«Amici, die Barrieren sind gefallen» Die besondere Geschichte der Tessiner Bergsportvereine
Die alpinistische Vereinsgeschichte des Tessins ist anders als die der übrigen Schweiz. Die am 31. Oktober 1965 gegründete Federazione alpinistica ticinese (FAT) hat deutlich mehr Mitglieder und Hütten als der Club Alpino Svizzero (CAS). Die Geschichte der FAT verlief fast so kurvenreich wie die Gotthardbahn.
«Bald kommen wir Dir nahe, Du Freund am Mittagshang / Im Herz des alten Gotthard schon mancher Fels zersprang.» Mit diesem Spruch gedachten die Clubbisten des Kantons Tessin, in einem prächtig dekorierten Bankettsaal in Herisau am zehnten Jahresfest des Schweizer Alpen-Clubs vom 5. bis 7. August 1873. Tatsächlich spielt der Gotthard – insbesondere die Gotthardbahn von 1882 mit dem damals längsten Eisenbahntunnel der Welt – eine wichtige Rolle in der alpinistischen Geschichte des Tessins und seiner bergsportlichen Vereine.
So gleisten 13 Deutschschweizer, meist Luzerner und Gotthardbahnbeamte, 1898 in Bellinzona die Bergsteigergesellschaft Alpina auf, aus der sich die SAC-Sektion Leventina, die heutige Sezione Bellinzona e Valli, entwickelte. Am 12. April 1919 gründeten rund 30 Personen, darunter viele Angestellte der Gotthardbahnwerkstätten sowie Gewerkschafter, im Casa del Popolo in Bellinzona die Unione Ticinese Operai Escursionisti (UTOE). Ende 1919 zählte der Tessiner Arbeiterbergsportclub bereits 61 Mitglieder, darunter eine Frau.
Mit ihrer Verankerung im werktätigen Milieu und ihrer Öffnung für Frauen stand die UTOE im Gegensatz zum bürgerlichen, rein männlichen SAC. In den folgenden Jahren wurden im ganzen Kanton weitere UTOE-Sektionen gegründet. Aber wie so oft im Ticino zogen Sopra- und Sottoceneri nicht am gleichen Seil. Insbesondere die Hüttenpolitik der führenden Sektion Bellinzona verärgerte die Sektion Lugano. 1938 stiegen die Luganesi aus der UTOE aus und gründeten zusammen mit den Sektionen Lucomagno (Olivone) und Ritom (Ambrì) die Socièta Alpinistica Ticinese (SAT), der sich die Sektionen Chiasso und Mendrisio anschlossen.
Zuerst die Zeitschrift, dann der Verband
In den 1950er-Jahren näherten sich UTOE und SAT wieder an. Anfang des Jahres 1959 erschien die erste Ausgabe von L’Alpinista ticinese – Rivista della Federazione alpinistica ticinese. Die Publikation ersetzte diejenigen der UTOE und der SAT, nämlich Stella alpina und Sci e Piccozza. Im letzten Heft der Stella hiess es: «Und heute, Amici, verkünden wir, dass die Barrieren gefallen sind und dass die Tessiner Alpinisten sich in einer grossen Familie wiedergefunden haben.» Die neue Zeitschrift des Vereins, den es damals so noch gar nicht gab, präsentierte ihre Entstehung so: «Sie wurde durch den einmütigen Willen derjenigen geschaffen, denen die geistige Einheit und die materielle Zusammenarbeit unserer beiden Bergsteigerverbände am Herzen liegt, die nun zu einem grossen kantonalen Verband zusammengeschlossen sind.»
Die offizielle Gründung der Federazione alpinistica ticinese (FAT) erfolgte am 31. Oktober 1965 in Giubiasco. Die Delegierten der UTOE-Sektionen Bellinzona, Locarno, Torrone d’Orza (Biasca) und Pizzo Molare (Faido) sowie der SAT-Sektionen Lugano, Chiasso, Mendrisio, Lucomagno und Ritom verabschiedeten die Statuten. Im Paragraph 1 heisst es unter anderem, dass die FAT politisch und konfessionell neutral ist. Paragraph 2 umreisst den Zweck: «Ziel der FAT ist es, die Liebe zur Natur im Allgemeinen und zu den Bergen im Besonderen zu entwickeln und das Wissen um die Schönheit unseres Landes zu fördern.»
