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«Bouldern ist füreinander da sein» ClimbAid in der Schweiz

Klettern, das ist für viele hier in der Schweiz einfach eine tolle Sportart. Doch für Luul Yemane ist es noch viel mehr: Dank dem Klettern hat der junge, allein geflüchtete Eritreer in der Schweiz Freunde und Zuversicht gefunden.

«Ja, allez, du schaffst das!» hallt es vielfach durch den Kastanienwald von Chironico, einem der grössten Bouldergebiete des Tessins. Erster Schnee liegt schon auf den Bergen der oberen Leventina. Im Tal hat die Sonne noch Kraft und lässt die letzte Feuchtigkeit rasch von den Felsblöcken verdampfen. Der Boden um einige Blöcke ist bedeckt von Bouldermatten, überall liegen bunte Winterjacken, Rucksäcke, Turnschuhe. Mehr als 50 Frauen und Männer wärmen sich auf, mittendrin auch Luul Yemane. Sie alle sind Teil von ClimbAid, einer Schweizer Organisation. Deren Ziel: durch das Klettern Lebensfreude, Zugehörigkeit und mentale Stabilität von Menschen mit Fluchthintergrund zu fördern. Einmal im Jahr organisiert ClimbAid einen Ausflug ins Tessin mit allen Leiterinnen und Leitern und interessierten Geflüchteten.

Dank Zufall zum Klettern

«Auf diesen Ausflug habe ich mich unglaublich gefreut», sagt Luul. Besonders, weil er nicht so oft Gelegenheit habe, an den Fels zu kommen. Draussen könne er den ganzen Alltagsstress hinter sich lassen und abschalten. Mit seiner Begeisterung für diesen Ausflug ist Luul nicht allein. Rundum ertönt Gelächter, kleine Scherze fliegen hin und her, unterbrochen von aufmunternden Rufen.

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«In Eritrea kletterten wir höchstens auf Bäume.»
Luul Yemane

Der inzwischen 25-jährige Eritreer ist über einen Zufall zum Klettern gekommen. «Bevor ich damit anfing, spielte ich wie viele andere junge Männer Fussball und trainierte im Fitnessstudio. In Eritrea kletterten wir höchstens auf Bäume.» Dann hat eine Kollegin ihn in die Kletterhalle mitgenommen. Dank ihr stiess Luul Ende 2018 zu ClimbAid, und seit dem Corona-Lockdown trainiert er regelmässig im «6a plus» in Winterthur. Fitness und Fussball waren im Lockdown nicht mehr möglich, nur die Kletterhalle blieb offen. Also ging er dorthin und wurde von Training zu Training besser. Der Einsatz zeigte bald erste Früchte: An der Zürcher Klettermeisterschaft im letzten August schaffte es Luul in der Lead-Plauschkategorie auf den vierten Platz. Die Finalroute war eine 8a.

Familiensinn statt Konkurrenzdenken

Noch wichtiger als persönliche Erfolge ist für Luul aber das Zusammensein. «Bouldern ist füreinander da sein. Wir schwatzen, lachen, blödeln rum.» Und wenn man bei einem Boulder nicht weiterkomme, gebe man sich gegenseitig Tipps. Sich überwinden, dranbleiben, gemeinsam eine Lösung finden: darin liege die wahre Stärke des Kletterns. Die Leistung sei zweitrangig. Diese Einstellung fördert ClimbAid mit ihren inzwischen 13 Trainingsgruppen in der Schweiz gezielt.

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«Hier beim Klettern sind die Menschen sehr offen, aber auf der Strasse sind sie sehr zurückhaltend.»
Luul Yemane

«ClimbAid ist wie eine zweite Familie, ich habe hier so viele Freunde gefunden», sagt Luul. Mittlerweile ist er sogar selbst ehrenamtlicher Co-Leiter einer Trainingsgruppe in Winterthur, um anderen jungen Geflüchteten beim Start ins Schweizer Leben beizustehen. Denn sein eigener Anfang in der Schweiz war nicht einfach. Nach einer mehrmonatigen Flucht durch die Sahara und über das Mittelmeer begann der damals 15-jährige Luul sein neues Leben in der Schweiz als unbegleiteter junger Asylsuchender. Kontakt hatte er zunächst nur mit einigen Schicksalsgenossen. «Hier beim Klettern sind die Menschen sehr offen, aber auf der Strasse sind sie sehr zurückhaltend. Es war für mich sehr schwierig, jemanden kennenzulernen.»

