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«Wir haben die Energiewende verschlafen» Freiflächen-Photovoltaikanlagen in den Alpen
In den Schweizer Bergen sollen grosse Freiflächen-Photovoltaikanlagen rasch realisiert werden. Damit steigt der Druck auf die alpine Natur und Landschaft. Der SAC und Landschaftsschutzorganisationen versuchen, zu verhindern, dass die Anlagen in unverbauten Landschaften realisiert werden.
Diesen Herbst hat die Schweizer Energiepolitik eine überraschende Wende genommen. Das Parlament verabschiedete einen dringlichen Bundesbeschluss zur Erhöhung der Winterstromproduktion, der innerhalb weniger Wochen entstanden war. Damit sollen in den Alpen nun unter anderem rasch Freiflächen-Photovoltaikanlagen realisiert werden. Es geht um eine Fläche von mehreren Quadratkilometern.
Der Natur- und Landschaftsschutz wurde mit dem Beschluss geschwächt. «Wir wurden auf dem falschen Fuss erwischt», sagt Raimund Rodewald von der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz. Trotz allem schaut die Landschaftsschutzorganisation nach vorne und will mithelfen, das Ganze in geordnete Bahnen zu lenken. «Wir haben uns bei den Akteuren dafür starkgemacht, dass die Projekte nicht nach dem Prinzip «First come, first served» bewilligt, sondern aufgrund von Kriterien die besten ausgewählt werden», sagt Raimund Rodewald.
Auch der SAC brachte sich in die Debatte ein. «Es braucht eine Positivplanung», sagt Philippe Wäger, Ressortleiter Hütten und Umwelt beim SAC. Projekte in erschlossenen und mit Infrastruktur vorbelasteten Gebieten sollen vorangetrieben werden. Die Raumplanung ist für die Dauer des dringlichen Bundesbeschlusses ausser Kraft, aber Philippe Wäger sieht dennoch einen Ansatz, wie man mit einer überregionalen Planung die geeignetsten Standorte finden könnte: «Alle bis Mitte 2023 eingereichten Projekte werden von einer ausgewogen zusammengesetzten Gruppe nach definierten Kriterien priorisiert», sagt er. Denn es sei wichtig, dass die ersten solchen Anlagen positive Standards setzten. «Sonst droht das gute Image der Photovoltaik nachhaltig Schaden zu nehmen.»
Goldgräberstimmung
Der politische Prozess war auf zwei Walliser Projekte zugeschnitten. Lange waren die beiden Vorhaben bei Gondo und Grengiols die einzigen. Der dringliche Bundesbeschluss hat aber eine Goldgräberstimmung ausgelöst, und immer mehr Pläne in verschiedenen Bergkantonen werden bekannt. Die guten Projekte – aus Sicht des SAC – sind bis dato das Projekt Salaniva neben dem Skigebiet Scuol und das Projekt Nalps beim Stausee Lai da Nalps. In diese Richtung gehen auch die Resultate einer repräsentativen Befragung der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) zum Ausbau der erneuerbaren Energien und zu den damit verbundenen Eingriffen ins Landschaftsbild.
Bereits 2018, nachdem das Schweizer Volk die Energiestrategie 2050 gutgeheissen hatte, wurde die Befragung durchgeführt, und nun erneut nach dem dringlichen Bundesbeschluss im Herbst. «Unberührte Alpenlandschaften sollen laut Meinung der Bevölkerung unberührt bleiben. Das hat sich seit 2018 nicht verändert», sagt Landschaftsforscher Boris Salak von der WSL. Die Coronapandemie, der Ukrainekrieg und die Diskussionen über die Strommangellage hätten die Bevölkerung dennoch zu einem gewissen Umdenken bewogen. Touristisch geprägte Alpenlandschaften würden mittlerweile für den Bau von Energieanlagen gleich geeignet eingestuft wie das Siedlungsgebiet im Mittelland. Sollten dennoch Projekte in unberührten Berglandschaften vorangetrieben werden, sei Widerstand aus der Bevölkerung nicht auszuschliessen. «Bis jetzt wird wenig Rücksicht auf die Meinung der Bevölkerung oder auf ökologische Aspekte genommen, es ist derzeit eine rein ökonomisch-technologische Diskussion», sagt Boris Salak.
Es braucht mehr Tempo
Zu dieser technologischen Diskussion gehört auch, was die Photovoltaik in den Alpen leisten kann. Seit 2017 untersucht Jürg Rohrer, Solarexperte bei der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), Photovoltaik auf der Davoser Totalp auf 2500 Metern über Meer. Über der Nebelgrenze, wo die Schneedecke zusätzlich Sonnenstrahlung reflektiert, lässt sich im Winter drei- bis viermal so viel Strom produzieren wie im Mittelland. Trotz der Effizienz von Photovoltaikanlagen in den Alpen ist das Potenzial für Solarenergie im Flachland immer noch grösser. Allein auf den Dächern könnten realistischerweise 50 Terawattstunden pro Jahr gebaut werden, rechnete die Berner Fachhochschule diesen Sommer aus – für die Energiewende würde das reichen.
Trotzdem brauche es die Freiflächen-Photovoltaikanlagen in den Alpen, sagt Jürg Rohrer. «Wir haben die Energiewende verschlafen und es verpasst, die erneuerbaren Energien auszubauen.» Deshalb sei das Tempo des Ausbaus von Solarflächen nun zentral, und man müsse gleichzeitig auf den Dächern und auf den Freiflächen in den Alpen zubauen. Denn die Ressourcen und die Fachkräfte für den Ausbau auf den Dächern seien begrenzt, der Ausbau auf Freiflächen könne parallel dazu hochgefahren werden.
Dann sind die Energiewende und eine unabhängigere Energieversorgung für die Schweiz ohne Photovoltaikanlagen in den Berge nicht möglich? «Es würde auch ohne sie gehen, eine alternative Möglichkeit wären zum Beispiel Windkraftwerke», sagt Jürg Rohrer. Aber die Windräder haben einen schlechten Ruf und werden stark bekämpft. Ganz aus dem Fokus der Politik sei die Effizienz geraten. Das Einsparpotenzial ist laut Jürg Rohrer zehnmal grösser als der jetzt geplante Zubau bei den Freiflächen-Photovoltaikanlagen in den Alpen. «Dabei geht es nicht um Suffizienz, also nicht darum, dass man zum Beispiel kürzer duschen soll», sagt er. Es wären rein technische Massnahmen, wie der Ersatz von alten Elektrogeräten durch effizientere und der Einsatz von moderneren Elektromotoren. «Ich war noch im Sommer überzeugt, dass die Politik da aufspringen würde», sagt Jürg Rohrer. Doch im Herbst hat die Energiepolitik eine andere Wende genommen.