«Mit jeder Stufe werden die Frauen rarer» | Schweizer Alpen-Club SAC
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«Mit jeder Stufe werden die Frauen rarer» Glaziologin Kathrin Nägeli im Porträt

Glaziologin Kathrin Naegeli ist aus Leidenschaft zu den Bergen Forscherin geworden. Um junge Frauen zu ermutigen, selbst in die Wissenschaft zu gehen und Berge zu besteigen, hat sie «Girls* on Ice» mitgegründet.

Es gibt Menschen, die können gut ohne. Und es gibt Menschen, die lieben es heiss: Schnee und Eis. Kathrin Naegeli gehört definitiv zu Letzteren. Am Schluss ihres Studiums in Physischer Geografie und Glaziologie verbrachte sie ein Semester auf Spitzbergen, um ihre Masterarbeit zu verfassen. «Im blau leuchtenden Innern der arktischen Gletscher hat es mir den Ärmel voll reingezogen», sagt sie.

Als knapp 20-Jährige hatte Kathrin Naegeli ein Zwischenjahr gemacht und war unter anderem in Nepal auf ein Trekking gegangen. Dort habe sie plötzlich gewusst, was sie beruflich machen möchte. «Ich wollte die Prozesse und Dynamiken dieser hochalpinen Welt besser verstehen und möglichst viel Zeit in den Bergen verbringen.»

«Ein nicht ganz triviales Ziel»

Heute arbeitet Kathrin Naegeli an der Universität Zürich als Wissenschaftlerin an der Schnittstelle von zwei Fachgebieten. Sie untersucht, wie man Fernerkundungsdaten, zum Beispiel Satellitenaufnahmen, zur Erforschung der Kryosphäre einsetzen kann. Als Kryosphäre wird der gefrorene Teil der Erdoberfläche bezeichnet. Finanziert werden die Projekte von der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) und dem Schweizerischen Nationalfonds.

In ihrer wissenschaftlichen Karriere sei sie stets ihrer Leidenschaft gefolgt, sagt Kathrin Naegeli. «Ich bin nie davor zurückgeschreckt, mich für eine Weiterbildung oder eine Stelle zu bewerben, die mich interessiert hat, oder dafür einen Umzug in Kauf zu nehmen.» So kam sie in der Welt herum, arbeitete im kanadischen Victoria, in Alaska, in Kirgistan oder in der Arktis. Dass sie heute noch in der Wissenschaft tätig ist, ist aber nicht selbstverständlich. Im Studium sei das Geschlechterverhältnis noch ausgeglichen gewesen. «Mit jeder Stufe innerhalb des universitären Systems werden die Frauen rarer», sagt Kathrin Naegeli. Die oft kurzzeitig befristeten Arbeitsverhältnisse für Forschende biete wenig Sicherheit. Um sich neue Stellen und Finanzierungen zu sichern, müsse man ständig in Bewegung und sichtbar sein. «Viele Frauen entscheiden sich wohl auch deshalb für alternative berufliche Wege», sagt sie.

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«Ich bin nie davor zurückgeschreckt, mich für eine Weiterbildung oder eine Stelle zu bewerben, die mich interessiert hat, oder dafür einen Umzug in Kauf zu nehmen.»
Kathrin Naegeli
Glaziologin und Mitgründerin von «Girls* on Ice»

Kathrin Naegeli hingegen arbeitet auf eine Festanstellung an einer Universität hin: Sie würde gerne als Professorin junge Menschen für die Wissenschaft gewinnen. «Für mich ein nicht ganz triviales Ziel», sagt sie. Es gilt Beruf, Familie und Freizeit zusammen mit ihrem Mann unter einen Hut zu bringen. Sich dabei nur von beruflichen Interessen leiten zu lassen, sei nicht mehr so einfach. Sie erzählt von einem Feldprojekt in Bhutan, das sie zusammen mit anderen Forscherinnen leitet. Ob sie nach Bhutan reisen wird, weiss sie noch nicht.

Das einzige Mädchen in der JO

Aufgewachsen im Kanton Aargau, im «Flachland», wie sie sagt, war sie schon als Kind viel in den Bergen unterwegs. Ihr Vater habe sie zum Wandern und Kraxeln mitgenommen. Als sie über die Schule mit dem Klettern in Kontakt kam, war sie begeistert. Jemand empfahl ihr, sich bei der Jugendorganisation (JO) des SAC zu melden, damit sie mit Gleichaltrigen am Fels klettern kann. «Ich war das einzige Mädchen der Sektion Homberg», sagt sie. Die Zeit hat sie aber in bester Erinnerung: «Ich habe dort meine Passion für die Berge entdeckt.»

Junge Frauen darin zu bestärken, das zu tun, was sie selbst gemacht hat, ist der 37-Jährigen ein wichtiges Anliegen. Zusammen mit anderen Frauen rief sie 2016 in der Schweiz «Girls* on Ice» ins Leben. Das Förderprogramm kommt aus den USA und will junge Frauen für die Wissenschaft, die Kunst und die Entdeckung der Natur begeistern. Seit 2017 führt «Girls* on Ice» jährlich deutsch- und französischsprachige Expeditionen in der Schweiz durch. Junge Frauen zwischen 15 und 17 Jahren verbringen gemeinsam neun Tage auf dem Gletscher. Es werden wissenschaftliche Experimente durchgeführt, die Kreativität gefördert und Berge bestiegen.

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«Bei Messungen auf dem Gletscher ist es von Vorteil, gut Ski fahren zu können und zu wissen, wie man sich anseilt.»
Kathrin Naegeli
Glaziologin und Mitgründerin von «Girls* on Ice»

«Es geht um die Entwicklung von Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen, den Mut, die Führung zu übernehmen und über sich hinauszuwachsen», sagt Kathrin Naegeli. Das gelinge jungen Frauen unter sich oft besser. Die Kombination Bergsteigen und Wissenschaft ist wohl kein Zufall: In beiden Bereichen sind die Frauen unterrepräsentiert; an beiden Orten fühlt sich Kathrin Naegeli zu Hause.

Das frühe Interesse am Bergsport hat nicht nur ihren beruflichen Weg geprägt, sondern ist auch in der Forschung ganz praktisch. Bei Messungen auf dem Gletscher sei es von Vorteil, gut Ski fahren zu können und zu wissen, wie man sich anseilt. Umgekehrt führt ihre Arbeit sie immer wieder dorthin, wo es ihr besonders wohl ist: zu Schnee und Eis.

Autor / Autorin

Anita Bachmann

Inspirierende Frauen

Frauen sind in den Bergen gleichberechtigt unterwegs, präsent und erfolgreich. Und doch sind sie vielerorts in der Minderheit und erleben und sehen die Berge anders. Sechs Begegnungen mit inspirierenden Frauen.

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