«Ich vertraue auch der Blechdose» | Schweizer Alpen-Club SAC
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«Ich vertraue auch der Blechdose» Schlagzeuger Julian Sartorius: Mann der tausend Klänge

Julian Sartorius sucht überall nach neuen Klängen, in der Blechdose am Wegrand ebenso wie in Bäumen. In seinem letzten Projekt stieg der professionelle Schlagzeuger von Domodossola auf den Weissmies und hat dabei alles, was ihm unter die Schlagzeugstöcke kam, klanglich untersucht.


Würde Julian Sartorius Mineralien sammeln, dann wäre sein Rucksack sehr schwer. Doch er sammelt zum Glück Klänge, und die haben kein Gewicht. In der Stadt, im Wald, in den Bergen sucht er nach Materialien, die interessant klingen. Mit dabei sind immer ein Aufnahmegerät und Schlagzeugstöcke, denen man ansieht, dass sie häufig gebraucht werden. «Oft hat man eine Erwartung, wie ein Objekt tönt», sagt Sartorius und trommelt auf den Holztisch, an dem er sitzt. «Das eine Brett hier ist weniger stark festgeschraubt und klingt anders. Hörst du?» Bum, bumbum, bum. Aber erst dadurch, dass man draufschlage, finde man heraus, ob diese Erwartung stimme. Das sei ja bei vielem so. «Beim Käse klopft man auch auf den Laib, um etwas über seinen Reifegrad zu erfahren.»

Das Schlagzeug präparieren

Julian Sartorius trommelt, seit er auf der Welt ist. Die meisten Kleinkinder stecken sich die Gegenstände in den Mund, um sie zu erkunden. Julian trommelte darauf. Die Mutter öffnete manchmal den untersten Küchenschrank für ihn. Töpfe und Deckel auf Körperhöhe des Zweijährigen. Irgendwann schenkte ihm die Grossmutter ein Klavier in der Hoffnung, dass er mit dem Getrommel aufhört. Doch nichts und niemand konnte ihn von seiner Leidenschaft abbringen. Es folgten Jazzschule, bekannte Bands, internationale Anerkennung.

Aber die Lust, sich weiterzuentwickeln und Neues zu erfahren, hielt an. Er begann, das Schlagzeug zu präparieren, Gegenstände auf die Drums zu legen und ihnen damit andere Töne zu entlocken: ein Kaninchenfell, ein Eisenplättchen, ein Stück Holz. «Ich versuchte, diese scheinbar allgemeingültige Regel zu durchbrechen, dass man ein Instrument auf eine bestimmte Art und Weise zu gebrauchen hat.» Irgendwann wurde die Neugierde grösser, auch abseits des Schlagzeugs nach Klängen zu suchen. Er ging mit seinen Schlagzeugstöcken nach draussen: Strassenschilder, Bäume, Kuhzäune, alles Mögliche wurde klanglich untersucht. Eine weitere, schier unendliche Welt tat sich vor ihm auf.
Nachdem er für sein Album «Hidden Tracks: Basel–Genève» von Basel nach Genf durch den Jura gewandert war – der Weg als Instrument –, erreichte diese Lust am Erforschen der Klänge bald eine weitere Stufe. Er wollte herausfinden, wie sich die Klangmaterialien mit zunehmender Höhe verändern, und eine möglichst grosse Höhendifferenz in der nahen Umgebung zurücklegen: Sartorius ist im Sommer 2022 in fünf Tagen von Domodossola auf 272 Meter über Meer über den Passo di Pontimia ins Zwischbergental und weiter auf den Weissmies auf 4017 Meter über Meer gestiegen. Irgendwann verschwinden die Bäume, dann die Sträucher. Grasbüschel machen Fels und Eis Platz. Es wird stiller, es gibt kaum noch Umgebungsgeräusche. Der Weg wird zum Schlagzeug. «Frischer Schnee tönt hell und zischt. Schiefer klirrt, da er auseinanderbricht, wenn man draufschlägt.» Ebenso Eiszapfen. «Mein Lieblingsmaterial auf der Weissmiesbesteigung», sagt er und strahlt.

