wie auch Rütimeyer betont, mit rasch verschwindenden Relikten zu tun.
Es wäre nun völlig falsch, aus diesen musealen Bruchstücken und Überbleibseln früherer Epochen ein geschlossenes Bild archaisch-zeitloser Alpenkultur konstruieren zu wollen. Wenn wir die Bedeutung und Bewertung in Betracht ziehen, welche diese Dinge im Kulturganzen und für den heutigen alpinen Menschen haben, so können wir uns nicht darüber wegtäuschen, dass es sich wirklich nur um Fragmente und Relikte handelt, die sich durch besondere Umstände sozusagen zufällig erhalten haben. Kein Bergbauer würde z.B. eine Birkenfackel oder eine Steinlampe brauchen, wenn ihm eine bessere, modernere Beleuchtung zur Verfügung steht, und auch in dem Sakralraum der Kapelle von Weissenried wurde die Steinlampe nur noch bewahrt, weil das kleine Gotteshaus des abseitigen, im Rückgang begriffenen Weilers keine gründliche Renovation erfahren hat.
Eine seltene Ausnahme bilden heute die Bewohner von Furna im Prätigau, welche hinuntersehen auf ein Grosskraftwerk, ohne für sich den Wunsch zu verwirklichen, selber die aus den Bergbächen gewonnene Kraft zu nutzen, ja, wo es sogar Leute gibt, die sagen, sie hätten neue Alpgebäude nötiger als elektrisches Licht, ebenso wie sie im Winter kein Postauto wollen, weil ihnen das den Schlittweg für die Holzfuhren verderben würde.
Sehr selten ist heute solche Bejahung des Einfachen und Althergebrachten, solche bewusst traditionalistische Gesinnung, die dem Neuen ablehnend gegenübertritt und sich wohlfühlt in der altertümlichen Umgebung. Der Bergbauer im allgemeinen empfindet in der Gegenwart seine archaische Umgebung, insbesondere die augenfällige Altertümlichkeit der Sachkultur und überhaupt den nachhinkenden Zivilisationsapparat als einen Zwang und einen Nachteil, so wie er sein von Fremden bewundertes sonnenverbranntes Blockhaus missbilligend als « leidi schwarzi Hütte » bezeichnet. Der Bergbauer fühlt sich benachteiligt im Vergleich zur übrigen Welt. Er weiss, wie man dort lebt, oder glaubt es zu wissen, aus der Flut von Reklame, welche in die hintersten Bergwinkel dringt, vor allem auch aus dem Warenhauskatalog, der in manchem Bergbauernhaushalt zum beliebtesten und oft einzigen Volks- und Kinderbuch geworden ist, welches Bibel, Kalender und Märchenbücher ersetzt.
Auch der Bergbauer blickt gebannt auf die sich ständig drehende Spirale des steigenden Lebensstandards, welcher in der neuesten Zeit zum massgebenden sozialen Schichtungsprinzip geworden ist, indem man die gesellschaftliche Geltung eines Menschen an den Pferdestärken seines Wagens abliest. Gemessen an der Skala des Lebensstandards, an der Frage « How much are you ?», Wieviel verdienen Sie? WievieLsind Sie wertrangiert der Bergbauer zuunterst. Darin ist ihm der städtische Hilfsarbeiter und jeder « Büetzer » bei weitem überlegen. Wenn der Bergler bei seiner Selbsteinschätzung noch hinzunimmt die modische Rückständigkeit und Armseligkeit in der Kleidung, welche besonders bei der jungen Generation im Kontakt mit « den andern » eine bedeutende Rolle spielt, ferner die ungenügenden Ernährungs-, Wohn- und Hygieneverhältnisse, die ihm gerade durch wohlgemeinte und nötige Hilfswerke bewusst gemacht werden, das Fehlen von Wasserleitungen und Aborten, das vor kurzem noch keineswegs als Mangel empfunden wurde wenn er schliesslich an die Unmöglichkeit denkt, bei der dauernden Depression der Viehpreise sein Einkommen zu steigern, trotz aller Arbeit und Mühsal dann kommt er wohl dazu, seine Existenz als proletarisch, als hoffnungslos einzuschätzen, auch ohne dass Krankheit, Elementarschaden und persönliches Unglück ihn noch weiter niederdrücken.
