© Maria Schmid Fotografie
«Ich bin eher sparsam – für die schlechten Zeiten» Interview mit Sängerin Sina
Im beschaulichen Lötschental geboren, wurde die Sängerin Sina 1994 mit einem Schlag berühmt. Ihr Erfolg über die letzten 30 Jahre hat viel mit Zugänglichkeit und Agilität zu tun. Ein Gespräch über katholische Bräuche, Selbstverantwortung und das Liedertexten in den Bergen.
Sina, Sie haben für das Treffen das Dorf Meisterschwanden am aargauischen Hallwilersee vorgeschlagen. Warum gerade hier?
Ich lebe mit meinem Mann seit 18 Jahren am Hallwilersee. Die Gegend ist traumhaft. Das Wasser, die Wälder, die Aussicht auf die Berge …
Vermissen Sie Ihre Heimat nicht?
Das Wallis nicht zu vermissen, ist schwierig (lacht). Im Lötschental sind meine Wurzeln, das ist ganz tief verankert. Wenn ich für ein paar Tage dorthin zurückkehre, spüre ich eine Geborgenheit und Vertrautheit. Es ist wie eine sanfte Umarmung, ein Heimkommen an einen wichtigen Ort.
Haben Sie in Erinnerung, wie es früher war im Lötschental?
Ich sehe mich als Kind mit meinem Vater wandern, Cervelats braten in einer Waldlichtung, eine Kerze anzünden für die Toten in der Kapelle in Kühmatt. Es waren andere Zeiten, nicht zu vergleichen mit dem Lötschental von heute. Ich bin in einer Welt mit alten Traditionen aufgewachsen, in einem Katholizismus samt konservativen Konventionen. Wenn früher ein Angehöriger starb, trugen unsere Tanten und Grossmütter oft ein Jahr lang Schwarz, so verlangte es der Brauch. Offene Freude zeigen, tanzen gehen war ein No-Go. Man kann es sich ja ausdenken: Viele Frauen trugen infolge der höheren Sterblichkeit zu der Zeit irgendwann nur noch Schwarz.
Und dann wurden Sie ausgerechnet mit einem Lied bekannt, das die Geschichte eines Mädchens erzählt, das sich in den Sohn des Pfarrers verliebt.
Där Sohn vom Pfarrär war 1994, da hatte ich schon zehn Jahre Musik gemacht. Natürlich war das eine skandalöse Sache für das Oberwallis. Die Radiostationen weigerten sich, das Lied zu spielen. Aber ich, nein alle wussten, dass es in den Bergdörfern nicht anders war als anderswo, dass es Pfarrerssöhne gab, dass darüber aber natürlich niemand sprach. Der Mundarttext zum Original von Dusty Springfield passte zu mir.
Das hört sich rebellisch an. Zugleich war es Ihr musikalischer Durchbruch in einer von Männern dominierten Branche.
Dieses Album sah ich als letzte Chance. Wäre der Erfolg ausgeblieben, hätte ich mir eine Stelle als Bankfachfrau gesucht. Sich als Frau durchzusetzen, war nicht einfach, was vor allem den festgefahrenen Mechanismen der Szene geschuldet war und zum Teil immer noch ist. Ich vermute, dass wir uns noch ein paar Generationen damit auseinandersetzen müssen. Im Alpinismus war das ja lange Zeit nicht anders. Umso grösser ist mein Respekt vor Frauen wie der Extrembergsteigerin Evelyne Binsack oder der Engländerin Lucy Walker, die vor über 150 Jahren als erste Frau das Matterhorn bestiegen hat. Was die sich wohl alles anhören musste! Dass sie sich trotz dem Widerstand durchsetzen konnte, ist aussergewöhnlich.
Sehen Sie sich auch als Vorreiterin?
