Die Vermessung der Schweiz | Schweizer Alpen-Club SAC
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Die Vermessung der Schweiz Wie topografische Landeskarten entstehen

Die Anpassung der Schweizer Landeskarte setzt Akribie, Geduld und Liebe zum Detail voraus. Gute Feldarbeit ist deshalb so wichtig, weil die Luftbilder nicht immer schlüssige Antworten liefern. Wir haben eine Topografin begleitet.

Anfang August auf einem Wanderweg oberhalb von Tarasp im Unterengadin: Auf den ersten Blick sieht Sandra Greulich wie eine normale Wanderin aus; sportliche Hose, Sonnenbrille, Wanderschuhe. Erst beim zweiten Blick fällt auf, dass sie keinen Rucksack auf dem Rücken, dafür einen schwarzen Aktenkoffer in der Hand trägt. Eine Agentin auf geheimer Mission in den Bergen? 

Eine Mission hat sie, geheim ist sie aber nicht. Sandra Greulich ist eine von sieben Topografinnen und Topografen bei swisstopo, dem Bundesamt für Landestopografie, die jeden Sommer mehrere Wochen «im Feld», wie man im Fachjargon sagt, unterwegs sind und die Schweiz bis in den hintersten Winkel metergenau vermessen und kartieren.

Wenn der Schnee weg ist, wird geflogen

Sandra Greulich bleibt stehen, klappt den Aktenkoffer, der sich als robuster Laptop entpuppt, auf und beugt sich über eine digitale Landkarte. Sie zoomt ins Gebiet, in dem wir unterwegs sind, und liest eine eingetragene Notiz vor: «Ist dieser Wanderweg gesperrt?» Eine von rund 200 Fragen, die sie und ihre Teamkollegen am Bürotisch notiert haben, weil Luftaufnahmen nicht die klärenden Antworten lieferten. In den drei Wochen, in denen Sandra Greulich im Engadin unterwegs ist, geht sie diesen Fragen nach.

Jedes Jahr überfliegen zwei Flugzeuge von swisstopo, ausgestattet mit Spezialkameras, in rund drei Kilometern Höhe die Schweiz. Dabei entstehen keine gewöhnlichen Luftbilder, vielmehr wird die Landschaft in Luftbildstreifen gescannt. Jeder Bildstreifen wird dabei aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln aufgenommen, zusätzlich wird jede Aufnahmeposition mit GPS getrackt. Dadurch entsteht eine genaue dreidimensionale Abbildung der Landschaft.

Im März starten die Flüge über das Mittelland, bevor die Bäume Blätter tragen. Eine freie Sicht auf die Landschaft ist zwingend. Aus diesem Grund werden Flüge über die Berge im August und im September unternommen, wenn der Schnee geschmolzen ist. Auch die Spaltenzonen auf Gletschern sind dann ersichtlich und lassen sich genau erfassen. Eine Genauigkeit, für die Bergsteigerinnen und Bergsteiger immer wieder dankbar sind. 

Der Bedarf an genaueren Daten nimmt zu

Jedes Jahr wird so ein Drittel der Schweizer Landesfläche abgeflogen, und die Karten werden im Sechsjahreszyklus nachgeführt. Neuland gibt es hierzulande nicht mehr zu entdecken, aber da die Technologie fortschreitet, werden die bestehenden Daten immer genauer: Ein Schlenker eines Wanderwegs, der auf der Karte drei Meter zu weit östlich verläuft, wird korrigiert. «Wegen der genaueren Messmethoden werden sich auch einige der Höhenangaben auf den bisherigen Landeskarten ändern», sagt Sandra Greulich. Wer neue Karten aufmerksam liest, kennt es: Plötzlich sind Koten ein paar Meter höher oder auch tiefer angegeben.

Der Bedarf an aktuellen Geodaten mit hoher Präzision nimmt zu. Viele Kunden von swisstopo sind Städteplaner, Architekten, öffentliche Ämter. Seit 1839 wird der Alpenraum vermessen. Die Aktualisierung der bekannten Landeskarten ist nur eine Aufgabe von vielen. Sandra Greulich hatte vor 30 Jahren ihre Lehre als Kartografin bei swisstopo gemacht, damals ein handwerklich gestalterischer Beruf. «Ich habe die Veränderungen der Karte noch auf Glasplatte mit Stichel graviert», sagt die 51-Jährige. Und im Gelände war sie mit Höhenmesser und eigenem Schrittmass unterwegs. Umso erstaunlicher, wie genau die Karten auch vor der digitalen Vermessung schon waren. Das Berufsbild hat sich durch die Digitalisierung stark verändert. Kartografen werden keine mehr ausgebildet, dafür Geomatiker.

«Gibt es diese Brücke noch?»