Zum ersten Präsidenten der FAT wurde Dante Sabbadini gewählt. In seiner Ansprache, nachzulesen in der November-Dezember-Ausgabe 1965 von L’Alpinista ticinese, stellte er die rhetorische Frage: «Beschränkt sich der Tourismus auf die Strände der Tessiner Seen oder auf die grünen Hügel, die sich in den Seen spiegeln, oder umfasst er auch das Bergsteigen?»
Die ersten Hütten für den CAS und die UTOE
Zum Bergsteigen gehören passende Unterkünfte, gerade auch im Tessin mit seinen spürbaren Höhenmetern zwischen Talsohlen und Gipfeln. Die erste für die Bergsportler im Tessin erbaute Hütte war 1912 die Capanna Campo Tencia der Sezione Ticino CAS. 1916 und 1917 kamen die Capanna Cadlimo CAS und die Capanna Corno-Gries CAS dazu. Die UTOE startete 1922 mit der Capanna Gesero, dann folgten in Jahresabständen die Hütten Adula und Tamaro, in den 1930er-Jahren kamen Albagno, Cava und Brogoldone hinzu.
Insgesamt entstanden vor dem Zweiten Weltkrieg je sechs Hütten für die beiden Bergsportvereine. Und beide erhöhten die Zahlen anschliessend nicht stark. Bis die FAT ihre Hütten- und Sektionspolitik änderte. Einerseits wurden nun vermehrt bestehende, aber nicht mehr bewirtschaftete Alpgebäude – und die Tessiner Alpen sind voll von ihnen bis in die Gipfelregionen – in (Selbstversorger-)Hütten für Touristen umgewandelt. Andererseits schlossen sich neue Bergsportvereine der FAT an, gerade solche mit Hütten in ihrem Tätigkeitsgebiet.
1984 trat die 1968 gegründete Società Alpinistica Valmaggese (SAV) dem Dachverband FAT bei, «ein sehr wichtiger historischer Moment», wie im Januarheft von L’Alpinista ticinese zu lesen ist, «eine Mitgliedschaft, die von allen Tessiner Bergfreunden gewünscht wurde, eine Mitgliedschaft, die eine Lücke füllt». Im August 1984 wurde die Capanna Piano delle Creste der SAV auf einer wunderschönen Alp am Südfuss des Basòdino eingeweiht.
8000 Mitglieder und 29 Hütten
Heute umfasst die FAT 16 Vereine beziehungsweise Sektionen. Neben den ursprünglichen Sektionen der UTOE, des CAS und der SAV sind das folgende: Amici della Montagna Brissago (AMB), Associazione Amici Capanna Brogoldone (AACB), Società Alpinistica Bassa Blenio (SABB), Società Alpinistica Nido d’Aquila, Società Escursionistica Isorno Melezza (SEIM), Società Escursionistica Verzaschese (SEV). Total rund 8000 Mitglieder und 29 Hütten der FAT stehen den rund 5000 Mitgliedern und 8 Hütten der drei Tessiner CAS-Sektionen gegenüber (die 9. CAS-Hütte im Tessin ist die Capanna Cadlimo der SAC-Sektion Uto).
Anders gesagt: «Der Freund am Mittagshang» hat sich auch ohne alpinistische Entwicklungshilfe des grossen Vereins aus der Svizzera interna prächtig entwickelt. Und doch: CAS und FAT gehen seit Jahren oft am gemeinsamen Seil. In Bellinzona betreuen die dortigen Sektionen gemeinsam die Jugendorganisation. Jüngstes Beispiel: Die neue Associazione Via Alta Crio besteht aus fünf FAT-Sektionen, der SAC-Sektion Ticino und zwei Bürgergemeinden; der Verein baut und betreut den alpinen Weitwanderweg, der ab 2024 in elf Etappen von Lumino zum Lukmanier führt.