Abenteurerin, Pionierin und Rekordhalterin
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Abenteurerin, Pionierin und Rekordhalterin Bergsteigerin Ruth Steinmann

Ruth Steinmann, 85, ist eine Pionierin des Schweizer Bergsteigens. 1979 erreichte sie auf dem Weg zum Gipfel des Lhotse eine Höhe von 8250 Metern über Meer – und hielt damit 21 Jahre lang den Höhenrekord der Schweizer Frauen. Sie war in den Bergen dieser Welt zu Hause und hat ihren Ruhesitz in Versam gefunden.

«Wie ich zum Bergsteigen kam?» Nichts hätte einst darauf hingedeutet, dass sie einmal den Höhenrekord der Schweizer Bergsteigerinnen halten würde, erzählt sie in ihrem gemütlichen Refugium, dem ehemaligen Schulhaus im bündnerischen Versam. Und dies obwohl in Engelberg, wo sie aufwuchs, die erfolgreichsten Alpinistinnen damals die internationale Vereinigung bergsteigender Frauen, das «Rendez-vous Hautes Montagnes», gründeten. Ruth Steinmann sollte ihnen später angehören.

Doch in den 1960er-Jahren war die Domäne der Frau noch ganz klar Haus, Heim und Herd. In der jungen Familienfrau Ruth Steinmann nagte jedoch eine Leere. «Ich war damals 27-jährig, hatte drei kleine Kinder und war eigentlich beschäftigt», sagt sie in Früh los, einem Buch von Patricia Purtschert über Bergsteigerinnen. «Aber mir fehlte etwas für mich selbst.» Da kam ihr die Einladung zu einer Bergtour in Marokko in den Hohen Atlas gelegen. Dort lernte sie den Österreicher Erich Vanis kennen, einen «Eisgeher» und Eisspezialisten. Er war eine alpinistische Persönlichkeit und sollte zu ihrem Lehrer und langjährigen Berggefährten werden. Zusammen erkundeten sie die höchsten Gipfel und anspruchsvollsten Eiswände der Welt: Drei Achttausender, mehrere Sieben- und Sechstausender sowie zahlreiche Nordwände gehören zu ihren Erfolgen.

Expeditionen rund um die Welt

«Mein Einstieg war fulminant. Das Bergsteigen faszinierte mich, und ich merkte, wie schnell man Fortschritte erzielen kann, wenn man sich dahinterklemmt. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Und Erich Vanis förderte mich sehr. Dies zu einer Zeit, als viele fanden: Jaja, Frauen …» Nach dem Atlasgebirge sammelte sie erste Fels- und Eiserfahrungen im Bergell, wo sie sich beim Abseilen im dünnen Hemd Verletzungen zuzog. Mit zerschundenen Fingern, einer Abseilbrandwunde an der linken Schulter und einer Virusinfektion am Kinn kehrte sie nach Hause zurück. «Wir seilten damals im Dülfersitz ab – mit dem Seil um den Körper. Die meisten Frauen hätten nach solchen Strapazen wohl die Nase voll gehabt. Doch ich zog meine Lehren aus den Missgeschicken und freute mich auf die nächsten Touren.»

Ihre Bergeslust war geweckt. Sie lernte schnell, und es folgten Expeditionen nach Afghanistan, Pakistan, Mexiko, Grönland, in den Himalaya oder ins Pamirgebirge. Ihr erster Siebentausender war der Koh-e-Urgunt in Afghanistan mit 7038 Metern. Ein Jahr darauf stand sie auf dem Noshaq, dem mit 7500 Metern höchsten Berg Afghanistans. An dessen Flanke erwartete sie ein makabrer Fund: «Mein Blick blieb an einem Lederschuh haften. Wie vom Blitz getroffen blieb ich stehen. Der Schuh steckte an einem Bein, das in graue Kniebundhosen führte. Eine Hand ragte in die kalte Luft. Das Gesicht des Toten war von Sonne, Wind und Kälte braunrot mumifiziert.» Ihr stockte der Atem. Für einen Moment lang wollte sie die Expedition abbrechen und absteigen. Doch dann überwog die Erkenntnis, dass eine Umkehr dem Toten nicht helfen würde. Also entschied sie sich für den weiteren Aufstieg.