Aus dieser Mutlosigkeit, aus dieser proletarischen Verzweiflung, welche den einstigen hochgemuten Pionier an der Grenze der menschlichen Siedlungsmöglichkeit heute wie ein Bleigewicht abwärts zieht, sieht mancher begreiflicherweise nur den einen Ausweg, die Flucht, die « Höhenflucht », welche notwendigerweise in die Tiefe führt, talwärts, den besseren, d.h. in der Regel den industriellen Erwerbsmöglichkeiten nach. Und es sind im allgemeinen nicht die Schlechtesten, jedenfalls nicht die Untüchtigen, welche dickem Gefälle folgen. Es ist eine tragisch zu nennende Wirkung der sozial und menschlich notwendigen Hilfe für das Bergbauerntum, dass sie die Abwanderung oft eher fördert als bremst, indem durch die Hebung des Lebensstandards, durch Einrichtung von Telefonverbindungen und durch bessere Verkehrsmöglichkeiten, insbesondere durch den Bau von teuren Strassen das Tal und seine Verlockungen nähergebracht werden. Auch die nichtbäuerlichen Nebenerwerbsmöglichkeiten bilden oft nur eine Übergangsphase zur gänzlichen Aufgabe des bäuerlichen Betriebes.
Trotz dieser Einschränkung, ja dieser Gefahr einer entgegengesetzten Wirkung der Bergbauern-hilfe darf man sie, schon aus Gründen der Humanität und des sozialen Friedens, nicht aufgeben. Aber man muss sich bewusst sein, dass es im Grunde nur ein Mittel gäbe, um die Abwanderung aus den bergbäuerlichen Randlagen zu verhindern: Dieses bestände darin, den Bergbauern immun zu machen gegenüber der Verlockung des höheren Lebensstandards - oder, positiv gesprochen, ihm statt dieses unsere Welt beherrschenden Götzen einen höheren Lebenszweck zu zeigen, durch den ihm das Ausharren leicht, ja begehrenswert gemacht würde. Aber wie kann das geschehen?
Das Freiheitsstreben, welches die sogenannten « freien Walser » im Hochmittelalter, sicher im Zusammenhang mit den religiösen Bewegungen jener Zeit, bewog, sich in den bisher unbewohnten « obersten wilden höhinen » anzusiedeln und alle Mühen und Gefahren auf sich zu nehmen, hat heute seine Kraft verloren, ähnlich wie der aus dem Glauben erwachsende Pioniergeist der Pilger-väter in der späteren Erschliessung der neuen Welt anderen Motiven gewichen ist.
Kann man vom durchschnittlichen Menschen unserer Zeit Zivilisationsaskese oder Zivilisations-abstinenz aus religiösen Gründen fordern - fordern von unserm Standpunkt der Begünstigten und Besitzenden ausDie Alpinisten in ihrer Bergflucht - einer Flucht aus dem Tiefland in die Berge -zeigen eine solche Tendenz zur Zivilisationsaskese in den mehr oder weniger unwirtlichen Bergen; der Alpinist ist eine Art Bergmönch, aber eben nur für einige Tage oder Wochen, je nach Belieben; nachher geniesst er um so mehr den schnellen Wagen, das heisse Bad, die frischen Früchte, das weiche Bett... Vielleicht gibt es doch, wenn der Zivilisationsfortschritt im heutigen Masse weitergeht, in Zukunft einmal ein Bedürfnis nach ernsthafter und dauernder Askese, und wenn diese in den Bergen den ihr gemässen Zufluchtsort finden sollte, entstehen auch bei uns Bergklöster wie im Tibet, wer weiss...
Sicher aber ist, dass wir vom heutigen durchschnittlichen Bergbauern nicht verlangen und erreichen können, dass er von der allmächtigen Schwerkraft unserer Zeit, vom Tanz um den höheren Lebensstandard, unbeeinflusst bleibe. Eine solche religiöse Überlegenheit ist nur wenigen vorbehalten, und man wird diese Überlegenen und Bescheidenen da und dort unter den Bergbauern finden, vielleicht sogar etwas häufiger als unter den Reichen der Städte. Man wird jedenfalls bei all diesen Ausnahmemenschen, welche gefeit sind vor der Verlockung der Flucht ins Tal, einen persönlichen Grund finden, entweder den religiös-asketischen oder vielleicht den der Zivilisations- und Menschen-feindschaft aus bitteren Erfahrungen oder seelischen Defekten. Man darf sich nicht wundern, wenn man an den Grenzlagen der menschlichen Kultur nicht den erträumten Idealmenschen und die anderswo vermisste Idylle findet, sondern Leute und Verhältnisse, die vom Schicksal gezeichnet sind. Schliesslich sind auch die letzten und obersten Bäume des Bergwaldes von Schneedruck, Lawinen und Steinschlag verletzt und verkümmert...
