Die nächste Superkolonie? | Schweizer Alpen-Club SAC
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Die nächste Superkolonie? Die Ameisenart

Die Welt der Ameisen ist eine wahre Wundertüte: Manche Arten ziehen in ihrem Bau Schmetterlingsraupen gross, andere explodieren, um Feinde abzuwehren. Schon in der Bibel wurde die Ameise als fleissiges Tier beschrieben. Doch bei genauerem Hinsehen finden sich in manchen Kolonien auch zahlreiche Faulpelze. Laut einem australischen Forschungsteam schieben bis zu 70% der Arbeiterinnen eine eher ruhige Kugel.
Auch ein Blick auf die Alpen-Ameise, Tetramorium alpestre, lohnt sich. Entdeckt wurde diese im Jahr 2010 durch das Forscherpaar Florian Steiner und Birgit Schlick-Steiner von der österreichischen Universität Innsbruck.

Spezialistin fürs Hochgebirge

Die drei bis vier Millimeter grosse und bräunlich gefärbte Ameisenart kommt im gesamten Alpenbogen vor. Ihr Lebensraum befindet sich zwischen 1300 und 2300 Metern über Meer – also in eher unwirtlichen Gefilden, besonders im kalten Winterhalbjahr.
Warum diese Ameise hier überlebt, versuchte das Innsbrucker Forschungsteam gemeinsam mit einem italienischen Biologen herauszufinden. Sie verglichen Tetramorium alpestre mit verwandten Ameisenarten und stellten dabei fest, dass sie bei tiefen Temperaturen deutlich mehr Proteine produziert, die sie vor Frost schützen.
Zudem fanden die Forscherinnen und Forscher in den Nestern der Ameisen Wurzelläuse, die mit ihnen zusammenleben. Der Honigtau, den die Läuse ausscheiden, liefert den Ameisen Nahrung. Dank der genetischen Anpassung ihres Glukosehaushalts ist die Alpen-Ameise offenbar in der Lage, diesen Zucker besonders effizient zu verarbeiten – auch dies ein entscheidender Überlebensfaktor.

Superkolonie über 5000 Kilometer

Die Alpen-Ameise verfügt über die Fähigkeit, grosse Kolonien mit mehreren Königinnen zu bilden. Dieses Verhalten weckte das Interesse der Wissenschaftler ganz besonders. Der Grund: Ameisenkolonien können sich zu riesigen Superkolonien mit Tausenden Kilometern Ausdehnung zusammenschliessen. Zu den bekanntesten Beispielen dafür gehört die Argentinische Ameise, Linepithema humile, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Südeuropa eingeschleppt wurde. Seither breitet sie sich rasant aus und verdrängt die heimischen Spezies. Die grösste Superkolonie erstreckt sich über 5000 Kilometer entlang der Küste von Norditalien rund um die Iberische Halbinsel.
Das Erfolgsrezept der invasiven Argentinischen Ameise besteht in der Kooperation. Die einzelnen Unterkolonien zeigen kein feindliches Verhalten zueinander. Wenn man Tiere von der Küste Italiens mit Tieren von der Küste Portugals zusammensetzt, gibt es keine Aggression. «Das ist erstaunlich, denn normalerweise reagieren Ameisen aggressiv aufeinander, selbst wenn die Nester nur ein paar Meter voneinander entfernt sind», erklärt Birgit Schlick-Steiner.
Um dieses Phänomen besser zu verstehen, wäre es wünschenswert, eine Ameisenart beobachten zu können, die sich noch mitten in der evolutionären Entwicklung zum Aufbau von Superkolonien befindet. Die Alpen-Ameise ist womöglich eine solche Art. «Sie weist eine grosse Bandbreite von Verhaltensweisen und Sozialstrukturen auf, von kleinen Kolonien mit einer Königin, die aggressiv zueinander sind, bis hin zu Kolonien mit mehreren Königinnen und den Eigenschaften einer Superkolonie», erläutert Florian Steiner.
Seit 2016 führt das Paar in Zusammenarbeit mit seiner Forschungsgruppe zahllose Verhaltensversuche mit einzelnen Alpen-Ameisen durch und hat deshalb in Frankreich, Italien, Österreich und der Schweiz mehrere Tausend Arbeiterinnen aus insgesamt 47 Kolonien gesammelt. Anfang 2022 publizierte es mit Projektmitarbeiter Patrick Krapf als Erstautor einen interessanten Befund: Hitze macht die Tiere feindselig.

