«Es geht darum, Ja zu sagen zu diesem Leben» | Schweizer Alpen-Club SAC
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«Es geht darum, Ja zu sagen zu diesem Leben»

Andrea Schläfli ist seit mehr als zehn Jahren stark sehbehindert. Obwohl sie der weitgehende Verlust des Augenlichts hart getroffen hat, steht sie heute mitten im Leben. Die selbstständige Beraterin ist neuerdings Kursleiterin beim SAC. Sie engagiert sich für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung und tankt beim Wandern und auf Skitouren neue Energie.

Ende Februar und über Ostern geht Andrea Schläfli jeweils auf Skitouren. Für viele Bergsportlerinnen und Bergsportler ist das eine Selbstverständlichkeit. Aber Andrea Schläfli ist stark sehbehindert. Angeboten wird die Skitourenwoche von der Blindenskischule Frutigen und das Camp über Ostern von PluSport, der Fachstelle für Behindertensport. Dank Eins-zu-eins-Begleitung können auch Menschen mit Sinneseinschränkungen und Personen mit körperlichen, kognitiven oder psychischen Einschränkungen in den Alpen unterwegs sein.

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«Wenn ein Mensch mit seiner Situation hadert, ist er wie gefangen.»
Andrea Schläfli

«Ich geniesse es, draussen in der Natur zu sein. Wenn ich die Weite spüre, wird es auch in mir ganz weit», sagt Andrea Schläfli und schliesst die Augen, als könne sie dieses Gefühl auch in einem Café in Winterthur heraufbeschwören. Auch wenn sie nicht in den Bergen ist, zieht es sie nach draussen. «Ich bin viel zu Fuss unterwegs.» Rund um Winterthur oder im Unterengadin, wo sie sich auskennt, geht sie allein, ansonsten in Begleitung. «Ich bin noch nicht so weit, dass ich allein auf Touren gehe, die ich nicht kenne», sagt sie.

Wie an einem Mischpult

Seit zehn Jahren sei sie am Herausfinden, was geht, was sie sich zutraut und was nicht. «Es ist eine ständige Auseinandersetzung mit Angst und Anspannung», sagt sie. Stück für Stück erarbeitet sie sich vieles wieder, erweitert Grenzen und erobert Freiheit zurück. Letzten Sommer nahm sie zum ersten Mal an einer Segelwoche auf dem Bodensee teil, die von PluSport angeboten wird. Sie erzählt, wie gut es sich angefühlt habe, das Schiff im Sturm zu steuern. Dazu muss man wissen: Andrea Schläflis erster Beruf ist Matrosin. Während ihres Studiums in Bern arbeitete sie auf den Kursschiffen auf dem Bielersee.

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«Mit einer Behinderung leben ist sehr anstrengend.»
Andrea Schläfli

Ob Segeln, Skitouren oder Wandern, für Andrea Schläfli sind viele Aktivitäten schwieriger, weil sie sich nicht aufs Visuelle verlassen kann. Es brauche ein anderes Körpergefühl, sie lausche auch viel genauer in die Umgebung. «Tatsächlich hat jeder Mensch immer 100 Prozent Sinneswahrnehmungen», erklärt sie. «Wenn man nichts oder nur sehr wenig sieht, werden einfach die anderen Kanäle hochgefahren. Wie an einem Mischpult.» Deshalb ist es für sie wichtig, dass sie in der Stille wandern und Skifahren kann.

Die 54-Jährige war stets sehr aktiv. Als junge Frau hat sie auch Kletter- und Hochtouren unternommen. Ein früherer Partner von ihr machte die Bergführerausbildung. «Wir waren immer draussen in den Bergen», sagt sie. Auch beruflich war sie engagiert, machte nach dem Studium zur Sekundarlehrerin weitere Ausbildungen in der Lernberatung, in Schauspiel und Regie sowie im Management.

«You must be happy!»

Vor bald elf Jahren traf sie der Schicksalsschlag: Buchstäblich über Nacht verlor sie einen Grossteil ihrer Sehkraft, weil ihre Sehnerven explodierten, wie sie das beschreibt. Es folgte eine Odyssee von einem Arzttermin zum nächsten. Sie erlebte, wie ihre Sehkraft in hoher Geschwindigkeit abnahm. Schliesslich zog sie die Reissleine und begab sich in ein ayurvedisches Spital in Indien. Dort konnte man die Krankheit aufhalten, und ein alter Arzt brachte sie dazu, neuen Lebensmut zu fassen. Wie ein Mantra habe er sie erinnert: «You must be happy!» Rückblickend sagt sie: «Wenn ein Mensch mit seiner Situation hadert, ist er wie gefangen.» Heute weiss sie: «Es geht darum, Ja zu sagen zu diesem Leben.»

«Mit einer Behinderung leben ist sehr anstrengend», sagt Andrea Schläfli. Man müsse sich ganz anders organisieren, Zeit für Recherchen, Vorbereitungen und alternative Lösungsmöglichkeiten aufwenden. Dabei führt sie mit unglaublicher Sicherheit durch Winterthur, wo sie lebt. Vieles ist auswendig gelernt oder als Erinnerung abgespeichert. Seit Jahren engagiert sie sich für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen.

Seit 2023 arbeitet sie auch im SAC dafür. Sie ist Co-Leiterin des neuen Fortbildungskurses «Inklusion am Berg» für Tourenleitende. Für mehr Inklusion brauche es einen Paradigmenwechsel. «Aber die Prozesse sind langsam.» Trotzdem ist sie voller Zuversicht und erhofft sich gerade vom aktuellen Jahr einen Schub. Seit zehn Jahren ist die UNO-Behindertenrechtskonvention und seit 20 Jahren das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft. Anlässlich dieser Jubiläen finden schweizweit viele Aktivitäten unter dem Titel «Zukunft Inklusion» statt.

Heute gehe es ihr unglaublich gut, sagt Andrea Schläfli. Auch beruflich hat sie sich zurückgekämpft. Als Selbstständige bietet sie eine breite Palette an Dienstleistungen in den Bereichen Kommunikation, Beratung und Theater an. «Meine Arbeit mit Teams und meine Beratungen haben heute mehr Tiefe und Prägnanz», sagt sie. Weil sie vieles hört und fühlt, was Sehenden entgeht. «Innerhalb seiner Einschränkung kann man neue Talente entwickeln», sagt sie. Lernen ist eine ihrer Kernkompetenzen – nicht zuletzt, weil sie in den letzten elf Jahre so viel gelernt hat.

Autor / Autorin

Anita Bachmann

Inspirierende Frauen: Frauen sind in den Bergen gleichberechtigt unterwegs, präsent und erfolgreich. Und doch sind sie vielerorts in der Minderheit und erleben die Berge anders. Sechs Begegnungen mit inspirierenden Frauen.

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