Aasfresser mit schlechtem Ruf
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Aasfresser mit schlechtem Ruf Der Bartgeier zwischen Mythos und Realität

Im Volksmund galt der Bartgeier lange als Raubvogel, der Kinder und Jäger packen und sie in den Abgrund herabstürzen lassen konnte.

Die Geschichte des Bartgeiers ist die einer gnadenlosen Jagd, die bis zum Aussterben des Vogels führte. Jahrhundertelang wurde er abgeschossen, gefangen, vergiftet sowie seiner Jungen und seiner Eier beraubt. Abschussprämien förderten seine Dezimierung. Und im 19. Jahrhundert weckte seine zunehmende Seltenheit die Begierde von Sammlern und Jägern.

Aber auch andere Faktoren spielten gegen den Bartgeier: Zentral war die Überjagung des Wildes durch die Menschen, die ihm seine Nahrungsgrundlage entzog; die Ausrottung grosser Raubtiere mit vergifteten Ködern; seine späte Geschlechtsreife; seine niedrige Fortpflanzungsrate und seine natürliche Neugierde. Eine zusätzliche Behinderung stellte die Kleine Eiszeit dar. Sie reduzierte die für den grossen Gleiter notwendigen thermischen Strömungen. Zum Verhängnis wurde dem Greifvogel wohl aber vor allem sein schlechter Ruf.

Opfer der Verleumdung …

Rational lässt sich die Jagd nach dem Aasfresser nur durch die harten Lebensbedingungen unserer Vorfahren in den Alpen erklären. Deren Alltag war von Sorgen und Naturgefahren geprägt. Ihr schwieriges Leben war den Launen des Wetters ausgesetzt, die Heu und Ernten zerstören konnten, sowie Raubtieren, die das Vieh angriffen. Zudem stellten die Raubtiere – wenn auch selten – ein Risiko für die Bewohner selbst dar. Diese «Plagen» trafen die armen Bergbauern hart und nährten in ihnen ein starkes Gefühl der Verletzlichkeit gegenüber den Kräften der Natur. Um ihre Ängste abzubauen, versuchten sie, die Phänomene zu erklären. Auf diese Weise wurden Mythen geboren, bei denen Wildtiere eine wichtige Rolle spielten. Die Menschen teilten sie in zwei Kategorien ein: «nützliche» Tiere und «schädliche» Tiere.

Mit seinem beeindruckenden Aussehen und seiner aussergewöhnlichen Grösse gehörte der Bartgeier in der damaligen Zeit klar zur zweiten Gruppe. Seine Fähigkeit, unvermittelt aufzutauchen, sowie seine Kühnheit, Menschen zu überfliegen und dabei «anzustarren», schüchterten die Bergbauern ein. Der starre, rot umrandete Blick, seine schwarze Maske und sein schwarzer Bart verliehen dem Greifvogel zudem eine strenge Aura. Obwohl der Vogel erwiesenermassen bis zu 90 Prozent der Nahrung über Knochen deckt, glaubten die Menschen noch bis in die 1970er-Jahre, er töte Lämmer. Dies brachte ihm den Namen «Lämmergeier» ein. Kurzum: Man verdächtigte ihn, Vieh zu reissen und gar Bergbewohner anzugreifen.

… oder extrem seltener, pauschalisierter Fälle?

Es gibt alte Dokumente mit detaillierten Beschreibungen mit Daten, Orten, Namen und Zeugen von Angriffen auf Kinder und Jäger. Der bekannteste und weitaus am häufigsten zitierte Fall ist wohl jener vom 2. Juni 1870 im Berner Oberland (M. A. Feierabend, Die Schweizerische Alpenwelt, 1873). Damals sei ein 14-jähriger Junge heftig mit Flügelschlägen, Krallen und Schnabel attackiert und an Schädel, Rücken und Brust schwer verletzt worden. Nach seiner Genesung sei er ins Museum Bern gegangen, wo er unter den einheimischen Greifvögeln seinen Angreifer identifiziert habe: einen erwachsenen Bartgeier. In den alten Dokumenten finden sich auch seltene Erwähnungen von Menschen, die davon berichteten, gesehen zu haben, wie ein Bartgeier ein Tier erschreckt hätte, im Versuch, es zum Absturz zu bringen. Ist es möglich, dass ein solches gelegentliches Verhalten zur Allgemeingültigkeit erklärt worden ist? Das ist schwer zu sagen. Die Berichte über angeblich attackierte Jäger wirken jedenfalls oft übertrieben oder sogar stereotyp. Was die Menschen damals nicht beachteten: Bartgeier haben jagduntaugliche Krallen und sind gar nicht in der Lage, mehr als drei Kilogramm zu tragen. Doch bis dieses und anderes Wissen über den Bartgeier in breiten Bevölkerungsschichten präsent war, mussten Biologen viel Aufklärungsarbeit leisten.

Chronologie eines Verschwindens

Zwischen 1800 und 1900 wurden in der Schweiz mindestens 115 Bartgeier getötet oder gefangen, dies obwohl der Bund 1887 zum Schutz der Art aufgerufen hatte. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts verschwand der Bartgeier zuerst aus dem Appenzell, dann aus St. Gallen und Glarus. Seine letzten Bastionen befanden sich bis 1892 oder sogar 1897 in abgelegenen Gebieten Graubündens und bis 1900 im Wallis. Die letzte Beobachtung einheimischer Vögel in Österreich stammt aus dem Jahr 1906. In Frankreich und Italien, wo die letzten Exemplare 1909 in den Seealpen und 1913 im Aostatal gefangen wurden, konnte der Geier noch etwas länger überdauern.

Gleichwohl wurden in den 1920er-Jahren in Norditalien, in Österreich und sogar in der Schweiz regelmässig Bartgeier beobachtet. Diese Besucher kamen vermutlich aus dem Balkan, aus Korsika oder aus den Pyrenäen, wo etwa 100 Paare verblieben waren. Nach einem ersten Wiederansiedlungsversuch 1974 wurde die Spezies 1986 in Österreich und in Frankreich sowie 1991 in der Schweiz und in Italien Gegenstand eines koordinierten Freisetzungsprogramms, aus dem die aktuellen alpinen Populationen stammen.

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