Soweit wir also den Bergler als einen durchschnittlichen Menschen unserer Zeit betrachten, werden wir auch zugestehen müssen, dass er den Tendenzen dieser Zeit unterliegt. Höherer Lebensstandard und Zivilisationsfortschritt sind auch für ihn massgebend. Dadurch wird die archaisch gebliebene Sachkultur, die man noch immer als ein Merkmal alpiner Kultur anspricht, für ihn zum Zwang. Sein Verharren darin ist nicht mehr ein von innen heraus bejahender Konservatismus, sondern ein Zwangskonservatismus, und die alpine Kulturretardierung führt zu Stauungserscheinungen, zu einem erzwungenen Verharren im Überlebten, in sogenannten Relikten oder Survivais. In diesem Zustand der Stauung aber droht ein Dammbruch, durch welchen alles Bisherige gewaltsam überschwemmt und beiseite geworfen wird.
Der inneren Krise des alpinen Menschen entspricht also ein kultureller Spannungszustand, in welchem das herkömmliche Gleichgewicht zwischen den Kräften des Beharrens und den Kräften des Fortschritts gestört ist.
Wir dürfen es uns nicht leisten, der alpinen Idylle zu Liebe zu übersehen, dass das für die geschichtliche und die gegenwärtige Schweiz so wichtige Alpengebiet heute in einer schweren Krise und in einer Phase rascher und unübersichtlicher Umwälzungen darinsteht, und dies gerade in dem seinem äusseren Anschein nach bisher besonders konservativ gebliebenen inneralpinen Gebiet.
Aus diesem inneralpinen Gebiet, welchem insbesondere die Kantone Wallis und Graubünden angehören, soll zum Schluss die Krise des alpinen Menschen und der alpinen Kultur durch ein lokales Beispiel illustriert werden.
Dabei muss man sich zuerst den Unterschied zwischen dem nordalpinen und dem inneralpinen Gebiet vor Augen halten. Die klimatisch niederschlagsreichere und für den Ackerbau ungünstigere Nordabdachung der Alpen hat in einer langandauernden Entwicklung, die in Zusammenhang mit der Gründung der Eidgenossenschaft stand, den Getreidebau und damit die Selbstversorgung allmählich aufgegeben. So wurde diese Zone der Alpen zum schweizerischen « Hirtenland », d.h. zu einem Gebiet, in dem die immer stärkere Spezialisierung auf Viehzucht notwendigerweise Handelsbeziehungen über den engen Lokalraum hinaus forderte, so dass sich im Zusammenhang mit der einseitigen Vieh Wirtschaft, mit dem « Hirten tum » der innerschweizerischen Senntenbauern, auch das politische und wirtschaftspolitische Ausgreifen der innerschweizerischen Orte den Handelswegen entlang entwickelte und sich zugleich eine eigentliche « Hirtenkultur » herausbildete mit ihrer geistigen Beweglichkeit und Offenheit, mit ihrem angriffig-kriegerischen Temperament, mit ihren Älplerspielen und den besonderen künstlerischen und musikalischen Äusserungen, die den Hirtenkulturen eigen zu sein pflegen 1.
Das nordalpine Gebiet hat seit dem ausgehenden Mittelalter starke Krisen und Wandlungen durchgemacht, zuletzt u.a. noch durch den Bau der Gotthardbahn, wodurch in der Innerschweiz der traditionellen Form des Viehexportes, dem Welschlandfahren, ein Ende gemacht wurde.
Im Vergleich mit den tiefgreifenden Veränderungen und Erschütterungen wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art bietet das inneralpine Gebiet bis in die neueste Zeit das Bild des Beharrens und der Abgeschlossenheit, sowohl im kulturellen Habitus wie in der Art der Menschen. Die zwischen den beiden grossen Alpenketten eingebetteten Täler lagen zwar zum Teil an den alten Durchgangsstrassen der Alpenpässe; aber sie blieben - mit Ausnahme der Walserkolonien - bis 1 Wackernagel, a.a.O., und J. Wyrsch, Das Volk von Unterwaiden, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 43 3 ff.
in die neueste Zeit wirtschaftlich und zum Teil auch kulturell selbstgenügsam. Diese Autarkie ist gegenwärtig in endgültiger Auflösung begriffen, und dadurch zeigen gerade die konservativsten Täler am stärksten die Zeichen einer raschen und darum oft unharmonischen Wandlung, die an unser Bild vom Dammbruch erinnert.
