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Dann ergoss sich eine Lawine über die Gelagerten Ein Unglück am Piz Blas erschütterte vor 121 Jahren Zürich

Der Piz Blas (3019 m) liegt im östlichen Teil des Gotthardmassivs auf der Grenze zwischen Graubünden und dem Tessin. Am 26. Juni 1903 passierte in seiner Südflanke ein Bergunfall mit einem prominenten SAC-Mitglied und mehreren Schülern. Der Lawinenabgang führte indirekt auch zum Bau der Capanna Cadlimo CAS der Sektion Uto.

«Eine Lawine hat sie verschüttet. Dafür, dass sich eine Schneemasse an den glatten Wänden loslöst und donnernd zu Tale fährt, kann der Mensch in der Tat nichts. Wie viele Wanderer sind in den verflossenen Jahrhunderten von Lawinen begraben worden, als sie über die Bergpässe pilgerten!» Johann Huldreich Brassel, Pfarrer in Zürich-Aussersihl, versuchte am Sonntag, 28. Juni 1903, in der Kirche zu St. Jakob tröstende Worte zu finden für die Tragödie, die sich zwei Tage zuvor in der Südflanke des Piz Blas zugetragen hatte.

Am zweiten Tag der Schulreise der Klasse IIB des Obern Gymnasiums von Zürich fanden vier Bergwanderer in einer Lawine den Tod: Mathematiklehrer (und SAC-Mitglied) Walter Gröbli (Jahrgang 1852) und der Schüler Ernst Hofmann lagen mit zerschmetterten Schädeln am Fuss der im unteren Teil felsigen Flanke, über die sich die Schneemassen ergossen hatten; die Schüler Adolf Odermatt und Richard Liebmann starben während des Transportes nach Cadagno bzw. im Kantonsspital Zürich. Alle drei hatten Jahrgang 1885. Schädelbrüche erlitten der Französischlehrer (und SAC-Mitglied) Jules Vodoz sowie der Schüler Paul Wolfer, zwei weitere Gymnasiasten kleinere Verletzungen.

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Dass es bei diesem Absturz nicht mehr Tote und Verletzte gab, grenzt an ein Wunder.

Die Neue Zürcher Zeitung veröffentlichte am 30. Juni 1903 den Bericht des Rektorates des Obern Gymnasiums, der auf den Aussagen mehrerer Schüler basierte. Die Alpina. Mitteilungen des Schweizer Alpen-Club druckte diesen Bericht am 15. Juli 1903 ab. Zudem ist er enthalten in der 30-seitigen Broschüre Das Lawinenunglück am Piz Blas 26. Juni 1903. Denkschrift von Richard Frei, stud. Mit den Bildern der Verunglückten und Momentaufnahmen von der Begräbnisfeier. Auch Pfarrer Brassels Predigt Unglück in den Bergen gab es zeitnah als Publikation zu kaufen.

Unüberwindbare Felsen

Am 25. Juni 1903 waren 16 Gymnasiasten mit zwei Lehrern von Amsteg durch das Etzlital und über den Chrüzlipass nach Sedrun gegangen. Anderntags plante man, durchs Val Nalps in den Pass Nalps (2749 m) aufzusteigen, den Piz Blas zu überschreiten oder vom Pass südwärts ins Val Cadlimo abzusteigen, durch dieses westwärts und dann in den (ehemaligen) Passo Vecchio (2713 m) gleich westlich des Piz Tanelin aufzusteigen, um durchs Val Curnera nach Tschamut zu wandern.

Eine ehrgeizige Tour, doch die Gletscher auf den Nordseiten der beiden Pässe erleichterten das Gehen – eigentlich. Denn am 26. Juni war der Schnee weich. Erst um elf Uhr, sechs Stunden nach dem Aufbruch in Sedrun, stand die Expedition Gröbli auf dem Pass Nalps. Der Plan, den Piz Blas zu überschreiten, wurde aufgegeben, auch wegen Ermüdung einzelner Schüler. Stattdessen wollte man, um Zeit zu sparen, über seine teilweise noch verschneite Südflanke zum Passo Vecchio traversieren. Um zwölf Uhr begann die Querung, um 12.45 Uhr stiess man auf unüberwindbare vereiste Felsen. Gröbli befahl Umkehr und wollte einen direkten Abstieg ins Val Cadlimo erkunden; «auf einer kleinen Grasinsel, inmitten der Schneehalde, wurde Halt gemacht».

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«Auf einer kleinen Grasinsel, inmitten der Schneehalde, wurde Halt gemacht.»

