Per Velo vom Greyerzerland bis zum Elbrus | Schweizer Alpen-Club SAC
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Per Velo vom Greyerzerland bis zum Elbrus Der Tritt in die Pedale als Lebensrhythmus

Der Elbrus (5643 m) ist der höchste Punkt des Kaukasus, Russlands und Europas. Die Schweizer Hugo Béguin, Vincent Morisetti, Niklas Konrad und Valérian Terraneo nahmen ihn letzten Juni zum Anlass für ein grosses Abenteuer unter Freunden. Sie reisten per Velo von Charmey an, bestiegen den Elbrus zu Fuss und flogen mit dem Gleitschirm zu Tal. Ihre Geschichte.

Erinnern Sie sich, wie Sie als Kind mit dem Velo über die Grenze Ihrer Wohnstrasse hinausfuhren und eine neue Welt entdeckten? An das Gefühl von Freiheit und Abenteuer? Diese Entdeckungslust bleibt uns ein Leben lang erhalten – statt dem Ende der Wohnstrasse geht es jetzt um Weltmeere und Gebirge. Für Hugo, Vincent, Niklas und Valérian ein Anreiz, ihre Velos mit dem Notwendigen zu bepacken: einem Notizbuch, einem Gleitschirm, zwei Garnituren Unterwäsche und einer Hängematte. Ziel ist es, leicht zu reisen und sich an den unendlichen Variationen des Horizonts zu freuen.

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Wie die früher üblichen Masse Zoll und Fuss wird der Tritt in die Pedale zur Masseinheit.

Bei dieser Reise geht es nicht darum, ökologischen Anliegen Ausdruck zu geben, und auch nicht darum, Kilometer zu fressen: Es geht um die Leichtigkeit im Umgang mit Beschränkungen. Wie die früher üblichen Masse Zoll und Fuss wird der Tritt in die Pedale zur Masseinheit und zum Rhythmus. So lässt sich die Welt vermessen: 2 Tage in die Pedale treten und man ist in Mailand, 40 Tage in die Pedale treten und man ist in Lhasa. Unsere innere Landkarte bildet nicht länger einzelne Städte ab; sie hat sich zu einem Kontinuum entwickelt, das mit jedem Kilometer eine neue Gestalt annimmt.

In diesem Sinn und Geist brechen wir am 1. Juni nach Osten auf, zunächst in Begleitung von über einem Dutzend Velofreunden, mit denen wir ein fröhliches Peloton bilden. Nachdem wir uns von ihnen getrennt haben, erreichen wir rasch die bezaubernde Hauptstadt Sloweniens, nicht ohne zuvor die kulinarischen Freuden des italienischen Friauls zu geniessen.

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Keine weiteren Sorgen als das Bett für die Nacht, das Essen und die Weiterreise.

Eines Abends, als wir unter freiem Himmel schlafen, warnt uns Niklas mit dem Ausruf: «Vorsicht, Zecken!» Hugo richtet sich jäh auf: «Die Zwecke! Und ... was ist dein Zweck?» So kommt es zu einer Diskussion über die Werte hinter unserer epischen Reise. Die Antwort von Niklas lässt auf sich warten, bis er seine Füsse in einem Fluss badet: Luxus ohne darauf angewiesen zu sein, keine weiteren Sorgen als das Bett für die Nacht, das Essen und die Weiterreise.

In Belgrad müssen wir allerdings bei einem erzwungenen Kurzaufenthalt die erbrochene Flüssigkeit durch mindestens ebenso viel Wasser ersetzen, da unsere Körper den sanitären Bedingungen nicht standhalten. Dennoch muss es weitergehen, auch wenn sich unsere Mägen auf dem Velo wie geknickte Gartenschläuche anfühlen. Bei 40 Grad Aussentemperatur sorgt allein unser Fahrtwind für einigermassen erträgliche Verhältnisse.

Trotzdem kommen wir rasch voran, so rasch, dass wir unsere Strapazen vom Vortag umgehend vergessen. An einem Morgen erwachen wir in Bulgarien, essen in Griechenland zu Mittag und legen uns am Abend in der Türkei zum Schlafen nieder – unter dem Auge des Nazar boncuk (Amulett, das gegen den bösen Blick schützen soll – Anm. d. Red.).