Zu den altertümlichsten Gebieten Europas, zum mindesten in ihrem äussern Habitus von Siedlung, Wirtschaftsart, Bräuchen und sozialen Einrichtungen, gehören immer noch zwei der südlichsten Seitentäler des Wallis, nämlich das Val d' Hérens ( Eringertal ) und das Val d' Anniviers ( Eifischtal)x. Geographisch und verkehrsmässig sind sie vom Haupttal abgeschieden durch hohe Steilstufen, die zwar durch die moderne Strassentechnik in schwindelerregenden Kehren und Tunnel-durchbrüchen für Postautos, Cars und Lastwagen fahrbar gemacht worden sind, so dass heute dem Verkehr der Fremden und der Einheimischen keine technischen Hindernisse mehr entgegenstehen. Von den grösseren Orten hat nur das 1936 m ü. M. liegende Chandolin - eine der höchsten Dauersiedlungen Europas - noch keine Strassenzufahrt. Trotzdem ist in diesen Tälern besonders viel Eigenartiges erhalten geblieben. Die Absonderung wird verstärkt durch den frankoprovenzalischen Dialekt, der weder Deutschsprachigen noch Französischsprachigen verständlich ist. Die wenigstens im Val d' Hérens noch getragenen Trachten bestehen zum Teil aus selbstgewobenen Stoffen, zu denen die Wolle geliefert wird von einer einheimischen Rasse kleiner, gehörnter Schafe. Ein weiteres Glied in diesem Selbstversorgungskomplex bilden die kleinen, fast schwarzen, gemsenflinken und kampflustigen Kühe, welche nach dem Val d' Hérens als Eringerkühe bezeichnet werden und die dem prähistorischen Torfrind näherstehen als alle andern alpinen Viehrassen. Diese leichten Tiere, welche wegen ihrer Kampftüchtigkeit als Heerkühe auch von Auswärtigen gekauft werden, vermögen in sehr steilen Weiden, am Rande von Gletschern bis auf 3000 m hinauf ihr Futter zu suchen: die Vegetationsgrenze reicht hier im Gebiet der grössten Massenerhebungen der Alpen besonders hoch hinauf, so dass sich in diesem Gebiet auch die höchsten Alphütten und damit die höchsten Temporärsiedlungen befinden ( Alpe de Lona bei Grimentz, 2665 m ü. M. ).
Die Viehwirtschaft in der Form der Alpwirtschaft, welche mit ihrem hochsommerlichen Weidgang immer noch die einzige Nutzungsart der Alpweiden an der oberen Vegetationsgrenze darstellt, ist der erste und wohl unveränderlichste Wirtschaftszweig in der Dreiheit des Autarkiekomplexes dieser Täler. Der zweite, heute sehr erschütterte Pfeiler ist der alpine Getreidebau. Er vollzieht sich auf steilen, kleinen, durch extreme Erbteilung parzellierten und durch Geländeschwierigkeiten zerstückelten Äckern, die bis an die 2000-m-Grenze hinaufreichen ( Findelen-Zermatt sogar auf 2200 m ), auf denen das Getreide vielfach noch mit der Sichel geschnitten und auf dem Rücken oder auf Maultieren in die Pfostenstadel, die « Raccards », gebracht wird, welche wiederum durch Erbteilung unter zahlreiche Eigentümer geteilt sind. Verschiedene mühsame Arbeitsgänge führen so durch die kleine Bauernmühle am Bergbach und den Gemeindebackofen, in welchem in früheren Zeiten nur wenige Male im Jahr gebacken wurde, bis zum fladenförmigen, schweren, dunklen Roggenbrot. Noch bis in die Gegenwart wurde auf diese althergebrachte Weise die Selbstversorgung mit Brot für die meisten Familien gesichert. Trotz des grotesken Missverhältnisses, das für modernes Denken besteht zwischen dem Arbeitsaufwand auf diesen Zwergäckerchen und den Weltmarkt-preisen des Getreides der grossen Produktionsländer mit ihren Getreideüberschüssen, blieb bis unmittelbar an die Gegenwart heran der Getreidebau in den Seitentälern fast ungeschmälert, gestützt 1 W. Gyr, La vie rurale et alpestre du Val d' Anniviers, Zürich 1942. Mit besonderem Interesse erwarten wir vom gleichen Verfasser die umfassende Lokalmonographie, welche nicht nur ein detailliertes Bild des Val d' Anniviers, sondern auch ein bleibendes Dokument einer untergehenden alpinen Lebensform geben wird.