Nach der Landung der Flugzeuge werden die Bilddaten an swisstopo übermittelt. Nun beginnt der Prozess der Bildorientierung. Ziel ist es, den Bezug der Bildstreifen zur realen Welt zu rekonstruieren. Dies erfolgt mit den aufgezeichneten GPS-Daten und eindeutig identifizierbaren Punkten. Diese georeferenzierten Luftbildstreifen bilden die Grundlage für die dreidimensionale Messung der Oberfläche. Operateure werten diese Daten aus und tragen die offensichtlichen Veränderungen (einen neuen Verkehrskreisel, den 20 Meter weiten Rückzug eines Gletschers) in das Landschaftsmodell (TLM) ein. Die Feldarbeit kommt da zum Zug, wo Luftbilder keine schlüssigen Antworten liefern.

«Tatsächlich: gesperrt.» Sandra Greulich steht vor einer holzigen Absperrung. Der Wanderweg dahinter ist auf mehreren Metern weggerutscht. Die Operateure haben auf einer Luftaufnahme gesehen, dass da etwas nicht stimmen kann. Sie trägt es auf ihrem Laptop ein, macht ein Foto, um es zu dokumentieren, und läuft weiter zum nächsten Punkt, der gleich nebenan liegt, und schaut auf den Bildschirm. «Gibt es diese Brücke noch?»

Die Feldarbeit will minutiös geplant sein, wie eine Bergtour. Die Vorarbeit beginnt im Büro. Sandra Greulich schaut sich jeden der Punkte, die sie im Feld abklären muss, genau an. Wie kommt sie dorthin, und wie lassen sich die Punkte am effizientesten miteinander verbinden? Ein Planungsfehler bedeutet unter Umständen einen Umweg von mehreren Stunden Marschzeit. Manchmal ist die Frage fast aus dem Auto heraus beantwortet, manchmal ist dafür eine mehrstündige Wanderung notwendig. Und nicht selten ist es gerade anders als erwartet. So wie jetzt. «Noch schnell diesen Weg abklappern, drei Minuten maximal», gibt sich die Topografin überzeugt, springt aus dem Auto und läuft einen Wanderweg entlang.

Häufig ist es anders als gedacht

Viele Fragen, denen Sandra Greulich nachgeht, stammen auch von Privatpersonen. Jemand hat eine kleine Holzhütte oder einen neuen Wegabschnitt entdeckt, der auf keiner Karte eingezeichnet ist. Sandra Greulich läuft zügig.  Der Wegabschnitt entpuppt sich als viel länger als gedacht. Plötzlich steigt er steil an. Der Akku des Laptops ist leer, der Ersatz liegt im Auto, und das ist weit weg. Sandra Greulich wechselt auf ihr Handy: 18% Ladung. «Wenn der Handyakku auch noch abliegt, ist alles für die Katz.» Im Zickzack geht es 250 Höhenmeter den Berg hoch. Die konditionsstarke Topografin hat die Reporterin schon lange abgehängt. Auf einer Waldlichtung treffen sie wieder aufeinander, Sandra Greulich schwenkt ein GPS-Gerät über dem Kopf. «Der Aussichtspunkt ist auf dem falschen Hubel eingezeichnet.» Eigentlich war sie ja wegen des Weges hier, aber das geschieht oft. Ihrem aufmerksamen Auge und ihrer Erfahrung entgeht nichts. Die Arbeitstage draussen dauern häufig sehr lange. Doch heute ist ihr das egal. Die Sonne scheint, es ist warm. «Die Tage davor waren streng. Es hat immer geregnet. «Es ist mühsam, mit klammen Fingern auf dem nassen Display Eintragungen zu machen.»

Nach beendetem Feldeinsatz werden die Daten nachkorrigiert. Sandra Greulich steht in ihrem Büro in Bern und blickt durch eine 3-D-Brille in den Bildschirm. Sie ermöglicht ihr, die Landschaft und alle künstlichen und natürlichen Objekte darin plastisch zu sehen. Der Wanderweg wird nun zusammen mit den im Feld gesammelten GPS-Daten und den Luftbildern so nachgezeichnet, dass er mit dem Terrain übereinstimmt. Diese Nachbereinigung dauert nochmals rund eine Woche. «Ich mag diese Arbeit. Wenn ich die Luftbilder anschaue, erlebe ich alles noch einmal. Nur diesmal aus der warmen Stube heraus. Ohne kalte Finger.»

Autor / Autorin

Sibyl Heissenbüttel

Landschaftsmodell

Seit 2008 erfasst swisstopo ein dreidimensionales, digitales Modell der Schweiz mit dem Namen Topografisches Landschaftsmodell (TLM). Es fasst sämtliche bereits existierenden und aus den Bildstreifen neu erfassten Daten in einer riesigen digitalen Datenbank zusammen. Jede Veränderung im Landschaftsbild wird bei swisstopo gespeichert und abgelegt. Die Daten sind die Basis für die Erstellung der Landeskarten sowie für Simulationen und Berechnungen für verschiedene Produkte.

Feedback