Kurz nach ein Uhr passierte das Unglück. Nochmals der NZZ-Bericht: «Prof. Gröbli war noch keine zwei Schritte von der Grasinsel entfernt, als Constam rief: ‹Achtung!› Dann ergoss sich auch schon eine Lawine über die Gelagerten. Fünf der Stehenden konnten sich mit Sprüngen auf festen Schnee aus der Lawine retten.» Die andern wurden mitgerissen und, mit Ausnahme von Kinscherf und Moser, die sich noch irgendwie festhalten konnten, «über die Felswand, welche sich unter dem Grasplatz befand, zirka 80–100 m hinunter auf eine Schneehalde geschleudert, woselbst sie noch weiter rutschten.» Dass es bei diesem Absturz nicht mehr Tote und Verletzte gab, grenzt an ein Wunder.

Mangel an Unterkunftsstätten

Gymnasiast Walter Kinscherf – er stürzte sieben Jahre später in einem Gewitter an der Jungfrau ins Rottal ab – kletterte alleine über die Felsen ins Val Cadlimo. Dort eilte er zum Weiler Cadagno – worauf von dieser Alpsiedlung die erste Hilfskolonne aufbrach – und anschliessend noch weiter ins Piorahotel, um nach einem Arzt zu telefonieren und eine weitere Hilfskolonne zusammenzurufen. Die anderen unversehrten Schüler, die oben geblieben waren, konnten «wegen fortwährend niedergehenden Lawinen» nicht ins Val Cadlimo zu den Verunglückten absteigen; sie gingen durchs Val Nalps nach Sedrun, um dort Alarm zu schlagen.

Die beiden Begräbnisfeierlichkeiten in Zürich gestalteten sich «zu einem imposanten Schauspiel» (so Frei in seiner Denkschrift). Walter Gröbli, Ernst Hofmann und Adolf Odermatt wurden auf dem Friedhof Enzenbühl bestattet, Richard Liebmann auf dem israelitischen Kirchhof am Fusse des Üetliberges. Auf Gröbli erschienen viele Nachrufe, so auch in der Alpina: Er hatte als Clubist (Vizepräsident der Sektion Uto und Förderer der Domhütte SAC), als Alpinist mit Erstbesteigungen (so Piz Forbesch und Piz Arblatsch) und Speedbesteigungen, als Mathematiker mit dem Spezialgebiet Hydrodynamik sowie als Lehrer einen hervorragenden Ruf.

150 Personen weihten rund 13 Jahre später, am 8. Oktober 1916, die Capanna Cadlimo der Sektion Uto zuoberst im Val Cadlimo ein. Der zweieinhalbseitige Bericht in der Alpina vom 1. November 1916 nimmt Bezug zum Lawinenunglück am Piz Blas: Dies war «gerade ein Punkt mehr, der dafür sprach, in jener Wildnis ein gastliches Bergrefugium zu erbauen, damit ein solcher Unglücksfall, der nicht zuletzt auf den Mangel an Unterkunftsstätten zurückzuführen war, sich nicht wiederhole.»

Autor / Autorin

Daniel Anker

Daniel Anker ist ein Berner Autor und Fotograf. Der Historiker hat ungefähr 40 Skitouren-, Wander-, Klettersteig- und Radführer sowie Bergmonografien über grosse Gipfel der Schweiz verfasst.

Sommerlawinen

In seiner Denkschrift Lawinenunglück am Piz Blas zitiert Richard Frei einen Bergsteiger, laut dem die steilen Südflanken des Piz Blas und des Nachbargipfels Piz Rondadura «im Frühjahr und anfangs Sommer, bei Neuschnee, gerne Lawinen ins Cadlimo hinunter werfen». Eine solche Lawine, wohl eher aus noch nicht abgegangenem Altschnee, wurde Walter Gröbli und seiner Gruppe zum Verhängnis, zumal sie erst am Nachmittag zur Querung der Südflanke ansetzten.
Sommerlawinen mit Alt- und häufiger mit Neuschnee fordern immer wieder Opfer. Wenn die Tourenski im Keller verstaut sind, denkt man kaum noch an Lawinengefahr. Dabei rutscht der Schnee winters wie sommers, wenn er zu schwer oder zu nass ist oder wenn er, zum Brett geworden, gestört wird. Das mussten auch schon Topalpinisten erfahren. Bergführer Hans Schlunegger, 1947 Drittdurchsteiger der Eigernordwand, geriet am 30. Juli 1948 zusammen mit Ernst Hopf und Gaston von Surny beim Abstieg vom Schmadrijoch nach Norden in einen Schneerutsch, der die drei in die Tiefe riss.
Das schlimmste Sommerlawinenunglück geschah am 7. Juli 1964 an der Aiguille Verte (4122 m). Zum Abschluss eines erfolgreichen Bergführerkurses in Chamonix begingen vier Ausbildner mit neun Teilnehmern den Nordgrat von der Seilbahnbergstation Aiguille des Grands Montets aus; in letzter Sekunde schloss sich ihnen noch Charles Bozon an, Bergführer und ehemaliger Skiweltmeister. 70 Meter unterhalb des weissen Gipfels lösten die 14 Bergsteiger ein Schneebrett aus, das sie durchs Couloir Cordier an den Wandfuss warf. dab

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