Die Schicksale der Findlinge | Schweizer Alpen-Club SAC
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Die Schicksale der Findlinge Drei Fragen an den ausserordentlichen Professor für Strukturgeologie Jean-Luc Epard, Universität Lausanne

Das Schweizer Mittelland und der Jurasüdfuss sind übersät mit Findlingen. Die Felsblöcke mit oft monumentalen Ausmassen haben die Jahrtausende überdauert und sind doch nicht ewig. Vor 150 Jahren riefen Geologen dazu auf, diese Zeugen der Eiszeit unter Schutz zu stellen, weil immer mehr von ihnen durch Menschenhand verschwanden. Heute ist ihr wissenschaftlicher und kultureller Wert unbestritten. Fünf exemplarische Geschichten von Findlingen in den Kantonen Waadt und Neuenburg.

Ich, der verschwundene Findling

Mein Name hat überlebt, aber ich selbst bin nicht mehr da. Ich heisse Pierre Vieille und war ein schöner Block aus Kalkstein von etwa 340 Kubikmetern. Ich bin in einem Kalkofen verschwunden. Der Geologe Jean de Charpentier kannte mich gut. In seinem Buch Essai sur les glaciers von 1841 erwähnte er, wo und weshalb ich abgebaut wurde: «in der Nähe des Lac de Bret, um Kalk herzustellen». Seitdem sucht man vergeblich nach einer Spur von mir. Man hat mich wohl beim Bau von Bauernhöfen in der Gegend verwendet. Mein Name dient heute als Flurname, ein Weg ist nach mir benannt. Die Experten sagen, dass die meisten meiner Artgenossen mein Schicksal teilen. Ausser, dass meistens auch ihre Namen verschwunden sind.

Ich, der Findling, der zu Baumaterial wurde

Kommen Sie näher, haben Sie keine Angst! Von mir wurde ein Teil abgetrennt und in Stücke gebrochen. Aber ich, Pierre à Roland, bin immer noch da, am Waldrand in der Nähe von Burtigny. Sie fragen sich, wo meine andere Hälfte geblieben ist? Schauen Sie sich im Dorfzentrum um, vielleicht stellen Sie dort eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Uhrenturm fest, der nach 1864 gebaut wurde. Ja, das bin auch ich, zersägt, behauen und Teil eines der Wahrzeichen des Dorfes. Mein Schicksal ist nicht ungewöhnlich: Findlinge aus Granit wurden schon immer wegen ihres Gesteins geschätzt. Tatsächlich ist man besser nicht zu zerbrechlich, wenn man Hunderte von Kilometern auf einem Gletscher zurücklegen will. Viele meiner Artgenossen überleben daher als Grenz- oder Mühlsteine, Türschwellen oder Brunnentröge. Wie unfreiwillige Denkmäler zu Ehren der eiszeitlichen Gletscher.

Ich, der geschützte Findling

Etwas Respekt, bitte! Ich bin Pierre à Cambot, der erste Findling, der im Kanton Waadt unter Schutz gestellt wurde. Der Berner Bernhard Studer und der Genfer Alphonse Favre hatten 1867 dazu aufgerufen. Den beiden Geologen war bewusst, dass die Menschen im Begriff waren, uns, die Zeugen der eiszeitlichen Vergletscherung, zum Verschwinden zu bringen. Der Aufruf trug Früchte: Gemäss einem Inventar von 1989 gibt es im Kanton Waadt 28 Findlinge. Mir selbst kam die rettende Initiative 1868 zugute. Seitdem thront mein majestätischer Gneis stolz in einer Lichtung in der Nähe von Cheseaux, und ich bin zu einem unumgänglichen Ziel von Schulausflügen in der Region geworden.

Ich, der Findling zum Klettern

Ich vergleiche mich gerne mit anonymen Marathonläufern. Denn ich bin den ganzen Weg vom Mont Blanc bis zum Neuenburger Jura gekommen und habe nicht einmal einen Namen. Was solls! Die Schönheit meines Gesteins ist den Kletterern nicht entgangen, die mich «Above the fog» getauft haben. Ich stehe mit meinen elf Boulderrouten sogar im SAC-Kletterführer Neuenburg und Waadt Nord. Wie dem auch sei, unser wissenschaftlicher Wert nimmt mit der Zeit zu. Kürzlich haben Botaniker festgestellt, dass wir Findlinge, die nicht aus Kalkstein bestehen, Lebensräume für im Jura und Mittelland seltene Flechten, Moose und Farne sind. Leider mussten die Wissenschaftler der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) feststellen, dass Magnesia Farne und Moose beeinträchtigen kann. Deshalb möchten sie uns und unsere Flora vor dem Magnesium und den Bürstchen der Kletterer schützen. Die Forscher empfehlen auf der Homepage der ZHAW, «im Mittelland und Jura grundsätzlich keine Findlinge zu putzen».

Ich, der Findling, der Glück hatte

Ob Findlinge Überlebende sind? Ich glaube kaum, vielleicht weil ich erst nach dem ganzen Aufruhr aufgetaucht bin. Ich bin Pierre des Diablerets. Entdeckt wurde ich 1985, als in Belmont-sur-Lausanne ein Gemeindezentrum gebaut wurde. Der Baggerführer hielt mich zuerst für «einen Stein wie jeden anderen», dann wurde ihm klar, dass ich ein gigantischer Felsblock war. Geologische Analysen wiesen nach, dass ich ein Kalkstein aus dem Massiv der Diablerets bin. Die Behörden von Belmont luden daraufhin jene von Ormont-Dessus herzlich ein, ihr «verlorenes Erbe» abzuholen, und wiesen darauf hin, dass ich mindestens 30 Kubikmeter gross und rund 80 Tonnen schwer war. In Ormond-Dessus zeigte man sich erleichtert darüber, dass ich mich «in guten Händen befand». Man betrachtete den Fall als verjährt und überliess mich der Obhut meiner Adoptivgemeinde. Und die liess es an Pflege nicht fehlen: Heute bin ich ein stolzer Teil einer Aussenmauer, die ich überrage und in der ich ein schönes Kletterhindernis für die Dorfkinder abgebe.

Was sind Findlinge genau?

Bei Findlingen oder erratischen Blöcken handelt sich um Felsblöcke, die von Gletschern transportiert wurden und deren Beschaffenheit sich völlig vom Gestein der Umgebung unterscheidet. Früher dachte man, dass die Findlinge mit der biblischen Sintflut an ihre heutige Stelle gebracht wurden. Auf sehr alten Karten findet man daher den Begriff «diluvial» zur Bezeichnung von Gletscherablagerungen. Die Theorie der Vergletscherung löste Anfang des 19. Jahrhunderts jene der Sintflut ab. Aufgestellt wurde die Theorie der Vergletscherung übrigens im Val de Bagnes.

Gibt es eine Mindestgrösse für einen Findling?

In der Wissenschaft spricht man von einem Findling, wenn der Felsblock grösser als ein Kiesel ist, das heisst, wenn er grösser als ein menschlicher Kopf ist. In der Umgangssprache ist ein Findling jedoch meist grösser.

Welchen wissenschaftlichen Wert haben Findlinge?

Findlinge haben seit den 1840er-Jahren und besonders seit Beginn des 20. Jahrhunderts grosse Bedeutung als Belege für die Theorie der Vergletscherung. Aktuell stützt sich die Forschung auf sie, um das letzte glaziale Maximum zu rekonstruieren oder Klimamodelle für die Zukunft zu erstellen. Sobald ein Findling von Menschenhand bewegt wird, verliert er jedoch seinen wissenschaftlichen Wert.

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