«In der Kleinräumigkeit liegt die Eigentümlichkeit der Alpen» Interview mit Architekt Thomas Kissling
Der Klimawandel bringt viel Veränderung mit sich und der Druck auf die Landschaft als Ressource für die Energiegewinnung, die Wasserreserven oder die Biodiversität steigt. Das hat die Professur Günther Vogt am Architekturdepartement der ETH Zürich dazu bewogen, den Alpenraum neu zu denken. Frei von administrativen Grenzen und politischer Profilierung wurden Raumprofile für die Zukunft entworfen.
Herr Kissling, eine Studiengruppe hat unter der Leitung von Günther Vogt und Ihnen die Zukunft der Alpen in der Schweiz skizziert und sie dafür in verschiedene Profile eingeteilt. Wie sind die Reaktionen ausgefallen?
Viele Leute, auch Fachleute, haben sich bei uns gemeldet. Sie haben uns beigepflichtet und weitere Unterlagen bestellt. Organisationen wie Pro Natura oder der SAC waren bei uns, wir haben mit der Uni Bern gesprochen, und der Alpenforscher Werner Bätzing hat sich in die Diskussion eingeschaltet.
Das Herzstück der Studienarbeit ist eine Karte. Warum eine Karte? Nichts wirkt so genau und unverrückbar wie eine Karte.
Wir haben die Karte gewählt, weil wir überzeugt sind, dass man die Profilräume scharf fassen kann. Die Räume lassen sich aufgrund der Topologie, der Morphologie und der Talsituation abbilden. Dass wir die Profile auf einer Karte darstellen, heisst nicht, dass sie absolut sind. Es ist ein Vorschlag, eine Diskussionsgrundlage. Es lädt die Leute dazu ein mitzudiskutieren, weil man die Räume verorten kann, man kann sich orientieren und hat vielleicht eine Meinung zu den Orten.
Das stimmt. Bei vielen Gebieten und Tälern lässt sich ein Aber einwenden. Zum Beispiel bei der riesigen Energielandschaft des Grimselgebiets bis fast zum Grossen Aletschgletscher. Oder warum ist das Lötschental ein Rückzugsgebiet? Ist das Ihr Ernst?
In einem ersten Schritt haben wir basierend auf geografischen Kriterien und bestehenden, aber auch möglichen künftigen Nutzungen analysiert und auf dieser Grundlage die Profilräume ausgeschieden. In der Frage des Lötschentals waren wir in der Gruppe tatsächlich unentschieden. Denn eine Landschaft zeichnet sich nicht nur durch Permafrost, Topografie und Bodenbildungspotenzial aus, sondern auch durch die Architektur, die Infrastruktur, den denkmalpflegerischen und kulturellen Wert. Es gibt viele verschiedene Lesarten einer Landschaft. Im Lötschental gibt es Abwanderung und Überalterung, gleichzeitig aber auch Architektur, eine gelebte Kultur und die Bewirtschaftung der Landschaften. Soll man das erhalten? Soll man es stabilisieren? Soll man sich komplett zurückziehen? Die Studierenden haben mit konkreten Entwürfen versucht, unterschiedliche Vorschläge zu entwickeln. In der näheren Betrachtung hat niemand mehr einen kompletten Rückzug in Betracht gezogen.
Was heisst Rückzug?
Dass sich der Mensch in der Nutzung der Landschaft aus der Fläche zurückzieht. Man gibt Alpweiden auf, und in gewissen Gebieten erfolgt ein aktiver Rückbau von Infrastruktur. Aus der ingenieurtechnischen Sicht gab es bisher primär den Ausbau: Man hat versucht, zu expandieren, zu befestigen, zu erschliessen. Die Wucht der Dynamik aufgrund der Erwärmung wird in Bezug auf alpine Gefahrenzonen neue Massstäbe setzen. Wir brauchen also Ingenieure des Zerfalls, die die beschleunigte Erosion der Berge verstehen und sie zu organisieren vermögen. Wir fragen uns: Kann eine Alpenlandschaft, wenn sie aufgegeben wurde, vergandet ist und historische Kontexte hinter sich gelassen hat, erneut schön werden?