Hoffnung weit weg von der Familie

Luul Yemane stammt aus Eritrea. Seit 2018 leben seine Mutter und seine fünf Geschwister in Äthiopien. Sein Vater lebt schon lange weit weg: Er floh 2009 nach Israel. Laut Luul ging er dahin, weil er nicht weiter im eritreischen Militär dienen wollte. Denn das Regime hatte den Vater – wie viele Tausende andere auch – eingezogen, dann aber fast keinen Lohn bezahlt. Seit er in Israel ist, verdient er zumindest genug, um seiner Familie Geld zu schicken. Als Luul dasselbe Schicksal drohte wie seinem Vater, entschloss auch er sich zur Flucht. Hier in der Schweiz lernte er zunächst Deutsch und begann dann vor drei Jahren eine Lehre als Parkettbodenleger. Im Sommer 2024 wird er sie abschliessen können. Damit wird er das erreichen, was seinem Vater verwehrt blieb: eine Ausbildung zu haben. «Mein Vater will, dass ich mich hier gut einlebe und viel lerne», sagt Luul, «deshalb will er auch nicht, dass ich Geld schicke, bevor ich mit der Ausbildung fertig bin. Mein Vater ist sehr schlau, obwohl er nie in der Schule war.»

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«Menschen aus dem Ausland denken, dass klettern extrem gefährlich ist. Auch meine Eltern denken das.»
Luul Yemane

Begeisterung weitergeben

Auch wenn Luul in seiner Ausbildung vollen Einsatz gibt, seine Begeisterung fürs Klettern bricht immer wieder durch: «Ich versuche eigentlich ständig, andere fürs Klettern zu motivieren. Sogar wenn ich im Zug mit jemandem ins Gespräch komme, erzähle ich von ClimbAid und davon, was wir machen.» So ist es ihm gelungen, weitere seiner eritreischen Freunde zum Klettern zu motivieren. Die Einzigen, die Luul bisher gar nicht fürs Klettern begeistern konnte, sind seine Eltern: «Menschen aus dem Ausland denken, dass klettern extrem gefährlich ist. Auch meine Eltern denken das», sagt er. «Sie schauen sich meine Posts auf den sozialen Medien an. Und wenn ich dann mit ihnen telefoniere, sagen sie: ‹Willst du dich umbringen? Wir brauchen dich lebendig!›» Doch Luul vom Klettern abzuhalten, das schaffen wohl keine Eltern der Welt mehr.

ClimbAID – Climbing for Peace

Die Organisation ClimbAid

In der Schweiz engagieren sich über 140 Freiwillige im Namen von ClimbAid. Sie bieten in 13 Kletter- und Boulderhallen wöchentliche Klettertrainings für Geflüchtete an. Im Libanon ist die Organisation mit ihren Programmen vor allem im Bekaa-Tal aktiv, das rund die Hälfte der eineinhalb Millionen syrischen Geflüchteten beherbergt. Klettern wird dabei als Mittel eingesetzt, um positive Veränderungen in Gemeinschaften zu bewirken. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Verbesserung des psychischen Wohlbefindens, der Förderung der Gemeinschaften, der Unterstützung der persönlichen Entwicklung und der Bewältigung sozialer Herausforderungen.
ClimbAid hat über die letzten Jahre viel Unterstützung aus der Schweizer und der internationalen Kletterszene erhalten. So engagieren sich Klettergrössen wie Nina Caprez, Katherine Choong, Fred Nicole oder Hazel Findlay für die Organisation.

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