Der Blechdose vertrauen

Es brauchte Zeit und Erfahrung, um das Vertrauen in diese neuen Klangmaterialien aufzubauen. Dieser Prozess dauerte lange. Sein ganzes Leben lang hörte Sartorius: Du brauchst eine gute Trommel, teure Instrumente, um schöne Klänge zu erzeugen. Das sass tief. Einer sagte ihm, er nähme das Schlagzeug nicht mehr ernst. Es dauerte mehrere Jahre, bis er die eigenen Glaubenssätze komplett aufgeben konnte und den Materialien, die er draussen bespielte, den gleichen musikalischen Wert zuschrieb wie dem Schlagzeug. «Wenn es gut tönt, vertraue ich auch der Blechdose am Strassenrand.»

Es gebe keine besseren oder schlechteren Materialien, aber solche mit mehr und solche mit weniger Möglichkeiten. «Metall erzeugt je nach Form viel Resonanz, Holz manchmal weniger, Steine meist kaum welche», sagt Sartorius. Es gehe darum, die eigene Vorstellung zurückzustellen und nicht dem Material die eigene aufzuzwingen. «Mich interessieren die Klänge an sich, aber für mich ist auch wichtig, sie in einen rhythmischen Kontext zu setzen und damit Musikstücke und Rhythmen zu kreieren.»

Die Töne und Rhythmen für das neue Album spielte er alle zu einem gleichen Grundtempo ein. Diese synchronisierte er anschliessend am Computer und baute sie wie übereinandergelegte Legosteine zu Musiktracks zusammen. Entstanden ist sein Album «Hidden Tracks: Domodossola–Weissmies».

Herausforderung: auf dem Gipfel Ruhe finden

Was war die grösste Herausforderung auf der Weissmiesbesteigung? «Ruhe zu finden auf dem Gipfel.» Andere Bergsteiger und ein starker Wind störten seine Aufnahmen. Der Bergführer, der ihn begleitete, liess ihn daraufhin am Seil gesichert und mit seinen Schlagzeugstöcken ausgestattet in die Nordflanke runter. Dort konnte er ungestört trommeln und aufnehmen: Klänge von frisch gefallenem Schnee.
«Für mich steht das klangliche und musikalische Erlebnis im Zentrum.» Dadurch hinterlässt Sartorius bei den Leuten, die seine Rhythmen hören, einen bleibenden Eindruck. Auch bei seinen Konzert-Klangspaziergängen führt er das Publikum durch Stadtviertel, Brachen und Wälder. Es kommen Rückmeldungen von Leuten, dass sie seither anders auf ihre Umgebung hören, ihr Hörsinn geschärft sei. Das freut ihn. «Wenn wir die Wahrnehmung schärfen, rücken wir auch näher an die Welt heran.»

Das Album «Hidden Tracks: Domodossola–Weissmies» erscheint am 15. März 2024:
juliansartorius.bandcamp.com/album/hidden-tracks-domodossola-weissmies (QR-Code)


Autor / Autorin

Sibyl Heissenbüttel

Musikerkarriere mit Disziplin

Julian Sartorius strebte früh eine Musikerkarriere an. Seine Eltern unterstützten ihn darin, stellten jedoch die Bedingung, dass er zur Sicherheit erst eine Ausbildung macht. Er wählte eine der kürzesten: eine zweijährige Lehre als Tonträgerverkäufer im Krompholz. «Es war perfekt. Ich hörte mich jeden Vormittag, wenn keine Kunden im Laden waren, durch die CDs.» So häufte er sich ein grosses Musikwissen an. Das war in den 1990er-Jahren. Den Beruf, den Sartorius zur «Sicherheit» gelernt hatte, gibt es schon lange nicht mehr. Von seiner Lehre aber nahm er etwas mit, dem neue Technologien und Digitalisierung nichts anhaben können: Disziplin. «Ich habe mein Üben immer als seriöse Arbeit angesehen», sagt er. Am morgen früh in den Proberaum, üben bis am Mittag, Essenspause, weiter üben bis Feierabend. Tag für Tag.

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