© VISIT Glarnerland / Maya Rhyner
Er ist nicht zu fassen Mein Tödi: neues Lesebuch zum grossen Jubiläum
Der Kanton Glarus feiert die Erstbesteigung des Tödi vor 200 Jahren. Zum Jubiläum erscheint auch eine sehr lesenswerte Anthologie mit erfrischenden Texten von Schweizer Autorinnen und Autoren, darunter Seraina Kobler, Franz Hohler oder Emil Zopfi. Lesen Sie hier exklusiv das Vorwort von Perikles Monioudis, Glarner Schriftsteller und Herausgeber des Buches.
Vor zweihundert Jahren wurde der Tödi – der mit 3612 m ü. M. «höchste Glarner», der vergletscherte Riese im hochgebirgigen Grenzgebiet der Kantone Glarus und Graubünden – zum allerersten Mal alpinistisch bezwungen. Vollbracht haben das im Jahre 1824 Pater Placidus Spescha und die beiden «Gemsjäger» Placi Curschellas und Augustin Biscuolm. Sie stiegen aus der Surselva auf und triumphierten auf dem Piz Russein – man lese hierzu den dramatischen Beitrag des grossen Tödi-Kenners und Schriftstellers Emil Zopfi in diesem Band.
Die drei Wagemutigen trotzten den Unwägbarkeiten des Aufstiegs, den Fährnissen der Witterung, schlechterdings ihrer eigenen Physis und nicht zuletzt der Natur. Denn sie zähmten mit ihrer bergsteigerischen Grosstat die Wildnis, die sich nur durch eine solche Eroberung der Vertikalen bannen lässt – und zwar lediglich für den lebensgefährlichen Augenblick.
Diesen Augenblick feiern wir heute. Er hat sich über zwei Jahrhunderte im kollektiven Gedächtnis einer ganzen Alpenregion gehalten. Der Tödi selbst ist freilich auf einer anderen Zeitachse verortet, die bis zur Entstehung der Alpen zurückreicht und zugleich in die astronomische Zukunft vorausgreift. Wann ist also der richtige Zeitpunkt, um sich einem Gebirge zu nähern, einem majestätischen Berg, dem Tödi? Sind wir in der Betrachtung dessen, was ihn und was die Menschen um ihn her betrifft, zur richtigen Zeit am richtigen Ort? Oder machen wir heute nur deshalb kurz Rast, weil wir einer einfachen Zahlenmystik erliegen – der Zahl 200?
Wir befinden uns in einer Zeitenwende
Nein, der Moment ist schon richtig gewählt, denn wir befinden uns einmal mehr in einer Zeitenwende. Galt die Bergwelt einst als Trutzburg und Rückzugsort vor der Welt – etwa im «Réduitgedanken» im Zweiten Weltkrieg –, gehörte es sich später, aktiver Berggänger und Tourenskiläufer zu sein. Heute ist dieser schweizerische Imperativ nach wie vor en vogue, er wird aber anders interpretiert. Die Jugend kraxelt sehr gern in den Boulderhallen oder in eigens hergerichteten Kletterfelsen in den Voralpen, oder sie schwingt sich auf dem Pfad aufs Mountainbike.
Die Literatur der Berge spiegelt solche Entwicklungen wider. In den Bergtexten des frühen 20. Jahrhunderts vollzog sich ein Wandel von der kollektiven Besinnung auf die Berge hin zu einer subjektiven, persönlichen Betrachtungsweise der Alpen. Diese herrscht heute noch vor. Themenbereiche wie Geschlecht, soziale und Biodiversität, Umwelt und Klima, Raum oder auch Materialität greifen in die Betrachtung – und Begehung – der Alpen aus und lassen neue Diskurse entlang der Frage entstehen: Von wem, von wo aus, auf welcher Grundlage und mit welchem Ende wird die Bergwelt in unseren Tagen betrachtet, besungen und gefeiert?
Dieser Band beantwortet diese Fragen in schönster Weise. In der ersten Abteilung sind eigens für Mein Tödi verfasste Beiträge zu lesen, so Renata Burckhardts Tödis Raunen im Norden, in dem die Aura des Bergs noch im Zürcher Fitnessstudio seine Wirkung zeitigt, oder Daniel Mezgers Einen Berg zeichnen, der einen in die Glarner Primarschule entführt. Für Seraina Kobler, die passionierte Berggängerin, ist der Tödi nach wie vor Nicht zu fassen, während in Claudio Landolts ChatGPTödi sich ein Chatbot um pragmatische Auskunft bemüht und Alfonso C. Hophan in Die Ödnis die Vergangenheit heraufbeschwört – und einen Tierfehd-Besucher namens Friedrich Nietzsche.
Drei Männer im Schneesturm
Neben einem weiteren Originaltext, verfasst von Peter Weber, stehen Auszüge aus Büchern, in denen der Tödi oder die Menschen um ihn her eine Rolle spielen. So in Franz Hohlers Die Öde, in Tim Krohns Frühling auf Fessis oder Elsbeth Zweifels Das Bündel Zeit.
Ein weiterer Tierfehd-Besucher kommt im zweiten, mit Blick über die Schulter überschriebenen Teil des Bands zu Wort: Karl Kraus mit seinem Gedicht Landschaft. Gemeinsam mit den Auszügen aus Meinrad Inglins Erzählung Drei Männer im Schneesturm – Inglins Vater kam am Tödi ums Leben – sowie Nelly Zwickys Das Geheimnis des Knechts bildet er eine Art Steigbügel für alle später erschienenen Töditexte.
Das gilt auch in Bezug auf die Beiträge des Bands im dritten Teil, Aussicht auf die Alpen. Sie grundieren den literarischen Kontext der ersten beiden Teile aus erklärender Sicht. Mirja Lanz präsentiert mit Pfad Val Frisal einen Blogbeitrag, den sie im Auftrag des SAC für das Kulturprojekt Crystallization in der Höhe verfasste und für die erstmalige Drucklegung bearbeitete. Ihr Text kündet nebenbei von den Anstrengungen, die heute die spezifischen Institutionen der Alpenwelt unternehmen, um dem Bedürfnis nach kultureller Teilhabe und dem Freizeitverhalten der Jugend zu begegnen.
Mögen sie fruchten!