«Wie unter einer Wasserwalze»

Es folgten Durchsteigungen von exponierten Fels- und Eiswänden in ganz Europa: darunter die Grossglockner-Nordwand in Österreich, die Grande-Casse-Nordwand in Frankreich und die Ortler-Nordwand in Italien. Ruth Steinmann wurde zur Eiswandspezialistin. Ihre erste grosse Wand war die Tödi-Nordostwand, wo sie von einer Lawine fast fortgefegt worden wäre. «Ich schlug sofort die Spitzen meiner zwölfzackigen Steigeisen mit Wucht in die Wand und verankerte Pickel und Hammer so stark ich konnte im Eis. Und ehe ich wusste wie, überschüttete mich der kalte Schnee. Ich japste nach Luft, fühlte mich wie unter einer Wasserwalze, die mich zu erdrücken drohte und fast erstickte. Mir schien es eine Ewigkeit. Dann endlich war der Spuk zu Ende. Schlaff wie ein Waschlappen hing ich im Seil. Doch bei einem Blick nach oben sah ich die riesigen dort noch hängenden Schneemassen und erkannte die drohende Gefahr … Eine weit heftigere Lawine könnte jederzeit runterdonnern. Urplötzlich war meine Kraft zurück. Und eine halbe Stunde später schüttelten sich sechs zufriedene Bergsteiger auf dem Gipfel die Hände!»

Glücklicherweise verlief ihr Bergsteigerinnenleben nicht immer so gefährlich. Sie liebte insbesondere auch die Genusstouren und Trekkings mit Kameraden. «Zu meinen schönsten Erlebnissen gehörten die Camps, die wir jahrelang in Argentière oberhalb von Chamonix hatten. Bergsteiger aus allen Ländern trafen sich dort zu leichten und schwierigen Touren, und im Lager brannte fast immer, ausser nachts, ein Baumstamm als Lagerfeuer.»

Ihr Mann Paul konnte ihre Freude am Bergsteigen allerdings nicht teilen. Nach der Scheidung gelang es ihr, eine eigene Existenz aufzubauen. «Ich gab Malkurse in verschiedenen Maltechniken, restaurierte alte Möbel und hielt Vorträge über meine alpinistischen Abenteuer.» Als eine der ersten Frauen wagte sie es, selbst Expeditionen und Trekkingreisen auf die Beine zu stellen, vielfach in unbekannte Gegenden, vorwiegend ins Karakorumgebirge und in den Himalaya – damals keine Selbstverständlichkeit in der von Männern dominierten Alpinistenwelt.

«Ein Schönheitsfehler»

1979 folgte die Krönung von Ruth Steinmanns Bergsteigerinnenleben. Mit einer österreichischen Expedition brach sie zum Lhotse auf, zu dem mit 8511 Metern vierthöchsten Achttausender und einem der technisch anspruchsvollsten Berge der Welt. Nur wenige Hundert Meter unterhalb des Gipfels wurde sie fast ausgebremst. Ihr Sherpa und Seilpartner hatte den Schlüssel zum Auswechseln der Sauerstoffflaschen im Lager unten vergessen. Doch die Bergsteigerin gab nicht auf: So schnell wie möglich schloss sie zur oberen Seilschaft auf, um deren Schlüssel auszuleihen. Trotzdem zwangen ein Wetterumschwung und drohende Lawinengefahr die Seilschaft nur 250 Meter unterhalb des Gipfels zur Umkehr. «Dass wir nicht auf den so nahen Gipfel gelangen konnten, war ein Schönheitsfehler. Doch was bringt die gewagteste Ersteigung, wenn man danach das Tal nicht mehr lebend erreicht?»

Ihren ganz persönlichen Bergsteigerinnenolymp hatte sie dennoch erklommen. Als erste Schweizerin – nach den Everest-Besteigerinnen aus Japan, Nepal, Polen und Deutschland – erreichte sie die Höhe von 8250 Metern über Meer und hatte damit über zwei Jahrzehnte lang den Titel «höchste Schweizerin» inne.

Als sie 60 Jahre alt war, hatte das Leben nochmals etwas anderes mit ihr vor. Ein Bandscheibenvorfall zwang sie zur Neuorientierung. Sie bildete sich zur Feldenkrais-Therapeutin aus und behandelte und schulte Menschen. Noch bis vor zwei Jahren stand sie zwei Tage pro Woche in der Praxis. Nun hat sich die tatkräftige Abenteurerin definitiv zur Ruhe gesetzt. Der Rückblick auf alles, was ihr das Leben schenkte, lässt sie staunen: «Es ist mir zugefallen. Dafür danke ich Gott!»

Zum Weiterlesen

​Ruth Steinmann: Abenteurerin zwischen Null und Achttausend, Ringelspitz Verlag, Tamins 1999

Patricia Purtschert: Früh los, im Gespräch mit Bergsteigerinnen über siebzig, hier+jetzt, Zürich 2010

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