Klimakrise macht Ameisen aggressiver

Im Rahmen seiner Dissertation konnte der Ökologe nachweisen, dass durch die Klimakrise hervorgerufene Effekte wie höhere Temperaturen und mehr Stickstoff im Boden zu stärkerer Aggressivität unter den Kolonien von Tetramorium alpestre führen. Die Frage, ob der Klimawandel auch einen Einfluss auf die Bildung von Superkolonien hat, kann das Forschungsteam zum heutigen Zeitpunkt noch nicht beantworten.

Krapf untersuchte unter anderem Umweltfaktoren und Lufttemperatur bei verschiedenen Populationen sowie kutikuläre Kohlenwasserstoffe. Das sind organisch-chemische Substanzen, die sich auf der Oberfläche von Insekten befinden. In erster Linie schützen sie die Tiere vor dem Austrocknen; sie spielen jedoch auch eine wichtige Rolle bei deren Kommunikation.
Zudem stellte er jeweils zwei Ameisen aus unterschiedlichen Kolonien einander gegenüber und dokumentierte ihr Verhalten mit Videoaufnahmen. «Die Aggressivität der Ameisen aus wärmeren Gebieten wie Italien und Frankreich war im Vergleich zu derjenigen der Tiere aus den kühleren Standorten in Österreich und der Schweiz um ein Vielfaches erhöht», sagt Krapf. Neben der Lufttemperatur spielt auch die Nährstoffanreicherung im Boden eine Rolle, denn er konnte bei Ameisen mit Stickstoffgehalt eine Feindseligkeit nachweisen.

Stickstoff ist als Nährstoff für alle Lebewesen unentbehrlich und findet sich in Luft, Wasser und Boden. Durch den Menschen hat sich die jährliche Freisetzung von Stickstoffverbindungen massiv erhöht. Insbesondere in der Landwirtschaft findet er als Dünger Verwendung. «Die Stickstoffverfügbarkeit in Böden ist vermutlich auch aufgrund des ökologischen Wandels durch die Klimakrise erhöht», sagt Krapf.
Dass höhere Temperaturen zu mehr Aggressionen führen, ist in anderen Studien bereits belegt worden – so etwa für Menschen, Huftiere und Wühlmäuse. Dennoch besteht hier weiterhin viel Forschungsbedarf. Krapf: «Ein besseres Verständnis der Folgen des globalen Wandels ist auch im Zusammenhang mit Ameisen von grosser Bedeutung, denn sie sind wichtige Ökosystemdienstleister.» Sie verbessern zum Beispiel die Bodenbeschaffenheit, verbreiten Samen und beseitigen organische Abfälle, tote Insekten und Eier von Schnecken oder Insekten.

Ameisen weltweit

Ameisen sind auf allen Erdteilen verbreitet. Aktuell gibt es rund 15 700 bekannte Arten und vermutlich nochmals so viele, die noch gar nicht beschrieben sind. In der Schweiz sind 132 Ameisenarten heimisch, wovon 46 Arten als gefährdet gelten. Im Schweizerischen Nationalpark, wo 35 der in der Schweiz vertretenen Arten leben, wurde 2009 eine neue Waldameisenart entdeckt. Sie erhielt 2021 den Namen Formica helvetica.
In der Nähe des Col du Marchairuz, im regionalen Naturpark Jura vaudois, lebt derzeit die grösste Kolonie europäischer Waldameisen. Auf einem Waldameisenpfad gibt es an zehn Stationen viel über dieses Insekt zu entdecken. www.parks.swiss

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