Zwischen Fels und Familie: ein Leben im Gleichgewicht | Schweizer Alpen-Club SAC
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Zwischen Fels und Familie: ein Leben im Gleichgewicht Begegnung mit Nina Caprez

Im Leben von Nina Caprez dreht sich fast alles ums Klettern. Früher ging es ihr nur um ihre eigene Leistung, inzwischen engagiert sie sich vermehrt in sozialen Projekten. Seit der Geburt ihrer Tochter ist sowieso nochmals alles anders.

Sie sei nicht besonders stark, sagt sie. Sie schaffe keine 100 Klimmzüge wie viele andere. «Vielleicht acht.» Die Frau, die das sagt, ist Nina Caprez, eine der weltbesten Felskletterinnen. «Dafür bin ich mental sehr stark.» Wenn sie in einer Mehrseillängenroute etliche Meter über der letzten fragwürdigen Sicherung stehe, wo ein Sturz fatale Folgen hätte, dann könne sie die Angst ausblenden, sich auf den Moment und den nächsten Kletterzug fokussieren und so klettern, als wäre ein solider Haken vorhanden und sie sicher. «90% des Kletterns findet im Kopf statt», sagt sie.

Aufgewachsen ist Nina Caprez im Rätikon. Mit der Jugendorganisation des SAC ging sie «z Bärg». Zum Sportklettern kommt sie erst mit 17 Jahren, verhältnismässig spät. Es folgen einige Jahre Wettkampfklettern, bis sie sich eingesteht, dass sie nie zu den Besten gehören wird, und es sie langweilt, die Tage in den Kletterhallen zu verbringen. Sie ist lieber am Fels. Die Liste der legendären Routen, die sie klettert, wird immer länger. Beziehungen, die nicht zum Erreichen des nächsten Kletterprojekts beitragen? Zeitverschwendung. Klettern ist ihre Leidenschaft. Eine allerdings, die ihr auch zunehmend mehr Leiden schafft.

Der Wendepunkt

2017 will sie The Nose am El Capitan im Yosemite-Nationalpark in den USA als zweite Frau frei klettern (als erstem Menschen war dies 1993 der Amerikanerin Lynn Hill gelungen). Caprez richtet ihr ganzes Leben auf diese Route aus, trainiert wie eine Besessene. Aus Motivation wird Obsession. Ausgerechnet die Schlüsselseillänge, die sinnigerweise den Namen «Changing Corners» trägt, verlangt ihr alles ab. Ihre Gesundheit leidet, ein Zehennagel fällt aus, sie kann nur noch mit starken Schmerzmitteln klettern, der Magen rebelliert. Dann kommt der Moment, in dem sie sich fragt: «Was mache ich hier eigentlich?» Sie sehnt sich nach Geborgenheit, Zärtlichkeit, einer Beziehung.

Ihr jetziger Partner ist kein Profikletterer, sondern Fotograf. Was früher undenkbar gewesen wäre, empfindet sie heute als Bereicherung. Gemeinsam reisen sie in ihrem Camper nach Rumänien oder Griechenland. Immer mit dabei: eine mobile Kletterwand. Damit besuchen sie Flüchtlingslager, schenken den Leuten dort etwas Abwechslung und Freude und verbinden mit dem Klettern Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion. «An der Wand sind alle gleich», sagt Caprez. Bereits früher war sie mit ClimbAid im Libanon. Diese Erfahrung hat sie geprägt. Sie will nicht mehr nur für sich klettern, sondern damit auch etwas Gutes bewirken. So sollen die nächsten Jahre verlaufen – ein Wechsel zwischen eigenen und sozialen Projekten.

Der Angst ausgeliefert

Es kommt anders: Sie wird unerwartet schwanger. Die anfängliche Bestürzung weicht ihrer positiven Einstellung, die sie bisher immer durchs Leben getragen hat: «Das kriegen wir schon hin.» Es gefällt ihr, zuzuschauen, wie sie sich physisch und mental verändert. «Ich war lange sehr hart zu mir. Wenn du schwanger bist, wird alles an und in dir weich.» Als Tochter Lia geboren wird, folgt der nächste Schock: Herzfehler. Unheilbar. Ein Leben lang seien immer wieder Operationen nötig, sagen die Ärzte.

Bis zur ersten Operation dauert es drei Monate. «Ich hatte noch nie in meinem Leben solche Angst», sagt Nina Caprez. Sie, die die Angst bisher immer kontrollieren konnte, ist ihr auf einmal ausgeliefert. Der starke Kopf, der sie sicher durch die furchteinflössendsten Wände dieser Welt navigiert, ist kein Werkzeug, das hier greift. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlt sie sich machtlos. Und dann, nach der ersten Operation stellt sich heraus, dass die Ärzte falsch lagen, dass es sich um eine Zyste und nicht um einen Herzklappenfehler handelt. Es würden keine weiteren Operationen mehr nötig sein.

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«Ich hatte noch nie in meinem Leben solche Angst.»
Nina Caprez

Mutter und Spitzensportlerin

Ein Jahr nach der Geburt klettert Nina Caprez im Juni 2023 als erste Frau die schwierige Mehrseillängenroute Yeah Man (8b+) in den Gastlosen frei. Das Gedächtnis des Körpers ist gut, er greift auf Gelerntes zurück. «Wenn du willst, kommst du problemlos wieder an den Punkt von vor der Schwangerschaft zurück», sagt sie. Damit möchte sie anderen Spitzensportlerinnen Mut machen: «Eine Sportkarriere ist nicht vorbei, nur dadurch, dass du Mutter wirst.»

Dennoch kommt im Spitzensport der Moment, wo man sich Gedanken über ein Leben danach machen muss. Die 38-Jährige hat eine gute Balance gefunden, wie sie sagt. Klettern sei immer noch sehr wichtig in ihrem Leben, aber nicht mehr das Einzige. Die Gesundheit und das Wohlergehen der Gesellschaft liegen ihr zunehmend am Herzen. «Ich kann mir auch vorstellen, eine Schulkantine zu betreiben, wo es supergesundes Essen gibt.»

Autor / Autorin

Sibyl Heissenbüttel

Nina Caprez in Marokko

Kurz nach diesem Gespräch ist Nina Caprez mit ihrer Familie für drei Monate nach Marokko verreist. Ein paar Tage nach ihrer Ankunft fand das schlimme Erdbeben statt. Seither organisiert sie Hilfslieferungen aus der Schweiz und versorgt Menschen, die alles verloren haben, mit dem Nötigsten.

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