Auch die Gastfreundschaft ist nicht an Grenzen gebunden. Einladungen zum Übernachten lehnen wir zwar ab, aber Cay, einen Tee, der sozusagen das Nationalgetränk ist und zu jeder sozialen Interaktion gehört, oder Tchacha, einen georgischen Tresterschnaps, nehmen wir gerne an. Eines Abends in Babaeski nimmt jemand Niklas beim Arm, nötigt ihn, sich hinzusetzen, bringt ihm Tee, und plötzlich findet er sich als Hochzeitsgast wieder! Die Schwelle zu Asien erscheint uns wie Konstantinopel auf einem Gemälde von Turner – erhaben und übergross.

Schon sind wir am Ufer des Schwarzen Meers, das uns geradewegs nach Georgien führt. Der Schnaps ersetzt das Brackwasser. Grauer Himmel am Fuss der Dreifaltigkeitskirche. Wir wärmen uns mit dem lokalen Tresterschnaps auf. Anscheinend schreibt der Anstand hier vor, dass weder die Kleider noch der Boden des Glases je trocken sind.

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Wir wärmen uns mit dem lokalen Tresterschnaps auf. Zum Ausnüchtern geht es dann auf den Gipfel des Kasbek.

Zum Ausnüchtern geht es dann auf den Gipfel des Kasbek – 5047 m ü. M. Dann führt uns der Weg zur russischen Grenze und ihren Wachposten. Wir passieren sie unter den begehrlichen Blicken einer Offizierin, die wohl zum ersten Mal Sportler in Velohosen sieht. Plakate fordern zum Eintritt in die Armee auf.

In Terskol, am Fuss des Elbrus, geht plötzlich alles ganz schnell – keine Zeit für Akklimatisierung. Bergführerin Elisabeth instruiert uns kurz und bündig über die Logistik für unsere Rückkehr und die lokalen Rahmenbedingungen. Sie empfiehlt uns, das Seil und einen Teil der Gletscherausrüstung ... bei den Velos zu lassen.

Wir begegnen einigen Bergsteigern in voller Montur, und unsere kleinen Rucksäcke ernten neugierige Blicke. Wieder andere Passanten wundern sich darüber, dass wir die 4000 Meter Höhe lieber erwandern, als die Drahtseilbahn zu nehmen. In einer komfortablen Berghütte legen wir uns zum Schlafen hin, aber unsere beiden russischen Mitbewohner haben sie derart stark geheizt, dass sie sich wie eine stickigen Banja anfühlt.

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Schliesslich stehen wir allein auf dem windumtosten Gipfel, sauerstoffarm, selig und durchgefroren bis ins Mark.

Am nächsten Tag ist um 2 Uhr Tagwacht, wir frühstücken wie gewohnt Kekse und brechen um 3 Uhr auf. Das Grau und Weiss, die Zweifel und eiskalter Tröpfchennebel verbinden sich zu einem undeutlichen, Übelkeit erregenden Gemisch. Einige Stunden später sticht allerdings der Gipfel aus den Wolken hervor und unser Ziel rückt plötzlich in erreichbare Nähe.

Die Lust, das Finale im Sturm zu erobern, ist gross. Gleichzeitig reizt es uns auch, den Anstieg langsam anzugehen und damit das Ende unserer Reise noch etwas hinauszuzögern. Und schliesslich stehen wir allein auf dem windumtosten Gipfel, sauerstoffarm, selig und durchgefroren bis ins Mark. Wir haben es geschafft: Der Traum ist Wirklichkeit. Plötzlich reissen die Wolken auf, wir greifen nach unseren Gleitschirmen und lassen uns ins Leere tragen – für einen Moment steht die Zeit still.

Die epische Reise in Zahlen
Gipfelhöhe: 5643 m ü. M.
Hinreise: 4538 Kilometer per Velo in 21 Tagen
Nahrungsaufnahme: 4000 kcal/Tag
Durchschnittliche Strecke/Tag: 216 Velokilometer
Baklavas: 60; Glacékugeln: etwas weniger
Material: 39 Liter/Person
Anfälle von Erbrechen: 9 plus eine ausgewachsene Vergiftung
Aufstieg: 7 Tage
Reifenpannen: 3 Endgültig verschlissene Reifen: 2
Sturz mit dem Velo: 1
Hundebisse: 0, aber wir sind den Hunden nur knapp entkommen 

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