Die spontane Himalayistin Marianne Chapuisat war die erste Frau auf einem Achttausender im Winter
Marianne Chapuisat ist die erste Frau, die einen Achttausender im Winter bestiegen hat. Das war vor 30 Jahren am Cho Oyu. Damals fand diese Leistung kaum Beachtung, doch sie blieb 25 Jahre lang unerreicht. Ein Gespräch mit der Waadtländerin, die die Berge liebt, aber nicht den Ruhm, der diese umgibt.
Wie eine «zu gross geratene Schulreise» – so war die Expedition auf den Cho Oyu (8201 m) mitten im Winter, die Marianne Chapuisat im Alter von 23 Jahren antrat. Eine Expedition, die sich durch Spontanität und Pioniergeist auszeichnete. Keine Träger, kein Sauerstoff, keine Wetterberichte. «So etwas macht heute niemand mehr», lacht die Waadtländerin.
Für die junge Frau war diese Besteigung «so unwahrscheinlich wie eine Mondlandung», schreibt Bernadette McDonald in ihrem Buch Winter 8000 (AS Verlag, 2021). Tatsächlich hatte die damalige Literaturstudentin an der Universität Lausanne zuvor noch nie einen Fuss in den Himalaya gesetzt. «Ich bin dem Mann gefolgt, den ich liebte», erklärt sie. Der argentinische Bergführer Miguel Sanchez, genannt «Lito», den sie im Basislager des Aconcagua kennengelernt hatte, lud sie zur Expedition auf den Cho Oyu ein. «Er war für mich eingestanden, und ich hatte Angst, dass ich für ihn ein Hindernis sein würde», räumt sie ein.
Eine zähe «Anfängerin»
Die junge Sportlehrerin war zwar ein Neuling im Hochgebirge, aber sie war alles andere als eine Hobbysportlerin. «Ich war sportlich sehr aktiv und körperlich in Topform. Grosse Anstrengungen machten mit glücklich», analysiert sie rückblickend in einem Klassenzimmer des Lausanner Gymnasiums, wo sie seit 30 Jahren unterrichtet.
Der Anmarsch vom nepalesischen Jiri aus dauerte fast einen Monat. «Die Winde waren heftig, die Kälte anhaltend und durchdringend, im Zelt bildeten sich Eisschichten. Aber die Entdeckung des völlig menschenleeren Himalaya machte alles wett.» Im Basislager lieh ihr der Sirdar, der nicht weiter aufstieg, seinen für die Bedingungen im Hochgebirge unerlässlichen Daunenanzug.
Die Realität vor Ort war hart. Die Expeditionsgruppe hatte mit Appetitlosigkeit gerechnet, die sich oft in der Höhe einstellt. Weil dem aber nicht so war, hatte man nicht genügend Vorräte dabei. «Wir waren so hungrig, dass wir sogar den Reis assen, den der Lama für die Puja-Zeremonie weihte», erzählt die Frau mit ihrer ansteckend guten Laune. Die Kälte machte Marianne besonders zu schaffen, da sie am Raynaud-Syndrom leidet, einer Durchblutungsstörung in den Extremitäten.
Der Erfolg stellte sich am 10. Februar 1993 trotzdem ein. Auf dem Gipfel, den die Bergsteigerin zu ihrer eigenen Überraschung erreichte, erlebte sie einen zeitlosen Moment. Sie beschreibt «ein unermessliches Glücksgefühl, auf der Welt zu sein, ein Gefühl der Fülle und der Dankbarkeit, beinahe eine Erleuchtung». Nach ihrer bescheidenen Einschätzung hat Marianne Chapuisat «Anfängerglück» gehabt. «Es grenzt an ein Wunder, dass wir so gut davongekommen sind», sagt sie im Rückblick.
