«Ich zwänge nie etwas durch» | Schweizer Alpen-Club SAC
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«Ich zwänge nie etwas durch» Extrembergsteiger Dani Arnold über Heimat, Wetteifer und Free Solo

Der Urner Dani Arnold trifft seine Entscheidungen rational und emotional. So hat er viele Geschwindigkeitsrekorde aufgestellt und ist zu einem der besten Extrembergsteiger geworden. Trotzdem sagt er: «Ich hänge nicht an alten Sachen.»

Dani Arnold, sind Sie der beste Extrembergsteiger der Schweiz?

Dani Arnold: Ich klettere, weil ich es gern tue. Es ist meine Leidenschaft und mittlerweile mein Beruf, mit dem ich einen Teil meines Einkommens verdiene. Ich habe nicht den Anspruch, der Beste zu sein.

Sie haben zwischen 2011 und 2021 in den sechs grossen Nordwänden der Alpen Geschwindigkeitsrekorde aufgestellt, zuletzt am Petit Dru in Frankreich. Richtig bekannt wurden aber vor allem Ihre Rekorde am Eiger und am Matterhorn.

Es ist richtig, dass die bekanntesten Berge nicht zwingend auch die schwierigsten sind. In der Szene wurden meine Touren an den Grandes Jorasses, der Grossen Zinne und dem Pizzo Badile wohl wahrgenommen, aber der breiten Öffentlichkeit sagt das wenig. Der bald erscheinende Netflix-Film könnte das allerdings ändern. 

In Facing North wird die Rivalität zwischen Ihnen und dem verstorbenen Ueli Steck hochgespielt. Wie war Ihr Verhältnis zu ihm?

Wir haben uns gegenseitig respektiert. Ueli hat das Extrembergsteigen in der Schweiz salonfähig gemacht, die mediale Resonanz war enorm. Davon konnte ich profitieren, dafür bin ihm dankbar.

Das hört sich nüchtern an.

Ueli war ein Alphatier. Und ich bin es auch. Unsere Meinungen gingen auseinander. Mir bedeuten die klassischen Routen und die Geschichte dahinter viel, Ueli war das nie wichtig. Es ist kein Geheimnis, dass wir keine Freunde waren. Aber das spielt auch keine Rolle. Wichtig ist doch, dass wir unsere Leistungen gegenseitig geschätzt und gewürdigt haben.

Er hat Ihren Rekord an der Eiger-Nordwand 2015 um sechs Minuten unterboten. Klettern Sie dort bald wieder?  

Ich hänge nicht an alten Sachen und kehre nicht an einen Ort zurück, nur um einen Rekord zu brechen. Dafür gibt es zu viele andere Berge und Gebiete, die mich interessieren. Es ist ja letzten Endes nicht nur die Besteigung einer Wand, sondern das ganze Projekt, das mir Freude macht. Manchmal habe ich eine Idee. Diese Idee schwirrt dann jahrelang in meinem Kopf herum, bis ich schliesslich inspiriert bin und sie umsetze.

Ziehen Sie ein Vorhaben immer durch?

Nein. Ich breche es ab, wenn es für mich nicht stimmt.

Sie brechen einfach ab?

Es liegt mir nicht, etwas durchzuzwängen. Das ist nicht der richtige Ansatz. Sehen Sie, die Vorbereitung eines Projektes besteht aus tausend kleinen Puzzleteilen. Ich versuche jeweils, alle Teile zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Selbst wenn mir das nicht gelingt und mir am Ende ein paar Teile fehlen, kann es sein, dass ich trotzdem klettere. Andersrum kommt es vor, dass faktisch alles stimmt und ich trotzdem ein schlechtes Bauchgefühl habe. Dann lasse ich es bleiben.

Sie entscheiden emotional?

Rational und emotional. Ich finde es unverzichtbar, dass man auf seine Gefühle hört. Wenn ich morgens schon den Kaffee verschütte oder über eine Türschwelle stolpere, dann bin ich ganz offensichtlich nicht bei der Sache. Soll ich dann am gleichen Tag zum Eisklettern gehen? Ich höre auf solche Zeichen, genauso wie ich auf mein Bauchgefühl höre. Dieses Gefühl kommt ja nicht irgendwoher, es ist die wertvolle Ansammlung von Erlebnissen und Gefühlen, die ich abgespeichert habe. Es wäre schade, wenn ich davon nicht profitieren würde.

Was gibt den Ausschlag, ob Sie free solo, also allein und ungesichert, oder am Seil klettern?

Einen Ort vorab kennenzulernen, ist ein wichtiger Teil des Projektes. Oft fahre ich zur Felswand und beobachte sie den ganzen Tag von der gegenüberliegenden Seite aus. Es ist wesentlich, dass ich ein Gespür für die Wand bekomme. Ich schaue, ob sich Steine lösen und wie sich die Temperaturen auswirken. Den Petit Dru im Mont-Blanc-Massiv beispielsweise wäre ich 2021 sehr gern free solo geklettert. Aber am gleichen Morgen sah ich diese glitzernden Stellen zwischen den Steinen. Es war bloss Wasser, also aufgetautes Eis. Aber was, wenn das Wasser an gewissen Stellen nicht aufgetaut ist und ich es nicht merke? Es war zu gefährlich, und ich habe mich für die Sicherung entschieden. Sich einer Sache fast sicher zu sein, reicht nicht für Free Solo.

