«Ich musste meinem Rollstuhl einen Sinn geben, um ihn zu akzeptieren» | Schweizer Alpen-Club SAC
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

«Ich musste meinem Rollstuhl einen Sinn geben, um ihn zu akzeptieren» Begegnung mit Nicole Niquille

1986 wurde Nicole Niquille als erste Frau der Schweiz Bergführerin. Acht Jahre später war sie querschnittgelähmt. Sie änderte ihr Leben, um weiterhin so nah wie möglich bei den Bergen zu leben. Ihre engagierten Projekte führten sie bis nach Nepal.

«Ich nutze die Gelegenheit hier, um zu sagen, dass ich gerne eine Hütte übernehmen würde». Trotz ihren 67 Jahren und fast 30 Jahren im Rollstuhl ist das ihr voller Ernst. «Es macht mir nichts aus, wenn ich zu Beginn der Saison mit dem Helikopter hochfliegen muss. Ich möchte als Hüttenwartin arbeiten», erklärt sie lächelnd, aber entschlossen in ihrem hellen Wohnzimmer am Rand von Charmey.

Ganz egal, ob es sich um Herausforderungen handelt, die sie selbst wählt oder die ihr auferlegt werden: Die Fähigkeit der Freiburgerin, Schwierigkeiten zu meistern, ist beeindruckend. 1986 war sie die erste Frau der Schweiz, die das Bergführerdiplom erwarb, obwohl sie zehn zuvor Jahre bei einem Motorradunfall beinahe ihr linkes Bein verloren hatte. «Die Ärzte rieten mir, Sport zu treiben.» Dank ihrer Zwillingsschwester Françoise entdeckte sie das Klettern. Es wurde schnell zu ihrer Leidenschaft, und inspiriert durch ihren damaligen Freund, den Bergführer und Alpinisten Erhard Loretan, nahm sie 1984 die Ausbildung zur Bergführerin in Angriff. «Es gab kein feministisches Motiv, ich wollte einfach in den Bergen leben», sagt sie. Diese Pionierleistung hat ihren Wert erst mit der Zeit gewonnen. «Heute freut es mich, dass ich anderen den Weg geebnet habe.»

Projekte geben ihr Kraft

Nicole Niquilles Karriere als Bergführerin endet jedoch abrupt acht Jahre später, als sie an einem Sonntagabend im Mai 1994 beim Pilzesammeln von einem walnussgrossen Stein am Kopf getroffen wird. Sie wacht im Krankenhaus auf und ist querschnittgelähmt. Es stellen sich ihr viele neue Herausforderungen. 21 Monate verbringt sie in einer Rehabilitationsklinik und muss alles neu erlernen, vom Sprechen bis zu den Bewegungen der Finger und Glieder. Geduldig arbeitet sie daran, motiviert von einem Satz, den sie sich bei jeder Schwierigkeit wiederholt: «Das ist interessant, wie löse ich das?»

Trotz aller Anstrengungen gelingt es ihr nicht, wieder zu gehen. «Ich musste etwas mit meinem Rollstuhl machen, ihm einen Sinn geben, um ihn zu akzeptieren». Sie kauft ein Bergrestaurant und macht das Wirtepatent. Ihr Rollstuhl hindert sie daran, als Bergführerin zu arbeiten, aber nicht, Gäste zu bedienen. 1997 eröffnet sie «Chez Nicole» am Ufer des Lac de Taney auf 1408 Metern Höhe. Für die junge Vierzigjährige beginnt ein neues Kapitel, am Fuss der Berge statt auf den Gipfeln.

«Man akzeptiert die Behinderung nie, aber man muss mit ihr leben», sagt sie. Die Berge stellen für Nicole Niquille eine unerschöpfliche Quelle der Widerstandsfähigkeit dar. «In den Bergen habe ich die Freude an der Anstrengung entdeckt und die Erkenntnis gewonnen, dass nichts damit erreicht ist, wenn man auf einem Gipfel steht.» Kraft schöpft sie auch aus ihren Projekten. «Ein Projekt ist eine leuchtende Aussicht, das ist für mich zentral. Ich habe immer Projekte verfolgt, auch vor dem Unfall», sagt sie. Unter anderem hat sie eine Kletterschule gegründet und eine Outdoor-Bekleidungslinie namens «Création Chouette» lanciert.