In einem Artikel im «Magazin» wurde die Profilierung der Alpen erstmals vorgestellt. Dort waren auch Berghütten und Alpinismus ein Thema, in Ihren Profilräumen kommt Alpinismus nicht vor. Wo findet der Alpinismus in Zukunft statt?
Alpinismus ist überall möglich, ausser vielleicht in diesen sehr dynamischen Landschaften. Deshalb würde ich auch ein Fragezeichen bei den Biwaks im Gletschervorfeld im Aletschgebiet machen, von denen im Beitrag die Rede war. Aber sonst kann man in allen Profilräumen den Alpinismus weiterdenken. Was bedeutet eine sich verändernde Landschaft, wo der Zugang einfacher oder schwieriger wird? Was bedeutet das fürs Hüttenprogramm? Was ist, wenn nicht mehr der Gletscher im Fokus steht, sondern eine dynamische Erosionslandschaft? Gibt es weiterhin ein touristisches oder ein alpinistisches Potenzial, wenn ich anstelle von Eis Wasser sehe? Diese Neubewertungen der Landschaft muss man vornehmen.
Rund ums Finsteraarhorn mit all den Viertausendern ist eine riesige Energielandschaft vorgesehen. Für den Alpinismus wäre das kaum attraktiv.
Die Profile haben einen Nutzungsprimus, der andere Nutzungen nicht ausschliesst, sondern integral mitdenkt. Das wäre eine interessante Fragestellung: Wie würde sich eine Wasserkraftlandschaft mit einer hochalpinen Tourenlandschaft vereinen lassen? Sind zum Beispiel SAC-Hütten in den Staumauern möglich?
Warum braucht es denn diese Profile?
Es geht darum, maximale Diversität zu schaffen. In der Kleinräumigkeit, die sich durch Unterschiedlichkeit auszeichnet, liegt die ursprüngliche Eigentümlichkeit des alpinen Raums. Mit der Urbanisierung des Alpenraums schreitet die Angleichung der Lebensgewohnheiten des Mittellandes voran. Ob ich in Zermatt oder Andermatt bin, ist mehr oder weniger das Gleiche. Das ist eine grosse Gefahr: Der alpine Raum zeichnet sich durch Differenz und nicht durch Homogenisierung aus.
Der Top-down-Ansatz, bei dem man sagt, diese Region ist jetzt eine Energielandschaft, dieses Tal eine Sömmerungsweide und jenes ein Rückzugsgebiet, funktioniert in der Schweiz aber nicht.
Mit der Kritik, dass wir eine zentralistische Perspektive einnehmen würden, wurden wir konfrontiert. An einer Tagung meinte gar jemand, er fühle sich in die Zeit Napoleons zurückversetzt. Wir haben versucht, einen Vorschlag zu machen, der als Diskussionsgrundlage dienen soll. Wir sind überzeugt, dass es eine koordinierte Planung braucht. Die gibt es bisher nur in Ansätzen. Etwa der runde Tisch von alt Bundesrätin Simonetta Sommaruga, wo man versucht hat, das prioritär noch ausbaubare Wasserkraftpotenzial national zu identifizieren. Allerdings war der relativ eindimensional auf die Wasserkraft fokussiert. Man sollte die Fragen viel mehrdimensionaler und multiskalarer behandeln, als sie in der aktuellen politischen Debatte in Bezug auf die Energiefragen diskutiert werden.
Der Bedarf an Strom ist gross.
Wenn jeder die Maximalforderung in den Raum stellt, ist die Diskussion blockiert. Für das Gornerli hat ein Student einen interessanten, redimensionierten Vorschlag präsentiert. Mit einer relativ kleinen Intervention könnte ein Teil des Wasserkraftpotenzials genutzt werden. Gleichzeitig würde es eine sogenannte Naturlandschaft mit einer touristischen Nutzung bleiben. Wir glauben, dass der Prozess in vielen Fragen wahnsinnig überstürzt passiert. Bräuchte es nicht ein Innehalten? Wir müssen uns darüber unterhalten, und zwar mit allen Beteiligten, was man wo nützen möchte und was man eben nicht nützen will. Darauf wollen wir aufmerksam machen.