Was ist der Reiz an Free Solo?

Free Solo hat etwas Grundehrliches, weil man weiss, dass man sich keinen Fehler erlauben kann. Es ist unmöglich, sich etwas vorzugaukeln. Eine Aktion, die nicht sitzt, hat direkte Konsequenzen. Auch gesichert zu klettern, macht Spass, keine Frage. Aber im Wissen, dass das Seil einen auffangen würde, klettert man anders und wagt unbewusst mehr. Free Solo hingegen ist die gradlinige Auseinandersetzung mit einem selbst. Es gibt kein stärkeres Gefühl beim Klettern.

Sie sind vor gut zwei Jahren Vater geworden. Wie geht die Familie mit der Extremsportart um? Hat Ihre Frau Angst, wenn Sie weg sind?

Natürlich nimmt mein Beruf eine zentrale Rolle ein in der Familie. Wir reden auch über die Gefahren und machen uns Gedanken im Sinne von: Was wäre, wenn …?  Aber die Angst dominiert unser Familienleben nicht. Meine Frau Denise unterstützt mich und weiss, wie viel Leidenschaft hinter allem steckt und wie viel Freude mir das Klettern macht. Wir sind schon lange zusammen und kennen die Faszination der Berge beide gut.

Sie sind in Biel ob Bürglen aufgewachsen, mitten in der Urner Natur auf 1720 Metern. Wie stark hat die Abgeschiedenheit Ihr Leben beeinflusst?

Sicher wäre ich ein anderer, wenn ich in der Stadt gross geworden wäre. Mein Vater war Wildhüter, einer meiner beiden Brüder ist heute Jäger. Dort oben ist es still, es gibt nicht viel. Als Kinder fuhren wir jeden Tag mit der Seilbahn zur Schule nach Bürglen, und als Teenager hätte ich mir manchmal gewünscht, abends in Altdorf mit meinen Freunden ausgehen zu dürfen, statt die letzte Seilbahn um 19.30 Uhr nehmen zu müssen, vor allem an den Wochenenden. Aber die Natur, der Wald und die nahen Berge haben mir so viel gegeben, dass es absurd wäre, Vor- und Nachteile gegeneinander aufzuwiegen. Ich liebe das Eis vielleicht auch deswegen, weil mir der Ort die Möglichkeit gab, im Winter die gefrorenen Bäche neben unserem Haus mit dem Pickel hochzuklettern. Die Liebe zum Eis ist bis heute geblieben.

Sind Sie auch mal verreist?

Selten. Mit 18 Jahren habe ich zum ersten Mal das Meer gesehen. Ich fuhr mit meinen Freunden zum Klettern nach Finale Ligure in Italien. Mein Pass war abgelaufen, und wir hatten Probleme an der Grenze (lacht). Ich wusste ja nicht einmal, dass man einen Pass verlängern muss. Jedenfalls hatte das Meer eine starke Wirkung auf mich. Wenn ich dort schwimmen gehe, halte ich mich immer in der Nähe des Ufers auf, weil mich die Naturkraft so beeindruckt. Ich kann mir vorstellen, wie es Leuten ergeht, die zum ersten Mal in den Bergen sind. Das muss ein ähnliches Gefühl sein.

Haben Sie als junger Kletterer wildere Sachen gemacht?

Als letzten Herbst der Südtiroler Jonas Hainz mit 25 Jahren tödlich verunglückte, musste ich an meine jungen Jahre denken. Ja, wahrscheinlich bin auch ich andere Risiken eingegangen damals. Und trotzdem stünde ich heute nicht dort, wo ich bin, wenn ich immer vernünftig entschieden hätte. Die jungen Jahre sind gut, man ist neugierig, man lernt viel.

Wer hat Sie am meisten geprägt?

Der deutsche Profikletterer Alex Huber aus Bayern.

Er ist 16 Jahre älter als Sie. Was hat er Ihnen beigebracht?

Einiges. Aber es geht nicht einzig darum, was ich von ihm gelernt habe. Alex hatte eine Gabe, einen ganz besonderen Umgang. Er hat an mich geglaubt und mir das Gefühl gegeben, dass ich dazugehöre und etwas erreichen kann. Nachdem ich 2016 am Torre Trieste die Route Carlesso/Sandri (Anm. d. Red.: 8+) geklettert war, hat sich Alex bei mir gemeldet und gesagt: «Hut ab!» Wow. Das war für mich wie ein Ritterschlag.

Und jetzt sind Sie selbst Protagonist eines Films des weltweit grössten Streamingdienstes. Wie viele Monate haben die Arbeiten für Facing North gedauert?

Das war eine grosse Sache. Einmal ist die Filmcrew frühmorgens beim Biwak am Petit Dru aufgetaucht. Das war toll, weil eben keine Szene gestellt ist. Ich habe mich zwischendurch auch selbst gefilmt und meine Gedanken zum Ausdruck gebracht – etwa im Zelt vor dem Schlafengehen. Die Arbeiten dauerten insgesamt zweieinhalb Jahre.

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