© Patrick Giromini
Der Traum vom Maiensäss Der Umbau zum Wohnzweck ist umstritten
Schon vor der Pandemie sind die Umbauten von Alphütten und Rustici zu Wohnzwecken viel zahlreicher geworden. Doch seit zwei Jahren boomt dieser Trend geradezu. Die Studie eines Walliser Architekten bezweifelt, dass diese Umnutzungen die Versprechen in Sachen Nachhaltigkeit, einfaches Leben, Gesundheit und wirtschaftliche Impulse halten.
Es ist vielleicht der beste Indikator für ihren aktuellen Erfolg: Beim führenden Schweizer Immobilienportal ImmoScout24 gibt es eine eigene Suchkategorie für Chalets und Rustici, die zum Verkauf stehen. Beim Verfassen des Artikels wurden in dieser Kategorie 137 Objekte angeboten, vom 3-Zimmer-Maiensäss in Praden/GR (540 000 Franken) über das neu renovierte Rustico in Palagnedra/TI (1 060 000 Franken) bis zum alten Stall zum Umbauen in Blitzingen/VS (60 000 Franken).
Bereits vor der Covid-19-Pandemie hat die Nachfrage am Immobilienmarkt stark zugenommen, und in den letzten zwei Jahren ist sie regelrecht explodiert. In der Folge sind die Preise in die Höhe geschossen. Sie sind «geradezu fantastisch geworden», sagt ein Einwohner der Bündner Gemeinde Surses mit Blick auf die hübsch zurechtgemachten Maiensässe in Munter auf über 1900 Metern über Meer. «Zu Grossvaters Zeiten waren hier nur Kuhglocken und der lokale rätoromanische Dialekt zu hören. Jetzt hört man stattdessen die Motoren der SUV und Zürichdeutsch», sagt er augenzwinkernd.
Unangenehme Überraschungen
Der Boom der Verkäufe und Umbauten von ländlichen Gebäuden in den Bergen hat in den letzten Jahren zu reden gegeben. Manche Käufer erlebten unangenehme Überraschungen. So stellten neue Eigentümer beispielsweise nach Unterzeichnung des Vertrags fest, dass sich ihre Liegenschaft nicht in einer Bauzone befindet. Andere glaubten, dass sie für einen Spottpreis ein Häuschen in einer Postkartenlandschaft erwerben konnten, erlebten dann aber ihr blaues Wunder, als sich das Ausmass der nötigen Umbauarbeiten zeigte.
Dennoch übersteigt die Nachfrage nach Rustici, Maiensässen oder Ställen für den Umbau derzeit bei Weitem das Angebot. Es gibt zahlreiche Argumente, die für eine solche Rückgewinnung ländlicher Gebäude in den Bergen zu sprechen scheinen: Nachhaltigkeit (Instandstellung von Bestehendem statt Neubauten), Gesundheit (frische Luft und mehr Ruhe), wirtschaftliche Stimulation (Belebung wirtschaftlich schwacher Bergregionen) und Einfachheit (Wechsel zu einer harmonischeren Lebensweise).
Immobilienspekulation im Spiel
Etwas ratlos machten diese Argumente Patrick Giromini. Der doktorierte Architekt und Dozent an der EPFL in Lausanne beschloss deshalb, Klarheit zu schaffen. Sechs Jahre lang begleitete er Studenten, die in den Walliser Alpen eine Bestandesaufnahme der traditionellen Nutzbauten erstellten. Seine Ausgangshypothese war so einfach wie radikal: «Es ist besser, die alten Maiensässe aufzugeben, als sie unter Anwendung einer urbanen städtebaulichen Logik umzubauen.»
Bisher gebe es zu diesem Thema keine umfassende architektonische Studie. «Die Thematik kann schnell komplex werden, da oft Immobilienspekulation im Spiel ist.» In diesem Zusammenhang weist Patrick Giromini auf die Diskrepanz zwischen dem oft hohen Preis für das Bergidyll und der gängigen Vorstellung vom Maiensäss als Sinnbild für das einfache Leben hin. Paradoxerweise ist gerade die Einfachheit der Bauten einer der Hauptgründe für ihren kommerziellen Erfolg.
Die Berge «einebnen»
Hat sich die Ausgangshypothese durch die Feldforschung bestätigt? «Natürlich sage ich nicht, dass man diese Gebäude in allen Fällen verfallen lassen sollte», relativiert Patrick Giromini. Dennoch seien die beiden Vorteile, die am häufigsten von den Befürwortern der Renovation und Umnutzung solcher Gebäude vorgebracht würden – nämlich die Nachhaltigkeit und die einfache Lebensweise – mit Vorsicht zu geniessen. Was die Nutzung der Ressourcen betrifft, «fällt die Bilanz negativ aus, weil die Vorteile der Wiederverwertung von Baumaterialien und Bausubstanz durch den Einsatz neuer Materialien, die zur Erfüllung von normativen Anforderungen und Vorschriften nötig sind, aufgehoben werden». Hinzu kommt, dass «die finanzielle Belastung in den meisten Fällen die Entscheidungen lenkt: Die Anpassung eines alten Fensters an wärmetechnische Anforderungen verursacht beispielsweise meist höhere Kosten als die Herstellung eines neuen Fensters.»
Ein einfaches Leben und die Rückkehr zu einer elementaren Lebensweise sind «nicht zwingend an einen alpinen Kontext gebunden, denn man kann in einer Metropole genauso einfach leben wie auf einer Alp auf 1800 Metern». Hier liegt vielleicht der zentrale Widerspruch – und die Gefahr – des alpinen Exodus: «Unsere Gesellschaft neigt dazu, die Berge ‹einzuebnen› und eine morphologische Ähnlichkeit mit der Stadt herzustellen, während sie gleichzeitig die Vorstellung bewahrt, dass die Berge der beste Ort für eine gesunde Lebensweise sind, weil sie authentisch und intakt sind.» Aber eine grundsätzliche Infragestellung der Art und Weise, wie wir den Boden konsumierten, finde nicht statt.
«Wir beschweren uns nicht»
Diese Verstädterung – und sogar Gentrifizierung – der Bergregionen entgeht auch unserem Gesprächspartner in Graubünden nicht. Er nennt das Beispiel der Co-Working-Räume, die in den Bergdörfern seines Kantons immer zahlreicher werden. «Sicherlich werden sie von Touristen genutzt, die Telearbeit leisten, aber immer mehr auch von Personen, die seit der Pandemie ihren Zweitwohnsitz zum Hauptwohnsitz gemacht haben.» Ist das ein Problem für die Einheimischen? «In der Gemeinde Surses haben wir gerade dem Bau einer neuen Schule zugestimmt, weil die Schülerzahlen zunehmen.» Man habe sich zuvor jahrzehntelang Sorgen wegen der Abwanderung gemacht: «Deshalb beschweren wir uns jetzt nicht.»