durch den Autarkiekomplex, hinter dem ein Autarkieethos steht, ein tiefeingewurzelter Trieb zur Selbstgenügsamkeit, zur Vorratshaltung, welche in dem Stolz ihren Ausdruck findet, fünfzigjähriges getrocknetes Fleisch und noch älteren Käse im Speicher aufzubewahren und diese sozusagen ungeniessbar gewordenen Speisen bei besonderen Gelegenheiten, so bei Hochzeiten, als Zeichen eines wohlversorgten Hauses aufzutischen.
Die dritte Säule im traditionellen Autarkiekomplex ist der Weinbau, durch den man von Weinbergen, die meist weit entfernt im Haupttal unten liegen, eigenen Wein gewinnt, ebenfalls für reichliche Selbstversorgung genügend; dazu kommt aus den Gemeindereben, die im Gemein werk, unter dem Klang von Trommeln und Pfeifen, bearbeitet werden, der Stoff zu den Burgertrünken und zur willkommenen Umrahmung der Gemeindeabrechnungen. Auch auf den Weinbau, und auf ihn vor allem, hat das traditionalistische Selbstversorgungsethos bis in die jüngste Zeit bewahrend gewirkt. Noch in der letzten Zwischenkriegszeit, in der Zeit der Krise, sagte mir in einem dieser Dörfer der Gemeindepräsident, der zugleich Bergführer war, für ihn und sein Dorf gebe es keine Krise und keinen Weltmarkt; seine Töchter müssten nicht nach Chippisd.h. in die grossen Aluminium-werke im Haupttal unten ). Und in der Tat lieferte in diesem wie in vielen andern Fällen der eigene Betrieb genügend Fleisch, Käse, Butter, Milch, Brot, Schotenfrüchte, Wein und auch Wolle und Leder, dazu aus den Viehverkäufen Geld für Steuern, Versicherungen und anderen « Luxus ».
Angesichts dieses Bildes einer glücklichen Oase der Selbstgenügsamkeit im Wirbel des Welt-marktes und der Krise muss man sich allerdings vergegenwärtigen, um welchen Preis diese Selbstversorgung erkauft war. Es sind hier die jahreszeitlichen Wanderungen zu erwähnen, die mit frei-schweifendem Nomadismus, mit dem man sie oft verglichen hat, gar nichts zu tun haben. Sie sind im Gegenteil eine in festen Geleisen mit zwangsmässiger Regelmässigkeit ablaufende Fron. Man muss sich vorstellen, dass beispielsweise die Bewohner von Chandolin auf 1936 m ihr « Dorf » haben, während die Alpen hinaufreichen auf 2500 m und die Weinberge mit ihren zugehörigen Siedlungen in Muraz bei Siders auf 500 m il. M. liegen, so dass sich das Wirtschaftsareal eines Bauern über 2000 m Höhenunterschied erstreckt. Dazwischen liegen noch, in diesem besonderen Fall tiefer als das Dorf, die Maiensässe Soussillon ( 1387 m ) und Réchy ( 1600 m ). Über all diese Stufen gehen die Wanderungen, teilweise immer noch auf den sehr steilen, im Winter gefährlichen Fusswegen, oft mit schweren Lasten, mit oder ohne Maultiere. Zu bestimmten Jahreszeiten ziehen zu den verschiedenen Arbeiten des Weinbaus, des Getreidebaus und der Viehbesorgung einzelne Personen, Teile der Familie oder die ganze Familie - früher mit Schule und Lehrer - zwischen dem Bergdorf und dem Weinbaudorf hin und her. Das heisst, dass die Familie entweder auseinandergerissen oder auf der Wanderung ist, dass man Wohnungen und Häuser und Ställe und weitere Wirtschaftsgebäude nicht nur im Bergdorf, sondern auch unten in Muraz und in den Maiensässen unterhalten muss. Das ist eine drückende Last; dabei bleiben Wohnungen und Häuser notwendigerweise primitiv und provisorisch. Dieser Zustand ist ebensoweit entfernt von der behaglichen Bodenständigkeit, Geborgenheit und Gepflegtheit des Bauernhauses im Mittelland, wo dasselbe Dach Vieh und Menschen das ganze Jahr hindurch birgt, wie von der schweifenden Freiheit des eigentlichen Hirtennomaden.
