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«Das Bild des Waldes wird sich stark ändern» Eine Reportage über Palmen und Kastanien im Tessin
An den Südhängen im Tessin sterben die Kastanien ab, derweil breiten sich Neophyten aus. Bekanntestes Beispiel unter ihnen ist die «Tessiner Palme». Deshalb suchen die Tessiner Forstexperten nach den Bäumen der Zukunft. Ein Abstecher in den Wald mit Giovanni Galli und Guido Parravicini.
Hinter den letzten Häusern von Tegna führt ein Wanderweg in den Wald. Er ist – wie im Tessin vielerorts – von Anfang an weiss-rot-weiss markiert und führt steil hinauf. Eigentlich ist der Weg wegen Holzarbeiten gesperrt. Trotzdem passieren der Kreisforstingenieur Giovanni Galli und der Revierförster Guido Parravicini die Absperrung: Sie wissen, was hier passiert, und die Holzarbeiter werden sie später treffen. Die beiden arbeiten für den achten Kreis des kantonalen Forstamts und betreuen den Wald im Centovalli, im Onsernone- und im Vergelettotal sowie zwischen Brissago, Losone und Terre di Pedemonte.
Ein paar Schritte in den Wald genügen, um zu sehen, was den Männern viel Arbeit und Sorgen macht: Neophyten, eingeschleppte Pflanzen, die sich invasiv ausbreiten. Über die chinesische Hanfpalme – ein Wahrzeichen des Kantons Tessin – wurde im Frühling schweizweit berichtet, weil die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) die Invasion der «Tessiner Palme» untersucht hatte. Die Palmen wurden in den letzten 50 Jahren in Gärten gepflanzt und breiten sich mittlerweile immer mehr im Wald aus. «Noch schlimmer ist der Götterbaum», sagt Giovanni Galli. «Er heisst so, weil er schnell und hoch bis in den Himmel wächst.» Der ebenfalls aus China stammende Baum kann sich rasch vermehren und wurde ursprünglich in Steinbrüchen und Städten gepflanzt, damit er Schatten spendete.
Die etwa ein Meter hohen Bäumchen, die hier oberhalb von Tegna wachsen, sehen mit ihren, bis auf einen Büschel Blätter zuoberst, kahlen Stämmchen recht harmlos aus. Als ob Giovanni Galli veranschaulichen möchte, dass der Götterbaum vom Teufel ist, zerreibt er ein paar Blätter zwischen den Fingern: Sie stinken, ebenso wie die Blüten im Sommer.
Das Kastaniensterben
Diese Neophyten, von denen es noch eine ganze Reihe mehr gibt und die Teile des Tessiner Waldes wie einen Dschungel aussehen lassen, profitieren von einem weiteren Problem: dem Absterben der Kastanien. Motorsägen lärmen im Duett und untermalen das düstere Bild. So weit das Auge reicht, ragen kahle, abgestorbene Kastanienbäume in die Höhe. Je nach Ausrichtung wachsen im Tessin auf einer Höhe zwischen 200 und 1200 Metern über Meer praktisch geschlossene Kastanienwälder. Wie ein Gürtel ziehen sie sich durch das Waldgebiet. Auf der südlichen Seite des Ticino, von Bellinzona bis hier, wo sich das Centovalli und das Valle Maggia teilen, leide dieser Kastaniengürtel stark und sei zum Teil bereits abgestorben. «Es ist eine Katastrophe», sagt Guido Parravicini. In den Tälern würden die Kastanien noch stehen, sagt Giovanni Galli. «Aber ich bin nicht zuversichtlich, dass sie gesund bleiben.»
Dermassen zugesetzt hat dem Symbol des Tessins eine Kombination aus Krankheiten, Schädlingen, wie die eingeführte Kastaniengallwespe, und Trockenheit. Seit dem Hitzesommer 2003 ist es im Tessin notorisch zu trocken. Auch diesen Frühling. Seit Dezember habe es nie mehr richtig geregnet, seit Mitte Februar bestehe Waldbrandgefahr, und die Forstwarte würden abwechslungsweise Pikettdienst leisten.
