«Fürs Geld allein würde ich diesen Beruf nicht ausüben» | Schweizer Alpen-Club SAC
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

«Fürs Geld allein würde ich diesen Beruf nicht ausüben»

Marcel Bühler ist Pächter der Métairie du Bois-Raiguel in der Nähe von Orvin, auf rund 1200 Metern im Chasseral-Massiv. Seit seiner Kindheit dreht sich sein Alltag um die Arbeit mit dem Vieh, die Herstellung von Käse und Enzianschnaps, die Schweinemast und die Bewirtung seiner Gäste.

Es ist Mitte August in einem jurassischen Hochtal an der Nordflanke des Chasseral. Regelmässige Pickelhiebe unterbrechen das Bimmeln der Kuhglocken. Emil, der junge rumänische Hilfsarbeiter von Marcel Bühler, gräbt hier seit Anfang des Monats Enzian aus. Mit einer schweren Spitzhacke legt er die tief liegenden Wurzeln des Gelben Enzians frei. Die grosse Pflanze mit gelben Blüten ist charakteristisch für die Juraweiden auf über 1000 Metern Höhe. «Bis zu einem Meter lang können die Wurzeln sein. Man muss nur die richtige Stelle finden», sagt der junge Mann. Mit etwas Erfahrung erkenne man sie an der Farbe der Blätter und an der Struktur der Pflanze. Doch er fügt hinzu: «Wir sind schon zufrieden, wenn wir ein Stück von 30 Zentimetern herausbekommen, denn im steinigen Boden brechen die Wurzeln leicht.» Bis Ende September wird diese schwere Arbeit dauern. Die Wurzeln werden sorgfältig gereinigt, zerkleinert und im Holzfass mit Wasser vergoren. Aus der Maische wird dann im Oktober «Gentiane» destilliert, ein Schnaps, der für seine verdauungsfördernde Wirkung bekannt ist und auch «Gelbe Fee» genannt wird.

«
«Früher hatte hier fast jeder Hof seine eigene Destille.»
Marcel Bühler
Métayer

Der beste Enzianschnaps

In der Métairie empfängt einen der Hausherr Marcel Bühler. Das Ausgraben des Enzians kennt er gut. «Ich bin damit aufgewachsen, es ist eine Familientradition. Früher hatte hier fast jeder Hof eine eigene Destille», erklärt der 50-Jährige. Heute führen in der Region Chasseral nur noch zwei Betriebe diese alte Tradition fort. Die Wurzeln werden ohne Zugabe von Hefe vergoren. «Der Schnaps wird dadurch bekömmlicher», sagt Marcel Bühler und betont, dass er das Produkt in Handarbeit herstelle, wie es heute bald niemand mehr mache. Beim Enzianschnaps aus dem Supermarkt kann man dagegen seiner Ansicht nach nicht von Schnaps reden. «Das ist reiner Alkohol mit zugesetzten Aromen. So kann man aus fünf bis sechs Kilogramm Wurzeln etwa 100 Liter Schnaps herstellen. Bei uns ist es umgekehrt.»
Auch Fachleute seien bei Spirituosenwettbewerben der Ansicht, dass der Enzianschnaps aus dem Jurabogen zu den besten überhaupt gehöre. Der kalkhaltige Boden, in dem der Enzian wächst, trage dazu bei. Feinschmecker sind in der Lage, die jurassischen Enzianschnäpse voneinander zu unterscheiden. «Das ist wie beim Käse, der schmeckt bei jedem Käser anders.»

Kostbarer Greyerzer Alpkäse

Marcel Bühler führt in den Käsekeller einige Meter neben der Küche mit dem grossen Käsekessel. Das kühle und feuchte Klima, das für die gute Reifung des kostbaren Käse wichtig ist, darf nicht gestört werden. Bis zu 13 Käsesorten stellt Marcel Bühler her, doch die Nummer eins ist hier der Gruyère d’Alpage AOP, wie die grossen Laibe auf den Regalen erkennen lassen. Was ihn auszeichnet, ist die Milch, aus der er hergestellt wird. Sie ist reichhaltiger und aromatischer als die Milch aus dem Flachland. «Zwischen Mai und Juli stellen wir am meisten Käse her. Nach zehn bis zwölf Monaten ist der Greyerzer reif, aber er wird besser, je älter er wird. Idealerweise lagert er drei bis vier Jahre.» Um die strengen Anforderungen für den Gruyère d’Alpage AOP zu erfüllen, macht Marcel Bühler alles von Hand. Eine mühevolle Arbeit, die kaum angemessen entlöhnt werde, sagt er. «Man zahlt uns fast den gleichen Preis wie den Bauern im Flachland, während in den Supermärkten das Kilo Alpengreyerzer für zehn Franken oder mehr verkauft wird. Das ist eine Abzocke!»

