© Archiv Hans von Känel, Scharnachtal
«Kann denn da jeder Löli mit?» Hans von Känel ist einer der erfolgreichsten Winter- und Höhenalpinisten der Schweiz
Er stand als erster Schweizer auf den Achttausendern Makalu und Manaslu. Nun hat der 84-jährige Berner Oberländer Hans von Känel seine Lebensgeschichte aufgeschrieben. Sie erzählt vom steinigen Weg eines geschlagenen und gehbehinderten Buben bis auf die höchsten Gipfel der Welt.
«Plötzlich werde ich von heftigen Emotionen erschüttert, weine eine Last weg, die ich selbst während der ganzen Expedition ignorierte, und meine ganze Energie nur einzig und allein für den Lhotse einsetzte.» Es ist Mittag am 8. Mai 1977. Hans von Känel steht auf dem 8516 Meter hohen Lhotse, zusammen mit dem Deutschen Hermann Warth und dem einheimischen Sirdar Urkien; es ist die zweite Besteigung des vierthöchsten Gipfels der Erde. «Nun liess ich Dampf ab. Die hämischen Kommentare von Kunden, die ich im Sportgeschäft Eiselin noch kurz vor der Abreise bei meiner Arbeit öfters wehrlos erdulden musste, kochten in mir hoch!» So steht es in der 181-seitigen Lebensgeschichte, die Hans von Känel, geboren am 21. Dezember 1940, in seinem Haus in Scharnachtal am Eingang ins Kiental in den letzten Jahren aufgeschrieben hat. Als einziger Schweizer ist er eingeladen worden, an der schwäbischen Lhotse-Frühjahrsexpedition 1977 unter der Leitung von Hannelore und Gerhard Schmatz teilzunehmen.
1976 hatte der gelernte Schreiner Hans von Känel eine neue Arbeitsstelle gefunden, im Berg- und Trekkinggeschäft Eiselin in Bern. Der Luzerner Max Eiselin, Organisator der Expedition, der 1960 die Erstbesteigung des Dhaulagiri gelang, hatte von Luzern aus in mehreren Städten der Schweiz eigene Bergsportgeschäfte eröffnet. Von Känel hatte Eiselin 1974 im Rahmen einer Expedition zum Tirich Mir (7708 m) in Pakistan kennengelernt, und der Luzerner war von den Fähigkeiten des Berners am Berg sehr angetan, ebenso das Ehepaar Schmatz. Weniger allerdings andere Alpinisten aus dem eigenen Land. «Ist es wirklich wahr, dass du auf diese Expedition mitgenommen wirst?» Das fragten ihn Kunden im Eiselin-Geschäft. «Muss man denn nicht Bergführer sein, um da mitmachen zu können? Einer fragte mich fast ärgerlich: ‹Kann denn da jeder Löli mit?› Ich musste mich damit abfinden, dass einige sich schwer taten, dass ich ohne Bilderbuchkarriere als normaler Bergsteiger das Privileg erhalten hatte, an der schwäbischen Himalaya Expedition teilnehmen zu können.»
Eine Jugend voller Schläge und Schmerzen
Dabei hatte Hans von Känel längst bewiesen, dass er am Berg Grosses leisten konnte, auch ohne Bergführerpatent. Bergführer wäre er fürs Leben gern geworden, aber das Leben wollte es anders. «Mit 14 Jahren musste ich ein halbes Jahr im Streckbett im Spital liegen. Meine rechte Hüfte war fast total deformiert und nur unter Schmerzen arg beschränkt bewegbar.» Ebenso schlimm waren die Kommentare. Im Spital hörte er Ärzte über seinen Fall sprechen: «Der wird nie mehr richtig gehen können.»
Die Schule beendete Hans von Känel als kleiner, schmächtiger, hinkender Bub. Das änderte sich mit der Arbeit in einem Weingut in Montreux: «Ich war dort in einem Jahr dank gutem gesundem Essen, gutem Wein, guter Luft und der guten Behandlung um 30 cm gewachsen und 1,8 Meter gross, schlank und kräftig geworden.» Wieder zu Hause in Scharnachtal, konnte er sich endlich auch gegen seinen Vater wehren, der ihn immer wieder geschlagen und in dessen Landwirtschaftsbetrieb er körperlich überaus hart hatte mitarbeiten müssen.
Untauglich für den Beruf des Bergführers?
Mit 19 Jahren begann Hans von Känel eine Lehre als Bau- und Möbelschreiner, und kurz darauf fing er mit dem Bergsteigen an. Die Bütlassa (3194 m) hinten im Kiental wurde sein erster Gipfel, solo stand er oben: «Ich wusste es, es wird weiter gehen, ich wollte alles geben, um ein guter Bergsteiger zu werden, selbst auch dann, wenn bei mir ein leichtes Hinken bleiben würde!» Und steil gings weiter, nun am Seil mit Kollegen. Mit 26 Jahren begann er mit der Bergführerausbildung, wurde allerdings zur Prüfung nicht zugelassen, weil er wegen seines Hinkens für dienstuntauglich erklärt worden war. «Einige Jahre später wurde der schikanöse Passus Dienstuntauglichkeit gestrichen. Heute, viele Jahre später, ein kleiner, aber positiver Trost für mich.»
Vom Eiger zum Everest
Eine Art Trost fand Hans von Känel in der Bewältigung schwierigster Touren. Auch eine Hüftoperation im Frühjahr 1968 konnte ihn nicht aufhalten. 1970 durchstieg er mit Hansjürg Müller aus Kien die Lauperroute am Eiger. Mit ihm folgten Wintererstdurchsteigungen von Nordwänden: Fletschhorn (1971), Gspaltenhorn (1972) und Eiger (7. bis 12. Januar 1973); letztere erstmals in einem Zug von ganz von unten, wobei von Känel die obersten 350 Höhenmeter immer vorstieg, weil sein Seilpartner sich bei einem Sturz verletzt hatte. Nach der Gspaltenhorntour wurde von Känel in den extremen Kletterclub «Bergfalken» aufgenommen: «eine sehr grosse Ehre für mich».
Ganz nach oben ging es in den folgenden Jahren. Am 3. August 1974 erreichte Hans von Känel mit seiner damaligen Lebensgefährtin Hanna Müller den Pik Lenin (7134 m). Trotz aufkommendem Schlechtwetter kamen sie heil unten an, worauf Hans von Känel gleich wieder hochstieg, um gestrandete Bergsteiger herunterzubringen. Gipfelerfolg, Rettungseinsatz und offensichtliche Höhentauglichkeit waren sozusagen das Ticket für weitere Expeditionen auf hohe Berge; zudem hatte Hans von Känel am Pik Lenin das Ehepaar Schmatz kennengelernt.
Fast Schlag auf Schlag stieg der «hinkende Löli» ohne Bergführerpatent auf Achttausender, zuerst als einfaches Expeditionsmitglied, dann viermal als Leiter am Berg, immer unfallfrei. Nach dem Lhotse am 10. Mai 1978 der Makalu, am 1. Oktober 1979 der Everest, am 13. Mai 1980 der Dhaulagiri und am 7. Mai 1981 der Manaslu. Am 17. Juli 1999 steht Hans von Känel nochmals auf einem Achttausender, dem Broad Peak, zum vierten Mal mit dem gleich alten Hermann Warth und wie immer am gemeinsamen Seil. «Nur noch wenige Schritte, ich stehe oben! Meine Arme strecken sich zum Himmel und winken mit grossem Glücksgefühl den Kameraden zu. Nun stehen wir ganz oben im beissend kalten Wind, die Worte fehlen.»