Hauptursache für das schnelle und endgültige Absterben der Kastanienbäume ist die Tintenkrankheit, bei der die Wurzeln von Pilzarten befallen werden. Dagegen gibt es gemäss jüngsten Erkenntnissen des WSL keine Bekämpfungsmassnahmen. Kreuz und quer liegen tote Stämme, überall dürre Äste. Die Motorsägen sind jetzt verstummt, und zwei Holzarbeiter kommen uns entgegen. Was sie heute fällen, kommt morgen der Helikopter holen. «Wir können nicht so viel totes Holz im Wald liegen lassen», sagt Giovanni Galli. Das würde einen Waldbrand enorm beschleunigen. 90% des Tessiner Waldes hätten eine Schutzfunktion. Hier biete der Wald vor allem Schutz vor Steinschlag und Murgängen. Aber jetzt sei er eine Gefahr für das Dorf und die Wanderer. Und als Pufferzone gegen die Ausbreitung der Neophyten fällt der Kastaniengürtel ebenfalls weg. Der Kampf gegen die invasiven Pflanzen ist ein Kampf gegen Windmühlen. «Das Bild des Waldes wird sich stark ändern», sagt Giovanni Galli.
Die Bäume der Zukunft
Der Weg führt immer höher, vorbei an den Kastanienselven. So nennt man die flacheren Abschnitte im Hang, die früher als Kastanienhaine gepflegt wurden. Auch ihre Geschichte ist traurig. Die Römer haben die Kastanie vor 2000 Jahren ins Tessin gebracht, lange war sie der «Brotbaum» des Tessins. Nach dem Zweiten Weltkrieg seien die Selven vernachlässigt worden, hält das WSL in einer Dokumentation fest. Ab den 1990er-Jahren starteten zahlreiche Projekte, um sie wiederherzustellen. «Als ich vor acht Jahren beim Kreisforst angefangen habe, hatten wir hier ein Projekt für eine Selve», sagt Giovanni Galli. Zwei Jahre später waren alle Kastanien tot. «Triste», sagt er. Traurig, eben. Da geht auch eine Kulturlandschaft verloren. Versuchsweise wurde hier eine hybride Kastaniensorte gepflanzt, die in Frankreich gezüchtet wurde und gegen Pilzkrankheiten resistent sein sollte. Aber selbst diese sind hier abgestorben. «Da muss man sich schon fragen, was man noch pflanzen soll», sagt der Kreisförster.
Und genau das machen sie: An einem steilen, sonnigen Hang unterhalb eines Kletterfelsens bei Ponte Brolla unterhält der Kreisforst ein Versuchsfeld. Hier keimt Hoffnung für den Tessiner Wald. «2016 hat es hier gebrannt, weil ein Kletterer das Toilettenpapier angezündet hat», erzählt Guido Parravicini. Seither wird beobachtet, was natürlich wächst, und man pflanzt versuchshalber verschiedene Baumarten. Eichen, Birken, Kirschen oder Mehlbeeren wachsen von selbst. Daneben gibt es Baumhaseln, Atlaszedern, Zerreichen, Elsbeeren und Vogelbeeren, diese Bäume wurden gesetzt. Unter den gepflanzten Bäumen sind auch Arten, die nicht einheimisch sind, wie die Baumhasel, die unter anderem in der Türkei zu Hause ist. «Man ist heute nicht mehr so stur, man muss mehr ausprobieren», sagt Giovanni Galli. Die Baumhasel wird mittlerweile auch in den Testpflanzungen des WSL gepflanzt, wo es darum geht, zukunftsfähige Baumarten zu finden.
Immer wieder bücken sich die beiden Männer, reissen hier einen Götterbaum aus und befreien da ein Bäumchen von einer invasiven Schlingpflanze. «Zweimal im Jahr wird das Versuchsfeld gepflegt», sagt Giovanni Galli. Neophyten werden ausgerupft, falls nötig kann auch bewässert werden. Um die Bäumchen vor Wildverbiss zu schützen, wurde um jedes ein Drahtkorb aufgestellt. Ansonsten gelte es, die Pflanzen zu beobachten, zu schauen, was wachse. Und da gibt es auch Lichtblicke: «Diese Elsbeere ist diesen Frühling fast 40 Zentimeter gewachsen», freut sich Guido Parravicini.