Keine Heldentat
Die Französischlehrerin verschwindet ins Lehrerzimmer, um ihr Birchermüesli zu holen. Dann erzählt sie, wie überrascht sie bei ihrer Rückkehr war, als die Himalaya-Chronistin Elizabeth Hawley in Kathmandu erklärte, dass sie als erste Frau den Gipfel eines Achttausenders im Winter erreicht hatte. Die junge Bergsteigerin hatte davon geträumt, die 6962 Meter des Aconcagua zu übertreffen, den sie im Jahr zuvor bestiegen hatte. Nicht davon, in die Geschichte des Himalaya-Alpinismus einzugehen.
In der Schweiz wurde die Nachricht verhalten wahrgenommen. Die Waadtländer Tageszeitung 24 Heures würdigte im März «eine bedeutende bergsportliche Leistung für die Frauen», während die Neue Zürcher Zeitung die Besteigung erst im August erwähnte. Das war alles. Und das reichte ihr.
Von einer Heldentat will Marianne Chapuisat nämlich nicht sprechen. «Heldentaten entstehen nicht bei Herausforderungen, die man selbst wählt, sondern bei Prüfungen, die uns das Leben auferlegt, etwa wenn jemand einer schweren Krankheit trotzt, Lausanne im Rollstuhl durchquert oder alleinerziehend zwei Kinder mit 1000 Franken monatlich durchbringt», sagt sie. Die Begegnung mit Tibetern, die vor der chinesischen Unterdrückung über den 5700 Meter hohen Nangpa La nach Nepal flohen, habe sich ihr eingebrannt. «Sie trugen Turnschuhe, wir Steigeisen. Sie wollten überleben, wir suchten ein sportliches Abenteuer. Die Kluft war riesig.»
Ihre Leistung blieb 25 Jahre lang unerreicht, bis die Französin Elisabeth Revol im Januar 2018 den Nanga Parbat bezwang. Sie verschaffte ihr auch den Respekt von Alpinisten wie Erhard Loretan und Reinhold Messner. Und die Erfahrung begleitet sie im Alltag: «Ich habe daraus eine innere Kraft und ein Selbstvertrauen gewonnen, die mir helfen, bestimmte Aufgaben und das Leben allgemein zu meistern», sagt sie. Und sie habe ihr bewusst gemacht, wie verletzlich wir sind.
«Seismograf des Lebens»
Obwohl sie im Auftrag des spanischen Fernsehens drei weitere Achttausender bestieg – den Gasherbrum I, den Gasherbrum II sowie den Nanga Parbat –, wollte Marianne Chapuisat, die Mitglied der Sektion Monte Rosa ist, nie vom Bergsteigen leben. «Den Beruf des Bergführers habe ich nie idealisiert. Mir war schnell klar, dass es ein Geschenk ist, frei und ungebunden in den Bergen unterwegs zu sein.» Auch das Sponsoring war nie ihre Sache. «Es gibt zu viele Kehrseiten, man verliert an Poesie und Spontanität.»
Heute steigt die 50-Jährige immer noch auf Berge, klettert und ist mit den Tourenski unterwegs. «Eine schöne Bergtour ist wie ein Seismograf des Lebens im Zeitraffer. Intensive Emotionen und ein Feuerwerk an Eindrücken, verdichtet in wenigen Stunden», schwärmt sie.
Die Bewohnerin von Granges-sur-Salvan denkt nicht daran, wieder zu einem Achttausender aufzubrechen. «Was aus dem Himalaya geworden ist, enttäuscht mich. Es müsste schon ein sehr originelles Projekt sein.» Die Chancen stehen besser, ihr in den Alpen zu begegnen. Und obwohl sie sich eher in der Vertikalen bewegt, kann man sie auch in horizontalem Gelände antreffen: Sie sei «von der Einfachheit und Leichtigkeit des Skatings begeistert», erklärt sie, besonders auf den Loipen im Jura, die sie jedes Jahr mit Freude wiederentdeckt.
Mit Sicherheit wird Marianne Chapuisat diesen Winter nicht die erste Frau auf dem Gipfel des Chasseral sein. Aber das ist auch nicht die Hauptsache.