«
«Es gab immer einen oder zwei Tische für Gäste, die Käse, Butter, Speck, Wurst oder Enzianschnaps kaufen kamen.»
Marcel Bühler
Métayer

Eine aussterbende Tradition

Der Frust weicht der Nostalgie, wenn Marcel Bühler von den Métairies seiner Kindheit erzählt. «Es gab immer einen oder zwei Tische für Gäste, die Käse, Butter, Speck, Wurst oder Enzianschnaps kaufen kamen.» In den 1990er-Jahren breiteten sich solche Berggasthöfe in der Region des Chasseral aus, dann ging der Trend wieder zurück. Heute ist die Métairie du Bois-Raiguel eines der drei letzten Gehöfte, die diese Tradition fortführen. Schinken und Koteletts stammen von den Schweinen, die mit der Molke aus der Käseherstellung gefüttert werden. Die Milch für den Käse kommt von den 35 Kühen des Hofs. Salat und Gemüse wachsen im Garten, das Brot ist hausgemacht. Doch diese ländliche Idylle ist gefährdet. Die Einkommen sind tief, es ist schwierig, Personal zu finden. «Hier muss man bereit sein, sieben Tage die Woche zu arbeiten, weit weg vom Komfort des Flachlands.» Viele Höfe haben ihren Betrieb eingestellt oder öffnen nur noch wenige Tage. Marcel Bühlers Restaurant ist sechs Tage die Woche offen. Bis auf Weiteres. «Fürs Geld allein würde ich diesen Beruf nicht ausüben», sagt er. «Ich stehe als Erster auf und bin der Letzte, der ins Bett geht.» Emil unterstützt ihn auf dem Feld, und zwei rumänische Angestellte helfen im Restaurant aus. Wenn es viel zu tun gibt, packen auch seine Schwestern und seine Söhne mit an.
Im September wird das Vieh wieder ins Tal gebracht und die Käseherstellung eingestellt. In der Küche kommt statt des Käsekessels die Destillieranlage zum Einsatz. Im Oktober wird während des ganzen Monats Enzianschnaps destilliert. Zur gleichen Zeit wird geschlachtet. Danach gönnt sich Marcel Bühler eine wohlverdiente Winterpause. Er nutzt sie, um die Welt zu bereisen – über 100 Länder hat er schon besucht. Unterdessen kümmert sich sein Bruder im Tal um das Vieh. Im Frühling trifft Marcel Bühler dann wieder ein, im Gepäck viele wunderbare Geschichten von seinen Reisen.

«
«Hier muss man bereit sein, sieben Tage die Woche zu arbeiten, weit weg von Komfort des Flachlands.»
Marcel Bühler
Métayer

Autor / Autorin

Alexandre Vermeille

Gastwirtschaft im Berner Jura

Die Métairies haben für den Berner Jura dieselbe Bedeutung wie die Poyas für die Freiburger Voralpen oder die Fasnacht für die Basler. Sie alle stehen auf der Liste der lebendigen Traditionen der Schweiz. Die Métairies sind seit 2023 aufgeführt. Die Gehöfte entstanden im 14. Jahrhundert auf den Bergweiden des Chasseral-Massivs zwischen Neuenburg und Biel, um das Vieh zu sömmern. Im letzten Jahrhundert entwickelten sich viele Métairies zu Bauernhöfen mit Gaststätten. Auch heute noch leben die Gastwirte, Métayers genannt, in der Regel von Frühling bis Herbst mit ihrem Vieh dort und bieten ihren Gästen einfache Gerichte aus eigener Produktion und gelegentlich auch ein Zimmer für die Nacht. Einige von ihnen stellen immer noch ihren eigenen Alpkäse oder Enzianschnaps her.

Feedback