Ein Spital für Nepal

Ihr grösstes Projekt nimmt 2003 am Ufer des Lac de Taney seinen Anfang. Einer ihrer Küchenhilfen, ein nepalesischer Sherpa, erzählt ihr und ihrem Mann Marco von seiner Schwester Pasang Lhamu Sherpa. Sie war im April 1993 die erste Nepalesin auf dem Gipfel des Mount Everest, doch beim Abstieg verlor sie ihr Leben. Die junge Frau hatte für das Recht von Frauen gekämpft, die höchsten Berge zu besteigen. Gerührt beschliessen Nicole und Marco, sich zu engagieren. Die Freiburgerin gründet eine Stiftung und investiert 100 000 Franken ihres Invaliditätskapitals in den Bau eines Spitals in Lukla, dem Ausgangspunkt für Touren zum Mount Everest. 2005 nimmt das Spital die ersten Patienten auf.

Heute funktioniert das Pasang Lhamu & Nicole Niquille Hospital immer noch mit Geldern aus der Schweiz, die die ehemalige Bergführerin sammelt. «Wir brauchen jährlich 450 000 Franken. Das ist nicht viel für den Betrieb eines Spitals, aber diesen Betrag muss man erst einmal zusammenbekommen». Dabei erweist sich ihr Rollstuhl als nützlich. «Die Menschen berührt es, dass jemand im Rollstuhl sitzt und sich um andere kümmert.»

«
«Wenn ich in der Nacht friere und die Decke nicht hochziehen kann, denke ich an die Nächte im luftigen Zelt am K2.»
Nicole Niquille

Nur jeden zweiten Tag

Jedes Jahr reist Nicole Niquille einmal nach Nepal und begleitet dort Trekkingtouren, manchmal zu Pferd, manchmal mithilfe von Trägern. Ihre Liebe zu den Bergen ist ungebrochen, und sie nutzt jede Gelegenheit, um ihrer Leidenschaft nachzugehen. Die Besteigung des Breithorns im Jahr 2022 mit der Unterstützung einer Seilschaft von Frauen brachte ihre Augen zum Leuchten. In schwierigen Momenten hilft ihr auch die Erinnerung an ihre Expedition mit Erhard Loretan zum K2 im Jahr 1985. «Wenn ich in der Nacht friere und die Decke nicht hochziehen kann, denke ich an die Nächte im luftigen Zelt am K2», sagt sie und lächelt. «Oder wenn ich mich einer Computertomografie unterziehen muss, sage ich mir, dass es im Vergleich zum Basislager wenigstens nicht kalt ist.»

Die erste Bergführerin der Schweiz bedauert nichts. «Damit lebt man nicht gut». Gewiss, ohne den Unfall hätte sie «ein anderes Leben geführt und es das Spital in Lukla würde es nicht geben». Sie ist dankbar für alles, das sie gelernt hat. Zum Beispiel, dass es manchmal eine grössere Leistung ist, oben auf einer Treppe anzukommen, als einen Gipfel zu erreichen. «Es gibt kein Glück oder Unglück im Leben, nur Menschen mit unterschiedlichen Lebensgeschichten», sagt sie. Wenn man ihr anbieten würde, ihre Beine wieder gebrauchen zu können, würde sie dies nur für jeden zweiten Tag annehmen. «So würde ich es wirklich schätzen und wüsste genau, was ich an dem Tag tue, an dem ich gehen kann.»

Kein Zweifel: Der Aufstieg zu einer Hütte, die von Nicole Niquille bewartet wäre, hätte eine ganz neue Bedeutung.

Inspirierende Frauen

Frauen sind in den Bergen gleichberechtigt unterwegs, präsent und erfolgreich. Und doch sind sie vielerorts in der Minderheit und erleben und sehen die Berge anders. Sechs Begegnungen mit inspirierenden Frauen.

Feedback