Die Anniviarden sind dieser Wanderungen müde. Obwohl der Verkehr mit Lastwagen viel von der alten Mühsal beseitigt hat, geht das Streben nach einem festen und dauernden Wohnsitz, entweder droben im Dorf oder drunten in der Weinbausiedlung; sogar einstige Maiensässe können zu Dauersiedlungen werden. Mit dieser Verfestigung der Siedlung aber bricht der Autarkiekomplex auseinander, und die ganzen Lebensformen ändern sich in kürzester Zeit grundlegend. Das heisst nicht, dass die Veränderungen eine Folge der Wandermüdigkeit dieser Mehrzweckbauern seien, vielmehr ist die heutige Ablehnung der von früheren Generationen klaglos ertragenen Mühsal eine der Begleiterscheinungen der umfassenden geistigen Wandlung, welche in Wechselwirkung mit der wirtschaftlichen Revolution der Neuzeit steht.
« Die Bahn befreite das Wallis vom Zwang der Selbstversorgung » sagt der Wirtschafts- und Kulturgeograph Karl Suter 1. Die Bahn schob sich in den Jahren 1856 bis 1878 von Monthey bis Brig vor, und 1905 war der Simplondurchstich vollendet. Doch dauerte es verhältnismässig lange, bis die Wirkung der grossen Verkehrslinie auch in den Seitentälern im Zerfall des Autarkiekomplexes spürbar wurde. Erst in den letzten Jahren wurden im Val d' Anniviers einzelne Familien durch die feste Ansiedlung im Tal zu Weinbauspezialisten, während diejenigen, welche in den Bergdörfern oben blieben, sich notwendigerweise auf Viehzucht ausrichteten und den Getreidebau zurückgehen liessen oder ihn durch Futterbau ersetzten. Mit den neuen Anbaumethoden und mit der Spezialisierung geht Hand in Hand das geldwirtschaftliche Denken, vor dem auch das unbezahlte und unrationelle Gemeinwerk und die zeitraubenden Wanderungen und manches andere nicht mehr bestehen können. Es ist nicht nur so, dass neue Wirtschaftsmethoden ein neues rechnerisches und individualistisches Denken ausgelöst haben; vielmehr musste das traditionelle geistige Gefüge von innen heraus geschwächt sein, damit es zur Preisgabe der Autarkie kommen konnte.
Von da aus schliesst sich ein ganzer Wirbel von Folgeerscheinungen an. Wer seine Arbeit geld-wirtschaftlich nach Stundenlöhnen einschätzt, leistet nicht nur kein Gemeinwerk mehr, sondern auch andere Gemeinschaftsformen und Gemeindeorganisationen werden für ihn unzweckmässig, unrentabel und überlebt. Individualistisches, unternehmerhaftes Denken setzt sich gerade bei den Begabtesten durch, und diese, soweit sie nicht abwandern, verdrängen oft die alte Gemeindearisto-kratie mit ihren konservativen überlebten Anschauungen und Daseinsbewertungen aus den Dorf-ämtern. In den Augen der meisten haben die Sieger recht. Der Machtkampf, der diesen Bruch der Zeiten begleitet, wird mit der ganzen politischen Leidenschaft geführt, die den Wallisern seit jeher eigen war, und es zeigt sich dabei nicht selten ein plötzliches Umschlagen der Parteifärbung vom konservativsten Schwarz zu grellem Rot und wildem Radikalismus. Derartige Krisenzeichen haben sich im Wallis und in Graubünden in den letzten Jahren gezeigt.
Sie weisen uns noch einmal auf die Hauptsache hin, welche uns hier beschäftigt, dass nämlich die alpine Kultur keine unveränderlich altertümliche Kultur ist, dass sie vielmehr gerade in den Gebieten, welche scheinbar unberührt abseits der grossen Strassen lagen, einem Wirbel der innern und äussern, der menschlichen und der landschaftlichen Veränderung ausgesetzt ist - viel mehr als unsere Städte, welche allmählich die ihnen gemässe Lebensform gefunden zu haben scheinen. Wenn wir weiterhin an dem Idealbild der Harmonie alpinen Daseins festhalten und den Bergbauern als eine Art Musealgegenstand betrachten, so werden wir weder der historischen noch der sozialen, noch der menschlichen Verpflichtung gegenüber der Bergbevölkerung gerecht.
1 A.a.O. S.7.