Schaurig schön | Schweizer Alpen-Club SAC
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Schaurig schön

 

Was tun wir Bergsteiger noch lieber als auf Berge steigen? Richtig: darüber reden. Für uns gibt es nichts Schöneres, als anderen ausführlich von unseren Touren in dünner Alpenluft zu erzählen. Beziehungsweise die Schilderungen so auszuschmücken, dass sie nach echten Abenteuern klingen. Schauriger, als sie in Wirklichkeit wohl waren.  

Zuhörer für unsere Geschichten finden wir überall. Zum Beispiel in den SAC-Hütten. Wenn wir am Nachmittag vor oder nach einer Tour im Aufenthaltsraum an einem langen Tisch sitzen, draussen ein eisiger Wind pfeift und wir drinnen absolut nichts zu tun haben. Dann warten wir wie gefangene Raubtiere darauf, bis endlich 18.30 Uhr ist. Bis das Znacht serviert wird. Diese Wartestunden eignen sich ideal für Geschichten und Erinnerungen.

Da habe ich schon Storys von unerwarteten Wetterumstürzen gehört, von Kälteeinbrüchen und Graupelstürmen: «Kaum erreichten wir den Grat, schlugen uns Windböen mit über 100 Stundenkilometern entgegen. Wir mussten uns mit den Eispickeln festkrallen, um nicht wegzufliegen.» Oder von Verhältnissen mit «null Sicht» und der Orientierung im dicken Nebel nur dank GPS-Kompass. Von Gletscherspalten, die da noch nie so hungrig ausgesehen hätten. Einer hat sich sogar mal auf einem Gipfel einen Zahn ausgebissen, weil seine Schokolade im Rucksack gefroren war. Ein anderer erlitt bei einem Sturz einen Bänderriss, hat aber trotzdem bis zum Ende der Skitourenwoche durchgehalten. 

Felskletterer wiederum erzählten etwa vom «pflotschnassen» Kamin in der elften Seillänge: «Saumässig glitschig und heikel.» Der Überhang in der vierten Seillänge war mit mobilen Geräten nicht vertrauenswürdig abzusichern. Und beim Abseilen verhedderte sich das Seil zweimal. Sie mussten nochmal rauf, obschon durstig, müde und die Unterarme längst gepumpt. Und erst diese Deppen, die auch noch da waren. 

Schilderungen von Gebirgstouren, bei denen ununterbrochen die Sonne schien, kein Wind pfiff und kein Blitz und Donner aufkam, höre ich dagegen selten. Warum eigentlich? Es ist wohl eben nur schön, wenn es schaurig schön ist.

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