Das ist vielleicht etwas hochgegriffen. Aber einige Mädchen und junge Frauen, die sich für Musik interessieren, scheine ich zu inspirieren, was mich sehr freut. Ich bin mir aber auch bewusst, dass ich mit meinen Liedern eine Verantwortung trage. Gleichzeitig spüre ich Dankbarkeit. Einzelne Fans berichteten mir, dass ein Song ihr Leben veränderte, weil der Textinhalt eine wichtige Entscheidung in ihrem Leben herbeiführte. Das Gewicht des Wortes ist immens und fasziniert mich seit je. Es ist wie beim Bergsteigen: Man versucht als Künstlerin, neue Wege zu gehen und sich selbst herauszufordern. Andererseits muss jeder Schritt bedacht sein.
Besteigen Sie selbst Berge?
Nein. Aber ich wandere liebend gern. Eine meiner Lieblingsrouten ist der Lötschentaler Höhenweg von der Lauchernalp zur Fafleralp bis nach Blatten. Dort oben ist es magisch. Ich mag das Gefühl dieser aufkommenden Demut, die einen ganz klein werden lässt, wenn man zu den Viertausendern hochblickt.
Ist das Ihr Rückzugsort?
Auch. Aber ich verbinde meine Zeit in den Bergen auch mit meiner Arbeit.
Wie muss man sich das vorstellen? Sie singen beim Wandern?
Manchmal. Für die kreativen Prozesse brauche ich vor allem Ruhe. Die Texte meiner Lieder schreibe ich oft im Wallis. Dort kommen mir die besten Ideen, weil mich nichts und niemand ablenkt. Inspiration entsteht oft aus Langeweile. Für die akribische Arbeit, die Kompositionen, fehlt mir dort aber das technische Equipment. Das mache ich zu Hause und im Studio.
Fällt Ihnen immer etwas ein?
Natürlich gibt es Tage, an denen die Inspiration fehlt. Aber es ist ein erfüllender Teil meines Berufes, kreativ zu sein. Da ist viel Neugierde und Antrieb, mich zu entwickeln und neue Ansätze zu finden, um nicht an Ort zu treten. Das liegt wohl in meiner Natur. Schon als Teenager wollte ich die Welt sehen und wissen, was auf der anderen Seite der Berge passiert. Ein einziges Mal sind wir mit der Familie ans Meer gefahren, nach Rimini. Das war schön, aber es gab für mich noch so viel mehr zu entdecken.
Sind Sie ein bodenständiger Mensch?
Mein Vater war ein richtiger Bergler und hat sein Geld anfangs als Postautofahrer verdient. Er hat mir wichtige Werte vermittelt. Der Satz «Begegne jedem Menschen auf Augenhöhe, egal, wo du im Leben stehst und wie viel Erfolg dir zufliegt» liegt mir im Ohr. Ja, ein gesundes Mass an Bodenständigkeit habe ich immer gehabt. Auch bin ich eher sparsam – für die schlechten Zeiten. Auch das hat mein Vater mir eingetrichtert. Für eine Freischaffende in einem sich schnell wandelnden Business ist das sicher nicht das Dümmste, aber eben auch typisch schweizerisch.
Sind Sie ein Bünzli?
Man muss es ja nicht übertreiben mit der Sparsamkeit, aber mir persönlich ist es wichtig, dass ich nicht verschwenderisch bin und welche Spuren ich auf dem Planeten hinterlasse. Ich erinnere mich, wie ich als Kind in Eishöhlen unter Gletschern hindurchgehen konnte. Ein unglaubliches Erlebnis. Diese Welten sind weggeschmolzen, es gibt sie nicht mehr. Das gibt mir zu denken. Jeder sollte sich bewusst sein, welche Zukunft er den nachkommenden Generationen hinterlässt.
Leben Sie umweltbewusst?
Versuchen tu ich es. Ich reise dieses Jahr zum Beispiel mit dem Zug nach Skandinavien. Ich esse kein Fleisch, weil ich weiss, wie man sich heutzutage reichhaltig vegetarisch ernähren kann. Vieles geschieht aus einer Gewohnheit heraus, ich kenne das: Im Wallis hatten wir zum «Zabund» immer Wurst und Trockenfleisch auf dem Tisch. Dann lebe ich in einem Minergiehaus mit Solaranlagen nahe einer Busstation. Ich schätze es, mich, zwei Minuten bevor der Bus losfährt, spontan entscheiden zu können, an den See zu fahren.